Über die ukrainische Sängerin Jamala, ihre Musik und die Frage des hybriden Krieges
Nach Jamalas Sieg beim European Song Contest 2016 thematisierten die meisten Schlagzeilen in Deutschland die russischen Reaktionen darauf und somit die politische Dimension des Wettbewerbs: Von einem Kalten Krieg, einem politisierten Wettbewerb oder auch von einem Eurovisions-Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Ukraine war immer wieder die Rede. Obwohl es sich bei Jamala in erster Linie um eine außergewöhnliche Musikerin handelt, variierten sehr viele Lesekommentare hartnäckig vor allem den gleichen Gedanken: Weil sie aus der von Russland annektierten Krim stammt, hätten sich viele Jurys bei der Abstimmung von einem Gefühl der politischen Korrektheit leiten lassen und nicht von musikalischen und künstlerischen Qualitäten ihres Liedes. Auch der Vorwurf, dass ihr Lied gegen die ESC-Regeln verstoßen haben soll, war oft zu hören – denn laut Regeln sind keine politischen Lieder zugelassen. Es wäre deshalb wichtig zu versuchen, Kunst und Politik, da wo es möglich ist, getrennt zu betrachten und vor allem Jamalas musikalische Leistungen in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich möchte zunächst erläutern, warum ihr Lied kein politisches ist – auch wenn es trotzdem politische Konsequenzen hat.
Das Lied handelt von Ereignissen des Jahres 1944 auf der Krim. Obwohl sie denen, die auf der Halbinsel ab 2014 an der Tagesordnung sind, immer mehr ähneln und die Verbindung zwischen 1944 und 2014 auf der Hand liegt, ist diese Verbindung trotzdem eine Frage der Interpretation. Das Lied selbst sagt kein Wort über gegenwärtige politische Verhältnisse und enthält keine politischen Appelle. Und wenn es sie nicht gibt, ist es (formal) kein politisches Lied – ganz egal was Jamala damit „gemeint“ hat.
Gleichzeitig gilt, dass in einem Land, in dem Krieg herrscht, alles, was ein Künstler macht, politisch ist. Das wichtigste ist, dass er dabei trotzdem vor allem Künstler bleibt und sich nicht für politische bzw. militärische Zwecke instrumentalisieren lässt. Er soll Herzen erreichen und nicht Interessen vertreten. Politische Konsequenzen eines Kunstwerks sind ein nachträglicher Effekt und eine Frage der Rezeption; entscheidend ist aber, dass der Künstler von einem Standpunkt aus schreibt oder singt, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht eine politische Botschaft. Genau diese Forderung erfüllt Jamala.
In einer Pressekonferenz wurde sie gefragt, ob sie nach ihrem Erfolg bei Eurovision nicht in die Politik gehen möchte, wo sie für die Ukraine mehr tun kann, als wenn sie „nur“ eine Sängerin bleibt. Wichtig bei ihrer Antwort war nicht nur das kategorische „Nein“, sondern vor allem die Begründung: Die Politik kommt für sie deshalb auf gar keinen Fall infrage, weil es ein Ort ist, in dem es keinen Platz für menschliche Gefühle gibt. Egal was man damit erreichen kann, ist es für sie undenkbar, dass sie als Künstlerin sich in jene Welt begibt, wo nur kühle Abwägungen und rationale Berechnungen zählen.
Musik ist für sie kein Mittel für die Politik, sondern eine Angelegenheit des Herzens und eine Frage des Geschmacks. Ich möchte anhand ausgewählter Lieder und Interview-Äußerungen von Jamala zeigen, dass für sie Musik tatsächlich im Mittelpunkt steht. Dann werde ich versuchen zu erläutern warum, obwohl sie für Musik lebt, „1944“ in der jetzigen politischen Situation – zumindest in der russischen Lesart – nicht nur mit Kunst, sondern auch mit Krieg zu tun hat. Das Ziel des Artikels ist somit zum Einen, Jamalas künstlerische Leistungen zu würdigen und zum Anderen, von ihrem Sieg beim ESC ausgehend, einige Besonderheiten der gegenwärtigen russisch-ukrainischen Beziehungen zu beleuchten und festzuhalten. Außerdem soll darüber reflektiert werden, warum Jamalas Lied „1944“ für die russische bzw. ukrainische Gesellschaft – auf unterschiedliche Art – wichtig ist.
Über die Eurovision und „1944“
Beginnen möchte ich mit ein paar Bemerkungen über „1944“. Als Erstes fällt auf, das das Lied auf einem hohen musikalischen Niveau und dabei sehr leidenschaftlich vorgetragen wurde. Das Lied ist ergreifend, auch wenn man nicht weiß, wovon es handelt und welche Hintergründe im Spiel sind. Dass man auf Gesang und Gefühl setzt, ist bei der Eurovision nicht selbstverständlich. Viele bevorzugen eine Mischung aus special effects, ausgefallener Kostümierung, aufwendiger Choreographie und nur nebenbei Gesang. Als Ergebnis sieht man deshalb beim ESC oft disparate Auftritte (wie der deutsche 2016), oder zwar technisch brillante, aber von einer nichtssagenden und kalten Perfektion – wie der russische 2016.
Jamalas Gesang zeugt auch von Perfektion – sie ist ausgebildete Opernsängerin – doch nicht diese allein macht ihr Lied aus. Gerade die Entstehungsgeschichte von „1944“ ist aufschlussreich im Bezug auf zwei Fragen: „Warum ist das Lied in erster Linie Kunst und nicht Politik?“ und „Warum gewann sie mit einem solchen Lied Sympathien von Jury und Zuschauern?“.
