Vom Zerfall des Gewissens


„Der Strahlengulag im Herzen Europas oder Die Tschernobyl-Odyssee von Professor Bandaschewskij“ – diese Publikation von ZN.UA (Nr. 44, 2011) beschreibt anschaulich einige unschöne Dinge, die im Zusammenhang mit der Tschernobyl-Problematik in allen Bereichen unserer Gesellschaft zu beobachten sind.

Was mir das Recht gibt, ein derart komplexes Problem überhaupt zu diskutieren, ist die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit unserer Stiftung seit bereits 25 Jahren der drängenden Frage gilt, auf welche Weise die Wirkung von Radionukliden auf die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe, insbesondere die Kinder unter ihnen, verringert werden kann.

Jahr für Jahr legt die Ukraine Berichte über ihre Fortschritte auf dem Gebiet der Radiologie und der Strahlenmedizin vor. Zusammengekommen sind dabei zahlreiche theoretische Studien und neue Daten aus diesen Bereichen, die Durchführung von Forschungsvorhaben verschlang riesige Mittel, doch eine wirksame Strategie zur Vermeidung von Erkrankungen und Todesfällen gibt es nicht. Dies ist auf das Fehlen vernünftiger und weitblickender Vorsorgemaßnahmen für die Opfer der „friedlichen“ Kernenergie zurückzuführen.

Das Tschernobyl-Thema wird auf unterschiedliche Weise angegangen: Die einen helfen tagtäglich den Opfern der Katastrophe, die anderen „melken“ erfolgreich „die Tschernobyl-Kuh“ und rechtfertigen sich dabei mit Befunden internationaler Gremien. So wurde im ersten UN-Bericht über die Folgen dieser globalen Katastrophe nicht auf den Gesundheitszustand der Liquidatoren eingegangen. Die zehntägige Periode vom 26. April bis zum 06. Mai, in der radioaktive Spaltprodukte in die Umwelt gelangten, wurde von den Autoren als „kurz“ eingestuft. Doch am schwersten wiegt etwas anderes – wegen dieses Berichts wurde wertvolle Zeit verloren, und dies ist nicht rückgängig zu machen, ebenso wenig wie der gesundheitliche Schaden bei denjenigen, die seinerzeit keine medizinische Hilfe erhielten. Der zweite UN-Bericht leugnete zynisch die wahren Folgen der Katastrophe von Tschernobyl und stellte lediglich soziale und psychologische Verwerfungen sowie eine Verbindung zwischen Schilddrüsenkrebs und radioaktiver Strahlung fest. Im dritten Bericht wurde die alte Lüge von der Harmlosigkeit geringer Strahlendosen wiederholt. In der Presse tauchte sogar die Formulierung „Die UN haben genug von Tschernobyl“ auf. Und alles nur deshalb, weil die IAEA und die WHO schon 1959 ein Abkommen geschlossen haben, wonach Angaben über die gesundheitlichen Folgen von Störfällen in AKWs nicht öffentlich gemacht werden (wenn diese Angaben den Interessen der IAEA zuwiderlaufen). 1992 wurden in Salzburg Stimmen laut, die eine Reform der IAEA forderten und ihre künftige Aufgabe in der Überwachung der Kernenergienutzung sahen, und nicht in der Propaganda dafür.

