Der kürzliche radikale Eingriff des ukrainischen Staates in das Funktionieren Russland-basierter sozialer Netzwerke und Webseiten in der Ukraine ist nur einer der sich mehrenden Entwicklungen, welche Ukrainer und Russen immer mehr voneinander entfremden. Dieses Verbot setzt frühere nichtmilitärische Maßnahmen Kiews zur Schwächung der Soft Power, ökonomischer Hebel, Geheimdienstaktivitäten usw. des Kremls im russisch-ukrainischen Konflikt fort. Etliche der ukrainischen Sanktionen gegenüber verschiedenen russischen Akteuren und Strukturen seit 2014, so auch das Verbot der sozialen Netzwerke und Webseiten, sind unter sowohl ethisch-moralischen als auch politisch-pragmatischen Gesichtspunkten kritikwürdig. Vor allem reduzieren die immer neuen Informations-, Handels- und anderen Blockaden Kiews die Kontakte und den Austausch von Ukrainern mit Staatsbürgern Russlands, die nicht in Moskaus verdeckten Krieg gegen die Ukraine involviert sind und diesen womöglich sogar verurteilen. Sie vermindern damit auch ukrainische Soft Power in Russland und behindern Kommunikation mit möglichen Bündnispartnern dort. Oft ist nicht klar, ob und inwieweit diese ukrainischen Maßnahmen tatsächlich einen Effekt im Sinne der offiziellen Argumentation und Rechtfertigung ihrer Einführung haben. So erschwert z.B. die Behinderung von Russland-basierten Netzwerken und ähnlichen Diensten nun auch die Kommunikation zwischen Ukrainern in und außerhalb der Ukraine, wobei der Nutzen der leicht umgehbaren Webblockade für die Abwehr russischer Einflussnahme strittig ist. Wie auch bei früheren ähnlichen Maßnahmen steht die ukrainische Führung sowohl im In- als auch Ausland unter mehr oder minder berechtigter Kritik von Politikern, Bürgerrechtlern, Experten, Diplomaten usw.
Die Zweckmäßigkeit und Berechtigung der sich häufenden ukrainischen Verbote und Sanktionen wirft immer öfter die Frage nach ihrer tatsächlichen Funktion auf, zumal das westliche Vertrauen in den Reformwillen der Poroschenko-Administration sinkt. Dennoch bleibt das Grundproblem der Durchführung bzw. Unterlassung dieser Maßnahmen bestehen – nämlich die Frage, wie sich ein Staat unter Bedingungen prononciert hybrider Kriegführung verhalten soll. Anders als in klassischen Kriegen, die freilich auch mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen werden, besteht der entscheidende Trick der russischen fortgesetzten „nichtlinearen“ Attacke auf den ukrainischen Staat auf weitestmöglicher Umgehung oder zumindest Verschleierung der Anwendung roher Waffengewalt. Dies ist vermutlich ein Vorgehen, das einerseits aus freien Stücken und andererseits gezwungenermaßen vom Kreml gewählt wurde. Zum einen ist der ukrainische Staat sowohl von seiner Verfassung und seinen Ressourcen her als auch bezüglich seiner internationalen Einbettung und Außendarstellung Russland derart unterlegen, dass sich eine Vermeidung riskanterer militärischer Interventionen und stattdessen eine hochaktive Nutzung nichtmilitärischer Instrumente zu seiner Untergrabung anbietet. Hinzu kommt, dass Russland und die Ukraine durch ihre lange gemeinsame Zugehörigkeit zunächst zum Zaren- und später zum Sowjetreich bis heute eng miteinander verbunden bleiben. Die Vielfalt an weiterhin existenten Kanälen zwischen den beiden kriegführenden Ländern offeriert dem Kreml eine breite Palette an Einflussmöglichkeiten, Hebelkräften und Spielwiesen, welche vom Westen häufig nur unvollständig erkannt und verstanden werden.