Das Lied wurde von Jamala persönlich geschrieben. Es handelt vom tragischen Schicksal des von Stalin deportierten krimtatarischen Volkes. Über die erschütternde Erfahrung der Deportation wird in „1944“ nicht bloß nach Noten gesungen, sondern sie ist in jedem Ton des Liedes präsent. Sie entspricht in Vielem der Gefühlslage der Sängerin, die ihre Heimat nach der russischen Krim-Annexion ebenfalls verloren hat. Hier geht es trotzdem nicht um eine politische Botschaft, sondern um das für jeden nachvollziehbare Leiden, das aus dem Heimatverlust resultiert – es geht um die Sehnsucht, um den langen Weg nach Hause. Vielen Kunstwerken liegt genau diese Konstellation zugrunde – eine leidvolle Verlusterfahrung, und die künstlerische Umgestaltung von Verlust und Sehnsucht in Bilder, Texte oder Musik. Von diesem Standpunkt aus erzählt Jamala die Geschichte ihrer Familie bzw. singt „1944“ – das Lied entsteht aus echtem Schmerz heraus und nicht weil es „gegen Russland“ ist. Natürlich, wenn sie über die Deportation von 1944 singt, kann man davon ausgehen, dass sie die Annexion von 2014 ebenfalls meint. Doch sie bezieht sich darauf nicht als eine politische Aktivistin, sondern eben als eine Künstlerin, die versucht, ihren Schmerz in Worte und Töne zu verwandeln.
Ich vermute, dass viele, die für Jamala gestimmt haben, hörten, dass sie nicht nur großartig sang, sondern dass ihr Lied aus einem echten seelischen Beweggrund heraus entstand. Ihr Lied bewegte viele Zuschauer und klang deshalb echt, weil die darin enthaltene Klage echt war. Diese Kombination aus meisterhaftem Gesang und großer Leidenschaft ist etwas komplett in Vergessenheit Geratenes und ist für Viele sicherlich verblüffender und erfrischender als eine extravagante Freak-Show mit Untoten, die Halleluja singen (ESC 2006) oder eine Frau mit Bart (ESC 2014). Aus diesem Grund denke ich, dass am 14. Mai 2016 nicht nur Kunst über Politik gesiegt hat, sondern es war auch ein Sieg innerhalb der Kunst bzw. der Pop-Musik: An diesem Tag siegten professioneller Gesang und echtes menschliches Gefühl über Glitzer, Glamour und special effects.
Über Jamalas Einstellung zur Pop-Musik
Ich weiß, wie schwer es ist, diese Echtheit-These gerade im Bezug auf das Milieu zu vertreten, in dem Jamala ihren ersten Platz gewonnen hat. Natürlich spielt auch für sie Geld und Karriere eine Rolle. Doch ich möchte trotzdem deshalb bei meiner Meinung bleiben, weil Jamalas Werdegang als Sängerin von zwei Merkmalen geprägt ist: einer permanenten künstlerischen Suche und einer großen Hingabe an die Musik. Sie singt nicht wegen dem Wunsch in irgendwelchen Top-10 die Erste zu sein, sondern weil es für sie unmöglich ist, nicht zu singen.
Nach ihrem fulminanten Auftritt bei Nowaja Wolna (eine Art ESC für den post-sowjetischen Raum) im Jahr 2009 standen ihr alle Bühnen der ehemaligen Sowjetunion offen – samt zahlreichen Angeboten, mit der größten russischen Pop-Prominenz gemeinsam aufzutreten. Sie schlug die lukrativsten Angebote deshalb aus, weil die möglichen finanziellen und sonstigen Erfolge einen für sie nicht hinnehmbaren Preis gehabt hätten: Sie hätte zwar zum Club der Auserwählten gehören können, aber mit der notwendigen Konsequenz, dass ihre Stimme und ihr Talent im russischen Pop-Einheits-Brei untergegangen wären.
In einem Interview mit dem russischen Musik-Sender „Russia.Ru“ aus dem Jahr 2010 spricht sie über ihre Musik, manche Besonderheiten des Musikbetriebs und ihre Pläne für die Zukunft. Dort erklärt sie, dass innerhalb der post-sowjetischen Unterhaltungsmusik eine dominierende Tendenz besteht, auf eine primitive, einheitliche und in jeder Hinsicht billige Art zu singen, die aber offenbar vom Markt bzw. bestimmten Leuten gewollt wird und sich gut verkauft. Abweichungen oder gar eigene künstlerische Ideen sind unerwünscht, so dass es fast unmöglich ist, etwas anderes zu machen als das, was gerade „in“ ist. Insbesondere beklagt sie die künstliche, ja erzwungene Trennung zwischen guter und schlechter U-Musik bei der Auswahl der Lieder, die übertragen werden: In allen Radio-Sendern läuft immer nur das, was jemand irgendwo „oben“ als Unterhaltung definiert hat, die guten Sachen werden dabei konsequent auf andere Sender verbannt, die „für Kenner“ sind.
