Zwischen Europa und Russland
Der französische Historiker und Soziologe Alain Blum äußert sich über die Unberechenbarkeit ukrainischer Machtinhaber, ukrainisch-russische Beziehungen und die Sprache als Bestandteil der Staatspolitik.
Seine geschichtsbezogenen Aufklärungen sind mit Leidenschaft geschrieben, seine Reden sind vom antiken Pathos und Gefühlen getränkt. Zu seinen Interessen gehören die geopolitische Grundlagen der Europäischen Union, das Leben der Häftlinge in Stalin’s Gulags und die demographische Situation in der Ukraine. Am allerwenigsten ist Alain Blum einem Akademiker ähnlich, eher einem Erstsemester. Der Professor akzeptiert keine Autos und fährt durch Paris nur Rad.
U. T.: Die Ukraine fühlt sich dann und wann als „Geisel“ der Beziehungen zwischen Europa und Russland. Die Rückzüge westlicher Politiker ähneln der Schmeichelei von Sir Winston Churchill Stalin gegenüber … Es scheint, der Westen habe wieder Angst vor Russland und der Grund dafür ist mehr als überzeugend: die Gasabhängigkeit, das Atomwaffenpotential sowie die Großmachtambitionen von Russland.
Ich würde das Wort „Geisel“ nicht gebrauchen. Ohnehin, wenn wir die Interessen der Ukraine beiseite lassen, sind die Beziehungen zwischen Russland und Europa schwierig genug. Das Spiel behält noch mehr Tücken. Die Ukraine findet sich in einer dramatischen Lage zwischen beiden Kolossen, Russland und Europa. Europa hat sich zu der Europäischen Union erweitert und Russland bleibt groß territorial und hat ausreichende Bodenschätze. Zugleich versucht Russland sein wirtschaftliches, militärisches sowie auch politisches Potential zu vermehren. Die Ukraine hat sich noch nicht festgelegt, mit wem sie ist. Diese Position ist zurzeit nicht klar. Ukrainische Politiker ändern oft ihre Prioritäten und für Europa ist das verwirrend.
Verabschiedung von der Vergangenheit
U. T.: Momentan haben wir drei „Verabschiedungsmodelle“ im postkommunistischen Europa: eine friedliche und gewogene in der Tschechoslowakei, einen militärischer Konflikt in Jugoslawien und „Ukraine-Russland“: andauernde Krämpfe, wie den Gaskonflikt, die Insel Tusla, die Schwarzmeerflotte u.a. Den Grund dafür sehen einige in den Minderwertigkeitskomplexen der Amtsinhaber, in signifikanten Fehler, die die Ukraine begangen hat: von der nicht durchgeführter Lustration/Durchleuchtung (der Staatsangestellten) bis auf den Verzicht auf die Atomwaffe.
Zum Glück gab es keine jugoslawische Tragödie in der Ukraine. Der Zerfall der Tschechoslowakei verlief friedlich und schmerzlos, weil ein gemeinsames Ziel verfolgt wurde und zwar das Streben nach Europa. Zudem hatten Bürger der Tschechoslowakei sehr ausgeprägte demokratische Erwartungen. Die Ukraine aber macht den Eindruck, dass sie infolge andauernder politischer Instabilität nicht besonders sicher in Richtung Europa agiert und dies verunsichert die Europäer. Ich formuliere es schärfer: Europa hat Befürchtungen hinsichtlich der Unberechenbarkeit der Ukraine. Was den Atomwaffenverzicht angeht, bin ich der Meinung, dass es kein Fehler war. Bei der Präsenz von Atomwaffen in der Ukraine wäre die Situation noch komplexer und zugleich dazu gefährlicher. Die Ukraine wird unbedingt Mitglied der EU und ihre Aufnahme in die EU könnte schwieriger sein, wenn sie Atomwaffen hätte. Möglicherweise könnten Atomwaffen für eine kurze Zeit eurem Staat ein gewisses Gewicht verleihen, weil die Macht leider auf der Welt regiert. Für die Zukunft wären aber Atomwaffen ein Hindernis. Und Lustration… So weit ich weiß, wurde die Lustration in den Ländern Osteuropas und im Baltikum nicht ohne Probleme durchgeführt und sehr oft nicht korrekt. Zeitungen veröffentlichten nicht überprüfte Listen, gaben Namen ohne gerichtliche Untersuchung bekannt. Dabei handelte es sich um vieles, was nicht bewiesen wurde und als Folge: viel Schmerz, den man nicht verdiente.
Eine Nationalidee errichten
U. T.: Kann es sein, dass unsere andauernde Unsicherheit in Bezug auf die Beziehungen zu Russland durch eine fehlende Nationalidee bedingt wurde?
Die Ukraine ist ein junger Staat. Die Franzosen brauchten hundert Jahre um zu dem Begriff Nationalidee und nationales Selbstbewusstsein zu gelangen. Und heute existieren diese Begriffe parallel zu dem Gefühl, Europäer zu sein.