Schon 1978 warnte die amerikanische Kinderärztin Helen Caldicott, dass ein ärztliches Verschweigen des Zusammenhangs zwischen Kernenergie und Gesundheit zu einem Anstieg von Krebserkrankungen und Erbkrankheiten führen werde. 1982 wurden in der Ukraine Analysen ausländischer Autoren publiziert, die die Gefahr radioaktiver Strahlung für schwangere Frauen und Kinder belegen und insbesondere auf das Auftreten von Geburtsfehlern bei den Kindern verstrahlter Eltern sowie auf die von kontaminierten Lebensmitteln ausgehenden Gefahren hinweisen. Alice Stewart, eine Spezialistin, die sich mit den Auswirkungen geringer Strahlendosen beschäftigte und den Gesundheitszustand der Arbeiter des Nuklearkomplexes von Hanford sowie der Opfer der Atombombenabwürfe auf Japan untersuchte (ich begegnete ihr 1991 während einer internationalen Konferenz in Washington), hat bewiesen, dass von einer geringen Strahlendosis, der man jedoch über einen längeren Zeitraum ausgesetzt ist, ein größeres Krebsrisiko ausgeht, als von einer akuten Bestrahlung mit einer gleichwertigen Dosis. John Gofman, Professor h. c. für Molekular- und Zellbiologie an der University of California in Berkeley, veröffentlichte ein Buch über die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und stellt darin eine bemerkenswert trostlose Langzeitprognose: Gerade die geringen Strahlendosen haben in 25 Jahren ihr düsteres Werk vollbracht und zu einer größeren Zahl erkrankter Menschen geführt. WIR LEBEN NICHT NACH, SONDERN WÄHREND DER TSCHERNOBYL-KATASTROPHE.

Es wächst eine Generation heran, die vor dem Erbe des radioaktiven Mülls und der Notwendigkeit seiner Entsorgung steht, zudem herrscht bis heute keine Einmütigkeit darüber, ob die Entscheidung für den Bau eines zweiten „Sarkophags“ über dem Reaktorblock 4 richtig ist. Die Probleme um Tschernobyl sind auf unterschiedliche Ministerien verstreut, es gibt kein klares Programm zu ihrer Lösung, ein neuer Minister weiß in der Regel nicht, was sein Vorgänger gemacht hat. Und was tun die Ärzte? Die Ukraine verfügt über einen großen Stab von Spezialisten, der der Akademie der Medizinischen Wissenschaften der Ukraine eingegliedert ist. Viele seiner Vertreter gewannen durch die Verbreitung von Wahrheiten und Unwahrheiten über die Tschernobyl-Problematik Preise oder kamen zu anderen Würden, sie publizierten wissenschaftliche Artikel und Monografien. Und wo bleibt ihr Protest gegen die Berichte der IAEA? Weshalb schlagen sie wegen der katastrophalen gesundheitlichen Situation der ukrainischen Bevölkerung keinen Alarm?

Im Gesundheitsministerium wurde die Behörde für den Strahlenschutz der Bevölkerung und die Medizinischen Folgen von Reaktorunfällen aufgelöst. (Jetzt schlägt auch noch jemand vor, das Gesundheitsministerium mit dem Sozialministerium zu vereinigen. Vielleicht ist dies auch ein logischer Schluss: wozu ein Ministerium, wenn dafür nichts mehr zu tun ist?) Dieser Behörde oblag es, eine qualifizierte und hochwertige medizinische Versorgung für die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe zu organisieren, das Netz von spezialisierten Heil- und Prophylaxeanstalten auszubauen, die Beobachtung der radioaktiven Belastung der Umwelt zu leiten und planmäßig zu gewährleisten sowie die Strahlenbelastung der ukrainischen Bevölkerung zu beurteilen. Seit 2005 gibt es im Gesundheitsministerium nur noch die Abteilung für Strahlensicherheit und die Medizinischen Folgen von Reaktorunfällen, die ganze vier (!) Mitarbeiter hat. Auf diese Weise ist der Weg zu einer systematischen Lösung der im Zusammenhang mit der Strahlensicherheit in der Ukraine auftretenden Probleme versperrt, und das Land schämt sich nicht einmal, seine Unfähigkeit bei der Bewältigung der Folgen der Reaktorkatastrophe vor aller Welt zu offenbaren.

Der in den schwerwiegenden Aspekten der Tschernobyl-Problematik außerordentlich bewanderte Professor Jurij Bandaschewskij traf genau ins Schwarze, als er seine Tätigkeit im Iwankowsker Gebiet der Kiewer Oblast aufnahm. Ich kenne dieses Gebiet sehr gut, weil unsere Stiftung ihm schon seit 1994 humanitäre Hilfe gewährt (medizinische Ausrüstung, prophylaktische Untersuchungen und Organisation von Ferienaufenthalten in Irland für Kinder). Innerhalb kurzer Zeit machte sich Professor Bandaschewskij mit den medizinischen Problemen im betreffenden Gebiet vertraut, organisierte zwei internationale Konferenzen zu diesem Thema, erlangte praktische Unterstützung von Seiten des Gebietes sowie der Oblast und stellte die gesicherten Erkenntnisse Kollegen aus Frankreich vor, um künftig gemeinsam im Bereich der prophylaktischen Behandlung sowie der Therapie von Strahlenopfern tätig zu werden.