Da ist eine Unterhaltungsmaschine am Werk, in der Verdummung und schlechter Geschmack Methode hat und auf eine derart totalitäre Art durchgesetzt wird, dass fast alle Sänger den Kampf mit ihr früher oder später aufgeben. Jamala sagt es nicht laut, aber alle wissen, dass Leute wie Kobson , Pugatschowa oder Kirkorow die russische Unterhaltungsindustrie genauso fest im Griff haben wie Putin seine Generäle. Etwas zugespitzt formuliert: Ähnlich wie NKWD-Kommissare in den 30-er Jahren auf die Zwangskollektivierung setzten, setzt die heutige russische Unterhaltungsmaschine auf Zwangsverdummung. In der Ukraine geht es zwar weniger totalitär zu, aber auch dort besteht die gleiche Gefahr und auch dort bestimmt eisern der Markt bzw. der Produzent was und wie Sänger zu singen haben.
In dieser Hinsicht ging Jamala keine Kompromisse an – weder in Russland noch in der Ukraine. Sie weigerte sich strikt, sich in die Tendenz zu fügen, die aus der U-Musik ausschließlich jene „leichte Kost“ macht, die zu nichts anderem als Verblödung und schlechtem Geschmack führen kann. Auf deutsche Verhältnisse übertragen, plädiert sie für weniger Dieter Bohlen und für mehr Herbert Grönemeyer. Auch die U-Musik, so Jamala, kann ernste Inhalte transportieren, künstlerischen Ansprüchen genügen und dabei vom Herzen kommen. Es muss nicht so sein, dass alle nach einem einzigen Muster mehr oder weniger das Gleiche singen – und zwar das, was gerade Kasse macht. Sie legt auch Wert darauf, an Wettbewerben teilzunehmen und Preise zu gewinnen, aber ihr Hauptanliegen ist, dass der Künstler professionell bleiben muss und dabei sich selbst und seiner Kunst treu. Als Ergebnis dieser Haltung spürt man, dass sie bei ihren Auftritten, Albums und Video-Clips keine „Karriere-Leiter“ erklimmt, sondern ihren Weg sucht. Diese Suche brachte ihr zwar für lange Zeit unter Produzenten den Ruf, „unproduzierbar“ zu sein, trug aber Früchte, denn sie ist heute nicht nur in mehreren Musikrichtungen zu Hause, sondern beherrscht meisterhaft sowohl leise als auch schrille Töne.
Über das Facettenreichtum von Jamalas Musik an einigen Beispielen
Da Jamala in Deutschland hauptsächlich mit ihrem Lied „1944“ bekannt ist, würde ich gerne auf ein paar im deutschsprachigen Raum weniger bekannte Lieder bzw. Interpretationen von ihr aufmerksam machen. Denn Jamala ist kein Sternchen, das durch die ESC Teilnahme ein Stern zu werden hoffte, sondern eine gestandene und facettenreiche Künstlerin, deren Lieder zu entdecken sich lohnt.
Richtig berühmt im postsowjetischen Raum wurde sie 2009 mit dem Lied „History repeating“, mit dem sie den Wettbewerb „Nowaja wolna“ gewann. Die russischen Moderatoren nennen ihren Auftritt „Ein Vulkan an Energie“ und eine „Explosion an Emotionen“, Jamala bekommt von allen Jurys die höchste Note 10, viele applaudieren stehend.
Ihre Interpretation des ukrainischen Volkslieds „Oj wersche mij wersche“ („Oh Waldhügel, mein Waldhügel“) ist von Ausdruckskraft und Gesang her vielleicht noch überragender als „1944“. Auch für dieses Lied bekommt sie 2009 die höchste Punktzahl und stehenden Applaus von der russischen Jury. Wie viele von ihnen würden für Jamala heute aufstehen?
Beeindruckend sind Jamalas Cover-Versionen von „Gopher Mambo“ oder „Cha Cha Gitano“ vom peruanischen Stimmwunder Yma Sumac. Schon das Intro von „Cha Cha Gitano“ ist ein Kunststück: Es beginnt mit Flamenco-Klängen, wird als Oper-Gesang fortgesetzt, geht fast in Jodeln über und endet auf eine Art, die ein wenig an Nina Hagen denken lässt.
Wer nach diesen Liedern zu schnell weiß, wohin man Jamala „einordnen“ kann, wird sich wundern, dass die gleiche Sängerin ein Lied wie „U oseni twoi glasa“ („Deine Augen sind wie der Herbst“) singt. Während man dem Lied entnehmen kann, dass Jamala neben klassischer Musik mit Jazz und Soul aufgewachsen ist, ist das Geschehen im Videoclip stark dem künstlerischen Universum von Tim Burton nachempfunden. Der Video-Clip zeigt eine sehr künstliche aber in allen Details penibel durchdachte Welt, in der das Äußere bunt und hoch artifiziell ist, die Emotionen aber echt.
Jamala hat zahlreiche Video-Clips gedreht, in welchen, trotz aufwendiger Kostümierung und Inszenierung, der Schwerpunkt trotzdem nicht auf Show, sondern eindeutig auf Gefühl und Gesang liegt. Ein gutes Beispiel dafür ist das nachdenklich-melancholische Lied „Ja saplutalas“ („Ich habe mich verstrickt“), ein großer Erfolg in der Ukraine.
Sehr einfühlsam, warm und mit viel Herzensblut gesungen ist ihr Lied „Warum Blumen Augen haben“ aus dem für den Oscar nominierten Film „Powodyr“ („Der Blindenführer“). Das Lied spiegelt das Motto des Films „Mit dem Herzen sehen“ vollkommen wieder. Vor allem der Abschluss ist durch eine leise daher kommende Wucht meisterhaft und ergreifend.