U. T.: An der feierlichen Sitzung des Europäischen Parlaments anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls äußerte sich Vaclav Havel ausdrücklich, dass „Das Europa ist das Heimatland unserer Heimatländer. Ich bin ein Tscheche und gleichzeitig ein Europäer.“
Die Meisten in Europa empfinden sich genauso als Europäer: sie sind Bürger ihrer Staaten und gleichzeitig Europäer. Was die Ukraine anbelangt, herrscht in Europa die Meinung, dass die Menschen, die in der Ukraine leben, sich als Ukrainer wahrnehmen und für sie ist es bedeutungsvoll, dass ihr Staat souverän und unabhängig bleibt. Diese Meinung wurde teilweise von der Orangenrevolution bekräftigt. Nationales Selbstbewusstsein lässt sich dann erbauen, wenn man sich Mühe gibt. Die zwei gegenseitig ausgeschlossenen Prinzipien in Bezug auf der Errichtung des nationalen Bewusstseins beruhen auf der ethnischen Grundlage oder auf dem Verständnis, dass das Land eine Gemeinschaft für alle Menschen ist, die in diesem Land leben. In der Ukraine ist der obenerwähnte Widerspruch noch nicht überwunden. Dies kann nur gelöst werden, wenn politische Freiheit zugrunde liegt. Ich wiederhole aber, das politische Leben ist in der Ukraine in der heutigen Etappe so schwierig, unberechenbar, dass es keine Chance gibt, diese signifikante Frage zu lösen. Es sei zu betonen, dass es dabei wichtig ist, diese Frage im System der demokratischen Koordinaten zu lösen. Und steht nicht zu befürchten, dass ein Teil davon dem Russischen Imperium angehört und auch der UdSSR. Es ist gut, dass ihr so ein mannigfaltiges und vielnationales Land habt. Dabei ist es von Bedeutung, dass sich alle Bürger der Ukraine als Ukrainer sehen.
U. T.: Frankreich verdaute zahlreiche Immigrationswellen: davon seitens der Polen, der Russen in der Zeit des Bürgerkriegs und die Immigrationen aus den damaligen französischen Kolonien in Asien und Afrika. Die Mehrheit von diesen Nachkommen aber zählt sich zu den Franzosen. Die ethnische Angehörigkeit ist meistens nur bei Religion und Traditionen zu spüren. In der Ukraine gibt es eine gewisse Schicht von Menschen, die keine Ukrainer werden können, weil bei ihnen das Gefühl „sowjetisch zu sein“ überwiegt. Woher dann kommt diese Neigung zu Russland?
In Frankreich ist nicht alles so reibungslos, wie es aussieht: es gibt Missverständnisse zwischen eingewurzelten und neuen Franzosen. Ich würde sagen, es ist immer ein Kampf, ein Franzose zu sein. Die Unabhängigkeit der Ukraine existiert bisher nur 20 Jahre lang. Und wenn Frankreich zugestanden hat, dass es ein Imperium war und Kolonien hatte, verneinte dies die UdSSR immer und betonte dazu die brüderliche Völkergemeinschaft, wenngleich es mit der Wahrheit nicht übereinstimmte. Die Propaganda aber funktionierte und deswegen ist es für viele heute schwierig, nach der Dekolonisierung zu leben. Und ich habe auch einen Eindruck gewonnen, dass eure Regierung keine stark ausgeprägte Idee von der demokratischen Bürgergesellschaft hat, die sie haben sollte. Darum identifizieren sich viele von euren Bürgern als sowjetisch. Ich bin aber optimistisch. Am Beispiel von Litauen sehe ich, dass alle, die auf dem Territorium dieses Landes leben, unabhängig von ihrer Nationalität, sich als Litauer fühlen, was bei den älteren Menschen nicht vollständig zu verwirklichen ist. Dieselbe Situation herrscht in Estland und Lettland, es gibt aber auch gewisse Konflikte. Hervorzuheben ist, dass alle baltischen Länder von Anfang an sich zu Europa bekannt haben und alles dafür gemacht haben, um in die EU aufgenommen zu werden. Dies vereinigte die Gesellschaft. Europa gab diesen Ländern Stabilität und gewährleistete Demokratie. Die Ukraine hat sich noch nicht entschieden mit wem sie sein will, mit Russland oder der EU. Der erste Schritt wurde aber getan. Die Orange Revolution gab den Menschen, die auf diesem Territorium leben, einen kolossalen Impuls, sich als Ukrainer zu fühlen. Wenn ich schon über Fehler der Ukraine rede, nehme ich mir die Freiheit zu sagen, dass die demografische Politik nicht richtig betrieben wird.