Was passiert heute? Darüber berichtet die erwähnte Publikation des ZN.UA. Offensichtlich ist es kein Zufall, dass dem Zentrum für Koordination und Analyse „Ökologie und Gesundheit“ unter der Leitung von Jurij Bandaschewskij verboten wurde, weiter im Zentrum für Strahlenmedizin tätig zu sein. Das Verbot wurde erlassen, nachdem die EU entschieden hatte, Mittel für ein äußerst interessantes Projekt im Iwankowsker Gebiet zur Verfügung zu stellen. (Oder hat etwa eine Frau namens Korruption ein Auge auf eine reizvolle Lichtung und die saubere Waldluft geworfen, vielleicht auch mit dem Gedanken an ein privates Krankenhaus?) Auf meine Anfrage beim Präsidenten der Akademie der Medizinischen Wissenschaften Andrej Serdjuk erhielt ich eine kurze Antwort: „Die Nationale Akademie der Medizinischen Wissenschaften der Ukraine hat mit der Angelegenheit nichts zu tun.“ Dabei hatte sich Andrej Michajlowitsch Serdjuk bei einem Treffen wohlwollend über die wissenschaftliche Arbeit von Prof. Bandaschewskij geäußert. Auch ist Andrej Serdjuk selbst gemeinsam mit einer Gruppe von Wissenschaftlern für eine Reihe von Arbeiten zu den Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe auf die Umwelt, den wissenschaftlichen Grundlagen der Dekontamination verseuchter Gebiete sowie des Strahlenschutzes der ukrainischen Bevölkerung mit dem Staatspreis für Wissenschaft und Technik ausgezeichnet worden. Zu seinem Interessensgebiet gehören auch die Qualitätskontrolle und -sicherung bei Lebensmitteln.

So war es folgerichtig zu hoffen, dass für eine wirkungsvolle Hilfe für die Opfer des Reaktorunglücks auch die Kenntnisse und die Erfahrung des weltweit angesehenen Arztes und Wissenschaftlers Jurij Bandaschewskij in Anspruch genommen würden. Es sei daran erinnert, dass von Sergej Komissarenko, einem Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Ukraine, angesichts der Wirkung von geringen Strahlendosen die Bezeichnung „Aids von Tschernobyl“ geprägt wurde. Wir waren durch Luft, Wasser und Lebensmittel der Strahlung ausgesetzt. In der Zeit nach dem Reaktorunglück konnten die radioaktiven Stoffe Cäsium und Strontium in unseren Muskeln und Knochen „ihre Arbeit verrichten“ – davon handeln die Artikel und Monografien der Wissenschaftler vom Zentrum für Strahlenmedizin, und sie beschreiben auch die schweren Erkrankungen, die eine Folge davon sind. Jedoch kamen gerade in diesem Zentrum unter dem Druck von „wissenschaftlichen Autoritäten“ in Verbindung mit Akteuren, die seinerzeit den tatsächlichen Stand der Dinge verschwiegen, geschönte Berechnungen nach der „Methodik 97“ zustande. Schon vor langer Zeit deckte die Nationale Kommission für den Strahlenschutz der Ukrainischen Bevölkerung (NKRZU) unter dem Vorsitz von Dmitrij Grodsinskij diese Aktivitäten auf, es ist jedoch unmöglich, die Mühlen des Apparats zu überwinden. Nachdem die Berechnungsweise der Strahlendosen einer sorgfältigen Prüfung unterzogen worden war, forderte die NKRZU, die tatsächlichen Dosen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Akademiemitglied Grodsinskij trat wiederholt bei Sitzungen des von der Werchowna Rada eingesetzten Komitees zur Lösung der Tschernobyl-Problematik auf und legte überzeugend dar, dass die Dosen um ein 200-300faches (!) zu niedrig angegeben wurden. Im Januar 2008 erschien ein Artikel, in dem Professor Wsewolod Kalina, wissenschaftlicher Sekretär der NKRZU, und Jurij Kutlachmedow, Mitglied der NKRZU und Leiter eines radiobiologischen Laboratoriums, die Notwendigkeit darlegten, korrigierte Angaben zur Strahlendosis zu machen. Mithilfe von Professor W. Georgiewskij konnte bewiesen werden, dass die Dosen in einzelnen Regionen um das 800fache zu niedrig angegeben wurden. Die Unterlagen wurden zur Einsichtnahme und Bestätigung an das Kabinett weitergeleitet. Von dort gelangten sie ins Ministerium für Fragen außergewöhnlicher Situationen und für den Bevölkerungsschutz infolge der Tschernobyl-Katastrophe. Seitdem versuchen „Spezialisten“ diese lebenswichtigen Angaben an das Gesundheitsministerium abzuschieben. Der Teufelskreis schließt sich endlich im Zentrum für Strahlenmedizin, wo jene sagenhaften Berechnungen der Strahlenbelastung für die Bevölkerung zustande kamen.