Eine besondere Bewandtnis hat es mit Jamalas Eurovision-Teilnahmen. Bereits im Jahr 2010 bereitete sie sich für die Teilnahme an diesem Wettbewerb vor, damals mit dem Pop-Song „Smile“. Darin setzte sie auf den Retro-Stil und die große Bandbreite ihrer Stimme: Sie zeigte, was sie mit der Stimme alles machen konnte am Beispiel von einem einzigen Wort: „Smile“, das sie quer durch alle möglichen Gattungen und Stimmregister sang.
Die Kluft zwischen dem „Smile“ und dem diesjährigen Eurovision-Lied „1944“ hat etwas Symbolisches: Im Jahr 2011 ist es Jamala nicht gelungen, mit einem Lied über das Lachen an Eurovision teilzunehmen, im Jahr 2016 wurde sie beim ESC Erste – mit einem Lied, in dem die Trauer im Mittelpunkt stand.
Für sie persönlich ist der Übergang vom „Smile“ zu „1944“ nicht einfach der Übergang von Freude zu Trauer im Sinne eines Themawechsels beim Wettbewerb. Zwischen diesen zwei Liedern stehen enorme seelische Erschütterungen, die vor allem auf die politischen Ereignisse in der Ukraine im Jahr 2014 zurückgehen. Es ist Zeugnis einer großen Charakterstärke, dass sie es schaffte, der Trauer nicht einfach zu erliegen, sondern sie zu reflektieren und künstlerisch zu gestalten.
Daraus wurde das Lied „Gewitter“, das in der Ukraine eins ihrer bekanntesten Lieder ist. Sie und Andrij Chlywnjuk (Sänger der Band „Boombox“) gewannen damit den Wettbewerb YUNA (Yearly Ukrainian National Award) in der Nominierung „Bestes Duo des Jahres“, das Lied wurde außerdem „Das Lied des Jahres 2016“.
Es handelt von Ereignissen auf dem Maidan im Winter 2013-2014. Obwohl es eindeutig einen politischen Bezug hat, spielt die Politik auch hier nur eine Nebenrolle. Mit „Gewitter“ wollen Jamala und Andrij Chlywnjuk keine pro-ukrainische Stimmung machen, sondern thematisieren vor allem die allgemeinmenschliche Dimension der Ereignisse, die über das Land hereingebrochen sind. Sie singen von den Menschen, die Hand in Hand auf die Straße gingen, weil sie in Würde leben wollten, über den kalten Maidan-Winter und die ersten Toten. Davon, dass das Unvorstellbare eingetreten ist, dass es keine Weichen mehr gibt und dass die Grenze des Erträglichen längst überschritten ist: „Wir sind so müde wie nie vom Winter (…) ich bitte nur um die Mai-Gewitter, um den Regen, der kommt und den Winter wegwischt“.
Im „Gewitter“ singt Jamala vielen Ukrainern aus der Seele, doch immer als Künstlerin, für die Schicksale und nicht politische Botschaften im Mittelpunkt stehen. Ihr geht es nicht um die große Politik, sondern um die große Tragik dahinter. Es ist kein Zufall, dass die schlimmsten Gewaltszenen des Video-Clips fast immer im Refrain gezeigt werden, wo aus dem Gesang eine bittende Klage darüber wird, dass das Gewitter über alle hereinbrechen und uns alle reinigen möge – vor allem von der Gewalt.
„1944“ und „Gewitter“ stehen in einer besonderen Verbindung. Thematisch handeln sie vom tatsächlichen oder möglichen Verlust jener Dinge, die in jeder Gesellschaft als unbedingte Gewissheiten gelten, solange sie da sind: Die Würde des Menschen, Recht auf Leben und auf Frieden. Der Ursprung der beiden auf der Gefühlsebene ist ein tiefer seelischer Schmerz. Sie „sprechen“ zu vielen Menschen in der Ukraine nicht, weil Jamala politisch „auf der richtigen Seite“ steht, sondern weil sie den gleichen Nerv treffen: In ihnen ist neben der historischen von der seelischen Zäsur jedes Einzelnen die Rede. „Ich werde nie die sein, die ich war“ sind vielleicht die wichtigsten Worte im Lied, die sowohl für Jamala als auch für all die ukrainischen Zuhörer eine erschreckende und unumstößliche Gültigkeit haben. Und sie galten umso mehr für die im Jahr 1944 deportierten Krim-Tataren.
Deshalb vertrat Jamala beim ESC 2016 ihr Land auf eine ganz besondere Art: Alle in der Ukraine wollten, dass sie gewinnt, nicht wegen des Prestiges, das jeder Sieg mit sich bringt. Sowohl Jamala als auch den meisten ihrer ukrainischen Fans ging es beim ESC überhaupt nicht um den bei solchen Wettbewerben üblichen Wunsch „auf das eigene Land stolz sein zu können“, sondern darum, der Welt mitzuteilen wie sich die Menschen fühlen, denen das eigene Land weggenommen wurde– wie den Krimtataren damals – oder die, die zu einem sehr hohen Preis versuchen, es zu bewahren – wie die Ukrainer heute. In diesem Sinne vertrat Jamala bei Eurovision 2016 nicht ukrainische Sieges-Ambitionen, sondern die Herzen ihrer Landsleute.
„Ein bisschen Sonne, ein bisschen Minsker Frieden“: Eurovision 2016 und der hybride Krieg
Als Jamala am Abend des 14. Mai 2016 ihr Lied „1944“ im Finale von Eurovision sang, tobte auf der Krim ein heftiges Gewitter.