U. T.: Sie haben damals behauptet, einer der Gründe, warum die UdSSR zerfiel, war eine falsche demografische Politik…
Ja. Die demografische Politik war ein Spiegel für die Politik der UdSSR. Der Staat war plötzlich über die niedrigen Geburtenzahlen besorgt und beschloss, die Geburtenzahl zu erhöhen. Es wurden finanzielle Mittel bereitgestellt, Propaganda eingesetzt usw. aber die Bevölkerungszahl erhöhte sich nicht. Putin geht auch denselben Weg und vertritt die Meinung, dass wenn die Bevölkerung mehr Geld hat, wird auch die Geburtenzahl steigen und als Folge die Bevölkerungszahl. Das ist aber nicht richtig. Ein grundlegender Bestandteil der Verminderung der Bevölkerungszahl ist nicht die niedrige Geburtenzahl sondern Mehrsterblichkeit und Lebenserwartung. Die Geburtenzahl wird durch finanzielle Mittel stimuliert, anstatt die finanziellen Mittel für die Verbesserung der Lebensqualität einzusetzen. In der Ukraine wird leider keine Aufmerksamkeit dem Problem der hohen Sterblichkeit geschenkt. In Europa ist die Geburtenzahl auch so niedrig, wie auch bei euch, aber die Lebensqualität ist ganz anders und dementsprechend leben die Menschen viel länger und die Sterblichkeit ist niedriger.
U. T.: Sind überhaupt zivilisierte Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland ohne den gleichen Blick auf gemeinsame Vergangenheit möglich?
Was die gemeinsame Vergangenheit beider Staaten anbelangt, finden heftige Diskussionen der Historiker statt, leider aber sind die zu politisiert geworden. Es ist klar, dass solange Russland auf seiner großen Vergangenheit besteht und diese Vergangenheit nach dem Prinzip „alles in einen Topf werfen“ errichtet wird wenn die Helden gleichzeitig Iwan der Schreckliche, Nikolaus II, Lenin und Stalin sind, dann ist es schwierig, was dagegen zu tun. Übrigens, es ist unmöglich eine Geschichte der UdSSR zu schreiben, weil der Zugang zu allen russischen Archiven verboten ist.
U. T.: Wie meinen Sie, warum die Versuche der Ukraine ihre Identität zu finden, in Russland eine Hysterie hervorrufen? Das lässt sich sowie auf der höchsten Ebene als auch im Alltagsleben erkennen.
Das ist ein so genanntes postimperiales Syndrom, auch wenn Russland ganz offensichtlich wieder ein Imperium wird. Unter Historikern aber gibt es keine Hysterie mehr: sie sitzen ganz ruhig und führen Gespräche darüber. Die Diskussion findet statt und dabei ist es wichtig, dass sie nicht unterbrochen wird; es soll echte, ehrliche Geschichtsforschungen durchgeführt werden.
Kultur und Sprache – Beweggründe des Staates
U. T.: Als wir die Frage der Identität angeschnitten haben, haben wir die für die Ukraine sehr schmerzhafte Sprachfrage übersehen. Heute behaupten unsere Intellektuellen, dass der Verlust der ukrainischen Sprache zum Verlust der Unabhängigkeit führen wird.
Ja, die Ukraine, wenigstens ihr Teil, will eine Staatssprache haben, wie auch Frankreich und Deutschland. Dabei ist es wichtig, zu begreifen, dass das der Bestandteil der Staatspolitik ist und auch ein Prozess. Wenn junge Eltern wissen, dass in allen Hochschulen nur auf Ukrainisch unterrichtet wird, dann werden die ihre Kinder in ukrainischsprachige Kindergärten und Schulen geben. Sie werden verstehen, dass das Leben ihres Kindes wie auch seine Karriere unmittelbar damit verbunden ist, wie gut es die ukrainische Sprache beherrscht. Für die Lösung dieser Frage muss sich der Staat einsetzen. Ich wiederhole: das ist ein Prozess.
U. T.: In wie weit ist es wahr, dass in Europa die ukrainische Kultur vor allem durch ihren quasi ethnographischen, folkloristischen Bestandteil so genannte “geschichtete” Ukraine wahrgenommen wird?
Nein, das stimmt überhaupt nicht. Die Orange Revolution ist ein enormer Durchbruch. Die Ukraine wurde für Europäer nicht einfach ein neuer Staat, sondern ein Staat, in den man sich verliebte. Das ganze Europa verfolgte die Ereignisse in der Ukraine. Auch der Gaskonflikt zwischen der Ukraine und Russland konnte die Beziehung zur Ukraine nicht ins Wanken bringen.
U. T.: Sind die Europäer bereit sich dessen bewusst zu werden, dass die ukrainische Kultur mit solchen Namen wie Hryhorij Skoworoda, Dmytro Bortnjanskyj, Olexandr Archypenko, Kasymyr Malewytsch, Olexandr Dowshenko, Wolodymyr Horowyz, Serhij Paradshanow verbunden ist?
Meines Erachtens ist die Ukraine als ein modernes, gegenwärtiges Land bekannt. Für Europäer verliert sich die ukrainische Geschichte in der Geschichte des Russischen Imperiums. Wissen Sie, für den Westen war es eine Erschütterung, zu erfahren, dass z. B. Marc Chagal ein Vertreter der Kultur von Belarus ist. Europa ist daran interessiert, mehr über die Ukraine zu wissen, es soll aber allein die Ukraine daran Interesse zu haben und bestimmte Schritte zu unternehmen, wie Eröffnung von Kulturzentren, die Frankreich auf der ganzen Welt hat. Europa will die Ukraine erleben. Der Rest hängt nur von euch ab.
Das Interview führte Olena Tschekan
Quelle: Ukrajinsky Tyshden