Zum anderen soll mit der Konzentration auf nichtmilitärische psychologische, ökonomische, kulturelle, informationstechnische usw. Kriegführung – neben der fortgesetzten low-intensity warfare im nur scheinbar eingefrorenen Konflikt im Donezbecken – der Fakt eines fortgesetzten Krieges in Europa und der russischen Verantwortung für ihn möglichst weit heruntergespielt werden. Diese Gratwanderung des Kremls ist unter anderem durch die weiterhin enge Vernetzung der russischen Wirtschaft mit dem Westen und damit zusammenhängender Verwundbarkeit gegenüber westlichen Sanktionen bedingt. Auch muss sich die Kremlführung aufgrund der Unpopularität eines etwaigen offenen Angriffs Moskaus auf ein Brudervolk in der russischen Bevölkerung zurückhalten. So besteht für den Kreml das größte Risiko eines auch in Russland allmählich um sich greifenden Verantwortungsgefühls für den Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs am 17. Juli 2014 nicht so sehr in daraus resultierender nationaler Scham für diese offenbar unbeabsichtigte Massentötung. Noch problematischer wäre an einer breiten russischen Anerkennung von Moskaus Schuld für dieses Verbrechen, dass damit auch zugegeben werden müsste, dass die russische Armee bereits im Juli 2014 mit schwerer Militärtechnik auf ukrainischem Staatsgebiet präsent war. Dies würde die auch im Westen bislang erstaunlich erfolgreiche Mär vom Bürgerkrieg, in den sich Russland erst später und quasi gezwungenermaßen eingemischt habe, untergraben.
Vor diesem Hintergrund instrumentalisiert der Kreml eine Vielzahl nichtmilitärischer Mittel, Strukturen und Institutionen zur Unterwanderung, Diffamierung und Frustrierung der Ukraine – von supermodernen Informationstechnologien über massive Propagandakampagnen im Stile der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts bis zu traditionellen Institutionen, wie der Russischen Orthodoxen Kirche. Der Kreml benutzt hier zudem ganz offensichtlich die KGB-erprobte Methode der „reflexiven Kontrolle“, mittels derer der Gegner zu Handlungen provoziert bzw. sogar getrieben werden soll, die letztlich eher dem Kreml als dem Aggressionsopfer nützen. Ein Beispiel war die Nominierung einer behinderten russischen Sängerin für den Kiewer Eurovisionswettbewerb 2017, obwohl der Kreml wusste, dass dieser Sängerin aufgrund eines früheren Auftritts auf der besetzten Krim und des damit zusammenhängenden illegalen Grenzübertritts der Sängerin auf ukrainisches Staatsterritorium vermutlich die Einreise in die Ukraine verweigert wird. Kiew sah sich zur Aufrechterhaltung seiner offiziellen Position zur Krim-Annexion tatsächlich gezwungen, der Sängerin die Teilnahme am internationalen Wettbewerb in Kiew zu verweigern, und etliche internationale Medien sowie andere Beobachter verurteilten mehr oder minder stark die ukrainische Führung für ihr scheinbar diskriminatorisches Verbot. Sowohl die Reaktion der ukrainischen Führung, als auch die Reflexe etlicher „unbeteiligter“ Beobachter waren ganz offensichtlich vom Kreml gewollt. Solche Operationen und diese Ergebnisse stellen die Idealvariante russischer „aktiver Maßnahmen“ dar.
Wann, wo, wie und inwieweit der ukrainische Staat auf die diversen russischen Unterwanderungsaktionen reagieren soll, ohne mit seinen Gegenmaßnahmen noch größeren Schaden anzurichten, ist daher eine Frage, die sich in Kiew fast täglich stellt. Eine zielführende Fällung und Durchführung entsprechender Entscheidungen wird dadurch verkompliziert, dass die Qualifikation vieler ukrainischer Staatsbeamten – vor allem aufgrund der niedrigen staatlichen Gehälter – zu wünschen übrig lässt. Hinzu kommt, dass solche Kontraaktionen teils auch innenpolitischen Dynamiken folgen und manchmal eher Ausdruck von öffentlichen Patriotismuswettbewerben als von Implementierung wohldurchdachter Gegenstrategien darstellen. Das Anheizen solcher innenpolitischen Spannungen, nationalistischen Überhöhungen und emotionaler Diskussionen ist im Sinne des Kremls. Bleibt zu hoffen, dass die Ukrainer einen kühlen Kopf behalten und sich trotz des fast täglichen Blutzolls des Krieges nicht zu weiteren Überreaktionen verleiten lassen.
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