Ein anderes Gewitter tobte am gleichen Tag nicht nur auf der Krim, sondern auch in Russland: Sofort nach Bekanntgabe des endgültigen Ergebnisses überzog ein wahrer Mediensturm die russischsprachigen Zuhörer mit einer Welle von Hass, Verleumdungen und Verschwörungstheorien.
Bevor ich auf die Reaktionen und Folgen von Jamalas Sieg in der Ukraine und Russland eingehe, möchte ich noch mal die gegenwärtige Stimmung sowie mediale und militärische Lage zwischen den beiden Ländern in Erinnerung rufen. Es soll den Kontext beleuchten, in den hinein Jamala ihr Lied sang.
Im Westen scheint die Krim-Annexion ganz vergessen zu sein und wird fast nur im Zusammenhang mit weiteren Sanktionen gegen Russland erwähnt. Auch der Krieg im Donbass ist aus den Schlagzeilen verschwunden: Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass der Minsker Friedensabkommen nicht eingehalten wird, aber der Grundton ist, dass er in der gegenwärtigen Lage die beste Lösung ist.
Russland betrachtet die Krim-Annexion als eine vollendete Tatsache und, mit besonderem Stolz, als eine militärische und diplomatische Glanzleistung von Putin. Im Donbass verwaltet Russland die besetzten Gebiete mit Hilfe von fünf Ministerien und dem Geheimdienst FSB, schickt weiter Waffen und Munition an die Separatisten damit es entlang der Frontlinie zwar auf kleiner Flamme, aber ununterbrochen brennt, im Übrigen stellt sich aber dumm und behauptet, keine Kriegspartei zu sein, sondern ein „Vermittler im ukrainischen Bürgerkrieg.“
In der Ukraine ist die Annexion der Krim selbstverständlich nicht vergessen, sondern bewirkte, dass sehr viele, die vor März 2014 pro-russisch waren, jetzt eindeutig gegen Putins Russland sind. Nach Krim folgte der Krieg im Donbass, der bis heute andauert. Jamalas Lied „1944“ erklingt in Zeiten des Minsker „Friedens“, der für die Ukraine unter anderem bedeutet, dass alle Männer zwischen 20 und 55 Jahre jede Zeit einberufen werden können, um die 450-Kilometer lange Frontlinie zu halten und zu verhindern, dass auf dem ukrainischen Territorium weitere „Volksrepubliken“ entstehen. Weil die Ukraine dabei Russland militärisch unterlegen ist, bergen alle anderen Bereiche, in denen es in irgendeiner Hinsicht um die Frage „Wer siegt?“ geht, ein kompensatorisches Potenzial und den Wunsch, Russland wenigstens bei einem Fußballspiel, Box-Kampf oder Musikwettbewerb zu schlagen. Diese Einstellung in der Bevölkerung (die in Russland trotz militärischer Überlegenheit genau die gleiche ist), ist noch kein hybrider Krieg, sondern zunächst eine aus den gegenwärtigen russisch-ukrainischen Beziehungen nicht weg zu denkende innere Haltung und psychologische Tatsache.
Der Krieg zwischen Russland und Ukraine wird aber hauptsächlich nicht an der Front und nicht mit militärischen Mitteln geführt: Auf beiden Seiten gibt es gegenseitige Wirtschaftssanktionen, Hackerangriffe und dergleichen mehr. Im Konzept des hybriden bzw. nicht linearen Krieges wird vorgesehen, dass als Waffe nicht nur Panzer und Kalaschnikows, sondern praktisch alles benutzt werden kann. In einem Artikel vom General Walerij Gerassimow, der dieses Konzept in der russischen Armee einführte, heißt es:
„Im 21. Jahrhundert besteht die Tendenz des Verwischens der Unterschiede zwischen dem Kriegs- und dem Friedenszustand. Die Kriege werden nicht mehr erklärt und, nachdem sie begonnen haben, folgen sie nicht dem gewöhnlichen Muster. (…) auch die „Regeln des Krieges“ haben sich wesentlich geändert. Gewachsen ist die Rolle der nicht-militärischen Mittel beim Erreichen der politischen und strategischen Ziele, die in zahlreichen Fällen ich ihrer Effektivität die Wirkung der Waffen wesentlich übertroffen haben. Der Akzent der verwendeten Methoden der Auseinandersetzung wird zugunsten der breiten Verwendung der politischen, wirtschaftlichen, informationellen, humanitären und anderen nicht militärischen Maßnahmen verschoben (…)“. (eigene Übersetzung)
Russland ging von der Theorie des hybriden Krieges zu seiner Praxis bereits im Sommer 2013 über als klar wurde, dass Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU möglicherweise unterzeichnen wird. Es führte den Krieg gegen die Ukraine mit dem Gashahn, mit Hackern, mit Internet-Trollen und professionellen Propagandisten.
Interessant ist, dass während sich im Cyber-Space, in den Medien oder in der Wirtschaft der hybride Krieg auf Aktionen und Reaktionen festmachen lässt, entwickelt er im Bereich der Kultur eine ganz andere Dynamik. Während nach einem Hacker-Angriff auf z.B. ein Ministerium, alle sich einig sind, dass man hier von einer hybriden Kriegsführung sprechen muss, ist es in Bereichen Kunst und Kultur nicht so offensichtlich. Damit aus Kunst und Kultur Waffe wird, müssen sie erst in die Logik des Krieges geraten bzw. man kann sie in die Logik des Krieges zwingen.