Gegenwärtig wird die NKRZU vom Parlamentsabgeordneten Wladimir Skubenko geleitet, der auf ganz anderes als diese für die Ukraine äußerst wichtigen Probleme spezialisiert ist. Eines der Mitglieder der Kommission ist Ilja Lichtarew, der zuvor aufgrund öffentlicher Proteste über 20 Jahre aus ihr ausgeschlossen war. Dieser Professor vom Zentrum für Strahlenmedizin der Akademie der Medizinischen Wissenschaften der Ukraine erklärte, ein geringer Plutoniumgehalt in der Nahrungskette sowie „heiße Teilchen“ in den Lungen seien unbedenklich. Und all das wird in einer von ihm unterschriebenen Erklärung bestätigt, die eine Strahlendosis von 100 Röntgen als gering ansieht. Vermutlich setzte Herr Lichtarew 1987 seine Unterschrift ebenso leichten Herzens auch unter die Genehmigung, auf einem Cäsiumfleck die Stadt Slawutitsch zu errichten, die über viele Jahre hinweg beträchtliche Haushaltsmittel verschlang, die für die soziale und medizinische Betreuung der Bewohner nötig waren.

Jede Strahlendosis, wie klein sie auch sein möge, ist kanzerogen und genetisch bedenklich. Dieser Befund wurde zwei Jahre vor der Tschernobyl-Katastrophe im Bulletin des Gesundheitsministeriums der ehemaligen UdSSR öffentlich gemacht. Die Forschungen von Dr. med. M. Pylinskaja wiesen dies Phänomen auf der Ebene der Erbgutschädigung nach, ihre Arbeiten werden auch im Ausland zitiert. Es ist ebenfalls bekannt, dass die ersten Krankenakten von Opfern der Reaktorkatastrophe mehrfach umgeschrieben wurden und dass die jungen Männer – Liquidatoren, die im Umkreis der Ruine von Reaktorblock 4 gearbeitet hatten – ihre Berichtigung nicht mehr erlebten… Und genau hier finden sich die Anfänge der Lüge von den scheinbar „gar nicht so schwerwiegenden Folgen der Tschernobyl-Katastrophe“, die zur Grundlage der Ergebnisse des Tschernobyl-Forums 2005 in Wien wurden. Leider legte die Ukraine keinen offiziellen Widerspruch gegen diese unwahren Schlussfolgerungen ein.

Zur Lösung des Tschernobyl-Problems braucht es ein reines Gewissen. Eine Substanz wie das Gewissen hat keine Halbwertszeit. Entweder man hat ein Gewissen oder man hat es eben nicht. Bei unseren Bürokraten dauert der Zerfall des Gewissens weiter an.

16. Dezember 2011 // Natalja Preobrashenskaja

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzer:   Jakob Walosczyk  — Wörter: 1869

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