Dies wird unter anderem dadurch ermöglicht, dass sehr viele jetzige russische Politiker und Geisteswissenschaftler es nicht für möglich halten, dass die Ukraine zu eigenständigen (nicht-russischen) Kulturleistungen fähig ist. Die Ukraine ist aber dazu in der Lage, und, je mehr ukrainische Wissenschaftler, Schriftsteller, Regisseure oder Sänger die Ukraine würdig vertreten, desto deutlicher wird es für alle Welt: Die Ukraine gibt es, die Ukraine ist nicht Russland. Putin und die übrigen „Eurasier“ wäre es aber am liebsten, wenn die Ukraine für Europa ausschließlich durch Phänomene wie Korruption, radioaktive Verstrahlung, AIDS oder „Faschismus“ von sich reden lassen würde. Wenn die Ukraine aber durch etwas auffällt, was dort gut ist – und besser als in Russland – zieht es großes russisches Fluchen und Zähneknirschen nach sich. Denn eine Ukraine, die kulturell gut da steht, bedeutet für Russland, dass die Geschichte darüber, dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ sind, nicht mehr erzählt werden kann. Ukrainische Kultur wird in Kreml fast wie eine Bedrohung der russischen Staatlichkeit empfunden. Ein großer öffentlicher Erfolg der Ukraine in einem Kulturbereich ist deshalb für Russland viel schlimmer, als wenn die ukrainische Armee im Osten ein paar Dörfer zurückerobert. Wegen dieser russischen Wahrnehmung gerät das gesamte ukrainische kulturelle Leben notwendig in den Sog des hybriden Krieges: Ob man das will oder nicht – für Russland ist das so.
Es ist keine einfache Frage, wie man damit umgehen soll, dass die ukrainische Kultur im Allgemeinen und Jamalas Auftritt im Besonderen im heutigen Russland nicht durch eine „Kultur-Brille“, sondern durch eine „Militär-Brille“ betrachtet werden.
Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht ist das kurze Video des Kreml-Senders Russia Today, in dem Jamala auf eine besonders eigenartige Weise „porträtiert“ wird: Es wird mit den Klängen aus ihrem Lied „Inye“ („Die Anderen“) unterlegt. Das, was sie darin sagt, ist zwar für jeden Künstler in jedem Land eine Selbstverständlichkeit – doch die Musik im Video suggeriert eine Bedrohung. Jamalas wichtigste Aussage ist, dass die Ukraine heute, (da Menschen Politikern immer weniger glauben), vor allem gute Musiker und Künstler braucht. Und obwohl sie erklärt, dass sie in ihren Liedern immer nur davon singt, was sie direkt betrifft oder wehtut, können sich die Macher von Russia Today unter keinen Umständen vorstellen, dass die ukrainische Kultur Ukrainern aus dem Herzen kommt. Laut Russia Today kann sie nur etwas Fremdgeleitetes sein – heutzutage zum Beispiel werde sie durch Nato in die Welt gesetzt. Die bizarre Botschaft des Videos lautet: Die ukrainische Kultur ist das Werkzeug, mit dem die Nato Russland bedroht.
Es ist sehr interessant, was hier auf psychologischer Ebene passiert: Da Russland selbst seit Jahren Medien, Kunst und Kultur als Waffe einsetzt, geht es davon aus, dass die andere Seite (und das ist in der russischen Wahrnehmung die USA) es genau so tut. In den russischen Medien läuft zwar eine breit angelegte Verleumdungskampagne gegen alles Westliche, Russland selbst fühlt sich aber als Opfer. Dabei verraten gerade die russischen Reaktionen und Äußerungen zu Jamalas Sieg am besten, wer aus ESC den Schauplatz eines hybriden Krieges machte.
Wie man weiß, trat im Finale nicht der von Russen so ersehnte Sieg von Lasarew, sondern, nach einer sehr knappen Abstimmung, in der es um die Frage „Russland oder die Ukraine?“ ging, der Sieg der Ukraine ein. Aus der russischen Sicht war das der super-GAU eines hybriden Krieges.
Früher dachte man in Russland, dass das Schlimmste, was es bei einem ESC geben kann, ist eine Frau mit Bart. Was ist aber für Russen noch schrecklicher als eine Frau mit Bart? Jamala!
Am 15. Mai 2016 begann im russischen Fernsehen eine wahre Hysterie, an der man gut erkennen kann, wie eng der hybride und der echte Krieg verflochten sein können. So hat es nicht lange gedauert, bis die russischen Medien von einem Kalten Krieg und dem Sieg der Politik über Kunst sprachen und schnell wussten, dass Jamala nur gewonnen hat, weil bei der Jury „Jemand aus dem Weißen Haus angerufen hat“. Die russische Jury gab Jamala zwar selbst null Punkte, (wobei sehr wahrscheinlich ist, dass unter ihnen die gleichen Leute waren, die ihr 2009 die höchste Punktezahl zehn gaben und stehend applaudierten), die Medien in Russland beklagten aber, dass die ganze Jury-Abstimmung politisch und antirussisch war. Russische Journalisten wollen herausgefunden haben, dass Jury–Mitglieder aus NATO-Ländern Russland hauptsächlich null Punkte gaben, während Jamala von ihnen meistens besser bewertet wurde.
Wenn man berücksichtigt, wie viele heterogene Länder, Personen und Interessen beim ESC teilnehmen, dann ist eine solche Interpretation von Jury-Bewertungen richtig irre, aber sie dominiert die russische Berichterstattung vollkommen. Sie ist komplett in der Logik des hybriden Krieges gehalten – denn es ist genau die gleiche Geschichte, die Putins Propagandisten seit 2014 erfolgreich im Sinne der Doktrin von General Gerassimow einsetzen: Nicht ukrainische Bürger haben Janukowytsch gestürzt, sondern Pentagon und die Nato. Beim ESC 2016 hieß es dementsprechend: Nicht Jamala kann wie eine Gewinnerin singen, sondern das Weiße Haus hat bei der Jury angerufen.
Das Problem ist, dass dieser Schalplatte, die alle bereits so gut kennen, direkte und indirekte Drohungen folgen. Von der russischen verzerrten Wahrnehmung bis zu möglichen militärischen Konsequenzen ist nur ein Schritt. So sagte der russische Abgeordnete Konstantin Kossatschjow, dass durch Jamalas Sieg der Minsker Frieden womöglich gefährdet ist. Der Oberpropagandist Solowjow ging viel weiter, und meinte schlicht, dass für die Ukraine es deshalb nicht einfach sein wird, ein guter Gastgeber im Jahr 2017 für ESC zu sein, weil „Niemand weiß, ob es bis dahin eine Ukraine noch gibt.“ Er, Solowjow, hält es für denkbar, dass „die Grenze Neurusslands im kommenden Jahr bei Polen ist.“
Wäre das Ganze nicht so ernst, hätte man bei solchen Sätzen auch lachen können. Hybrider Krieg in den Medien kann darin erkannt werden, dass sie anstatt zu informieren gezielt Hass schüren und mehr oder weniger direkt zu Handlungen aufrufen, die Menschenleben kosten können.
Solche Reaktionen auf Jamalas Sieg machen eines sehr deutlich: Während russische Politiker und Medien sich darüber beklagen, dass es in Europa keine Grenzen zwischen Politik und Kunst mehr gibt, beweisen sie durch ihre eigenen Äußerungen, dass es für sie keine Grenze mehr zwischen Kunst, Politik und Krieg existiert. Ihre Wut aber ist die Wut derjenigen, die Schuld auf sich geladen haben und sich dann im Spiegel sehen müssen.
Denn in einem Aspekt ist Jamalas Auftritt für Russlands Gesellschaft von besonderer Bedeutung: Das Lied konfrontiert die Russen mit einem Thema, mit dem sie überhaupt nicht umgehen können, nämlich mit der Schuldfrage. Die Tataren können symbolisch für alle unschuldig Deportierten stehen: In fast jeder russischen Familie gibt es Menschen, die während des Stalin-Regimes in Schauprozessen als Trotzkisten, Nationalisten, Kollaborateure usw. ihre 25 Jahre oder gleich die Todesstrafe bekommen haben. „1944“ ist für das heutige russische Regime in Wirklichkeit noch schwerer zu verdauen, als wenn Jamala direkt über „2014“ gesungen hätte – davon zeugt der Umgang der russischen Medien mit dem Thema des Liedes. Es wurde beispielsweise vor dem ESC-Finale im russischen Fernsehen erklärt, dass Jamalas Lied „von Menschen handelt, die unterwegs auf der Suche nach einem besseren Schicksal sind.“ Gleich nach Jamalas Sieg traten russische Historiker auf, die man als „Deportationsversteher“ bezeichnen muss: Ein gewisser Armen Gasparian erklärte zum Beispiel, dass wegen der Kollaboration der Krimtataren mit der Wehrmacht die gesamte nicht-tatarische Krim-Bevölkerung auf sie so wütend war, dass man die Krimtataren 1944 deportieren musste, um sie zu retten…
Bei solchen „Erklärungen“ stößt aber selbst die russische Propaganda-Maschine an ihre Grenzen. Jeder in Russland, der nicht den Medien oder solchen „Historikern“ blind glaubt, sondern auf den eigenen Verstand hört, wird sich beim Lied „1944“ die Schuldfrage notwendig stellen müssen. Sie lautet: Bin ich stolz auf Stalin und die die Deportation durchführenden NKWD-Schergen oder habe ich Mitleid mit den Opfern? Es gibt Hinweise darauf, dass diese Frage in Russland eben nicht gestellt wird, sondern dass die Notwendigkeit, sie zu stellen, viele zu wütenden Reaktionen verleitet. Die russische Wut auf Jamala ist somit das Stalinismus-Barometer der russischen Gesellschaft.
„1944“ stellt somit allen Russen eine konkrete und eine allgemeine Schuldfrage. Die konkrete ist: Mit wem soll man solidarisch sein: mit dem NKWD oder den unschuldig Deportierten? Die allgemeine, viel wichtigere Frage lautet: Verfallen Russen dem blinden Stolz auf alles Russische oder pflegen sie doch die längst überfällige Erinnerung?
Auch für die Ukraine ist Jamalas Sieg von großer vor allem symbolischer Bedeutung. Dass im Jahr 2017 Künstler aus vielen europäischen Ländern in der Ukraine zur Gast sein werden, bedeutet ein Stück Verwirklichung des Maidan-Slogans „Die Ukraine ist Europa“. Darüber hinaus hat Jamalas Herkunft sowie ihre Rolle in der ukrainischen Gesellschaft ebenfalls etwas mit europäischen Werten zu tun: Es ist ein gutes multikulturelles Zeichen, dass die Ukraine beim ESC ausgerechnet durch eine Krimtatarin vertreten wurde, dass die krimtatarische Kultur in der heutigen Ukraine nicht als eine fremde empfunden wird und dass viele Krimtataren wiederum – wie Jamala – ukrainisch sprechen. Obwohl Jamala für viele in der Ukraine in mehrfacher Hinsicht eine kulturelle „Andersheit“ darstellt – sie ist keine Christin, keine Slawin und war vor kurzem noch russischsprachig -, ist sie für die meisten eine wahre Vertreterin ihres Landes. Durch ihre Rolle in der ukrainischen Musik verkörpert sie für das Land eine gelungene kulturelle Balance zwischen dem ukrainischen „Eigenem“ und dem krimtatarischen „Fremdem“. Während der Satz „Die Ukraine ist Europa“ bei den Politikern oft im Bereich der Absichtserklärungen geblieben ist, ist er dank Jamala im kulturellen Bereich ein Stück Realität geworden.
Auch in einem anderen Aspekt ist ihr Auftritt für die Ukraine ebenfalls sehr wichtig: Das Land wurde nicht nur von einer außergewöhnlichen Musikerin vertreten – ihr ist am 14. Mai 2016 neben guter Musik in gewisser Hinsicht eine musikalische Negation der Krim-Annexion gelungen.
Es bleibt wahr, dass sie mit „1944“ vor allem die Geschichte ihrer Familie erzählen wollte. Es ist aber ebenso wahr, dass das Lied von Allen in der Ukraine als ein Lied über die Annexion rezipiert wurde. Und nach Jamalas Sieg herrscht im Land das Gefühl: Man hat die Krim militärisch verloren, aber musikalisch zurückerobert. Davon spricht sehr deutlich auch die Vorgeschichte des Liedes.
Die russische Krim-Annexion wurde bekanntlich in Russland und auf der Krim im März 2014 durch den Slogan „Die Krim ist unser“ begleitet. Es gibt eine Aufnahme aus dem Jahr 2015, wo Jamala die Arbeitsversion von „1944“ singt. Sie singt es auf ukrainisch (!), der Titel (auf krim-tatarisch) kann eindeutig als eine Antwort auf das russische „Die Krim ist unser“ identifiziert werden: Es heißt „Bizim QIRIM“ – „Unsere Krim“. Für Krimtataren und Ukrainer ist das Lied deshalb – inhaltlich und sprachlich – eine Negation der Annexion.
Für Russen ist das hybrider Krieg in reinster Form: Eine Krimtatarin singt „Unsere Krim“ auf Ukrainisch, übersetzt es dann ins Englische, benennt es in „1944“ um – und gewinnt damit die Eurovision. Doch laut European Broadcasting Union verstößt die Ähnlichkeit zwischen „1944“ und „Bizim QIRIM“ bzw. die Aufführung des Liedes bereits im Mai 2015 nicht gegen die ESC-Regeln. Die russische Beschwerde im Bezug auf „Bizim QIRIM“ wurde abgewiesen. European Broadcasting Union beschloss zu Recht, dass, weil „Bizim QIRIM“ nur um hundertmal auf Youtube angeklickt worden war, man nicht von einer kommerziellen Veröffentlichung sprechen kann, auch nicht von einem Wettbewerbsvorteil.
Viel wichtiger dabei ist, dass die Ukraine mit diesem Lied tatsächlich keinen hybriden Krieg geführt hat. Es ist undenkbar, dass Jamala im Auftrag von einem Geheimdienst oder einer staatlichen Institution gesungen hat – sie sang tatsächlich darüber, was ihr weh tat. Was aber denkbar ist, dass das Lied etwas mehr als nur die Geschichte ihrer Familie enthält. Da Jamala aus einer Kultur stammt, in welcher Verrat und Unterdrückung – und so wird die Annexion durch die Krimtataren wahrgenommen – nicht verziehen werden, ist es wahrscheinlich, dass sie „1944“ als eine musikalische Antwort auf die militärische Aggression konzipiert hat.
Es ist aber bei vielen Kunstwerken der Fall, dass es dort eine versteckte Botschaft gibt. Eine solche Botschaft bedeutet auf keinen Fall eine hybride Kriegsführung, sondern – in Jamalas Fall – die Negation des Besatzer-Diskurses und seine künstlerische Überschreibung: Aus dem russischen „Die Krim ist unser“ wurde das krimtatarische „Bizim QIRIM“. Gleichzeitig wurde deutlich, wer jene „Fremde“ waren, die auf die Krim 1944 bzw. 2014 gekommen sind und wem die Krim tatsächlich gehört – der Ukraine. Für mich ähnelt Jamalas Auftritt beim ESC 2016 der Aktion vom Roofer Mustang im August 2014, der auf eines der höchsten Gebäude Moskaus kletterte und den Stalin-Stern bzw. Hammer und Sichel mit den Farben der ukrainischen Fahne übermalt hat.
Mustangs Aktion war sportlich und waghalsig, die von Jamala klug durchdacht, künstlerisch anspruchsvoll und in ihrer Wirkung sicher brisanter und nachhaltiger.
Mit „1944“ übertünchte sie für die 200 Millionen, die das Finale von ESC 2016 angesehen und angehört haben, den Chor, der in der Logik des hybriden Krieges agierenden russischen Propagandisten und das russische „Die Krim ist unser“-Mantra. Doch Jamala besiegte die Propaganda der Besatzer nicht etwa mit Gegenpropaganda, sondern mit Musik. Und sie sang dabei nicht gegen Russland, sondern gegen das Vergessen.
Deshalb muss ihr besonders hoch angerechnet werden, dass sie es selbst unter Bedingungen des hybriden Krieges schaffte, dass am 14. Mai 2016 die Kunst und die Erinnerung über Politik und Krieg die Oberhand gewannen.