Die alte neue politische Arithmetik


Ich wollte nicht vorher schreiben, bevor die Opposition sich hinsichtlich der Anfechtung der Wahlen festgelegt hat. Ich hatte aber keine großen Zweifel bezüglich dieser Entscheidung: Die Opposition hat ihre Mandate nicht abgegeben.

Jetzt kann man sicher sagen, dass kein Wunder geschehen ist. Die Opposition hat das gemacht, was man von ihr erwarten konnte.

Wie funktionieren ukrainische Parteien

Was man genau von der Opposition erwarten konnte, haben mir letzte Woche wissende Leute in Kyjiw eindringlich erklärt. Anbei versuche ich ihre Erklärung in eigene Worte zu fassen. Nur in unserer aktiven Fantasie gelten ukrainische Parteien als wahre Parteien mit einem Führer, einer Vision und Programmen. In der Wirklichkeit ist die Rolle und die Struktur der Parteien anders. Sie entspricht der allgemeinen Tendenz der ukrainischen Politik, in der Business und Politik zusammenwachsen. Jede Partei hat also ihre Frontmänner, ihre charismatischen Führer. Sie sind dazu da, um uns, die ukrainischen Wähler, in ihr Elektorat zu locken. Überwiegend sind es fünf bis zehn Namen an der Spitze der Parteiliste. Wir sehen sie in den Sendungen von Schuster oder Kisseljow, lesen über sie in Zeitungen oder Zeitschriften. Sie bieten Losungen und sagen die richtigen Worte, sie entscheiden aber wenig.

„Entscheidungen“ treffen die sogenannten „Stakeholders“, nämlich die Geldsäcke der Partei. Sie investieren in die Partei und sorgen dafür, dass andere ebenfalls in diese Partei investieren, behalten aber das Mehrheitspaket der Aktien.

Es gibt noch eine dritte Gruppe der Parteiführer, nämlich die sogenannten Parteimanager. Sie sorgen dafür, dass Parteigelder gut und effizient investiert werden und maximale Wirksamkeit bei den Wahlen bringen.

Die zweite und dritte Kategorie findet man nach den Rängen fünf bis zehn der Parteiliste.

Danach kommt das „Fußvolk“ der Partei, nämlich die, die aus unterschiedlichen Gründen ins Parlament wollen: Die einen wollen aus ehrlichen, ideologischen Überzeugungen hin, die anderen wollen politische Immunität und Schutz.

Wenn man diese Struktur durchblickt, ist es einfacher zu verstehen, warum die Opposition sich gegen die Annullierung der Listen entschieden hat. Die Stakeholders haben nicht (und konnten nicht) zugestimmt. Sie haben bereits einmal die Wahlkampagne bezahlt. Wozu zusätzliche Ausgaben? Laut Handelssprache würde es bedeuten, eine Ware zweimal zu bezahlen. Kein Geschäftsmann würde sich auf so einen Deal einlassen.

Der Vorschlag des Frontmannes Hryzenko war mit keinem abgestimmt, vor allem nicht mit den Parteiführern Jazenjuk, Klytschko oder Tjahnybok. Die Rolle dieser Parteiführer besteht in Vermittlung: Sie koordinieren die Interessen aller internen Parteigruppierungen und sorgen für eine gewisse Balance zwischen ihnen. Sonst drohte der Partei der Zerfall. Es ist übrigens das Schicksal aller Parteiprojekte unter der Leitung von Juschtschenko: Er war ein zu schlechter Vermittler, um sich die Hände mit solchen „Kleinigkeiten“ schmutzig zu machen, da er eine faule und prahlerische Person ist. Andererseits ist der Spitzname eines der wichtigsten Oppositionsführer „Geld zuerst“.

Reserven für die Veränderung

Dieses Schema ist eine postsowjetische Kreation. Sie ist allerdings charakteristisch, sowohl für die Regierungsparteien als auch für die Opposition. Obwohl sich in der Beschreibung die russischen Wörter („kryscha“-„Absicherung“, „roswodjashyj“-„Vermittler“) nicht vermeiden lassen, ist dieses Schema weder komplett russisch noch von der russischen Politik geliehen. Im Unterschied zu Russland, sind die Wahlergebnisse in der Ukraine nie im Voraus bekannt, die ukrainischen Parteien müssen tatsächlich um ihre Wähler kämpfen. Deshalb gibt es zumindest gewisse Chancen, dass dieses System nicht ewig dauern wird. Der ukrainische Wähler hat genug von der Unveränderbarkeit der Politik während sich die Elite permanent verändert. Er ist nicht dumm und versteht, dass unabhängig von den Ergebnissen eine einzige Sache unverändert bleibt, nämlich die Hoffnungslosigkeit. Deswegen wählt er entweder aus Angst das „kleinere Übel“ oder verkauft einfach seine Stimme für 100 – 200 Hrywnja, was auch eine rationale Entscheidung ist: Falls sich in der Politik eh nichts ändert, kann ich zumindest daran verdienen.

Es gibt allerdings eine Kategorie der Wähler, die Veränderung wollen und so wie es aussieht, wächst sie. Es sind Wähler, die sich bei der Wahl auf Werte beziehen. Sie wollen im Parlament und in der Politik Menschen sehen, die eine gewisse ideologische Grundlage haben und diese verfolgen. Es macht keinen großen Unterschied, welche Werte dies sind – liberal, kommunistisch oder nationalistisch. Hauptsache diese Politiker sagen, was sie denken und tun, was sie sagen (oder zumindest das eine und das andere meisterhafter vortäuschen). Oder sie sollten mit ihrem vieldeutigen Schweigen und ihren Tatenlosigkeit der Hoffnung Ausdruck geben, dass sie anders sind, als Dinosaurier der ukrainischen politischen Szene. Daher kommt der mäßige Erfolg solcher Parteien, wie der Kommunistischen, „Swoboda“ („Freiheit“) und in gewissem Maße (aber nur in ganz gewissem!) von UDAR („Schlag“- die ukrainische demokratische Allianz für Reformen). Ausgerechnet mit diesen Wählern kann man einige, wenn auch sehr vorsichtige Hoffnungen auf die Veränderung des ukrainischen politischen Systems, in Verbindung bringen.

Es gibt aber noch ein ungenutztes Reservoir der Veränderung, nämlich die Jugend, „die gleich alt mit der ukrainischen Unabhängigkeit sind“ (18-24 Jahre). Eine demografische Analyse zeigt, dass mit Ausnahme der westlichen Ukraine, die Jugend bei der Wahl eine sehr niedrige Beteiligung hatte. Es entwickelt sich in der Ukraine bereits zu einer Tendenz, weil es sich von einer Wahl zur anderen wiederholt. Es ist auch verständlich, warum: Junge Leute sind mit der alten Qualität der ukrainischen Politik nicht zufrieden.

Da, wo die Jugend abgestimmt hat, hat sie die meisten Stimmen der Partei UDAR gegeben. Falls sich mehr der Jungen an der Wahl beteiligt hätte, könnte UDAR also bessere Ergebnisse erzielen. Viele junge Wähler haben auch solche Parteien, wie „Ukrajina-Wpered“ („Ukraine Vorwärts“) von Korolewska, die Radikale Partei von Ljaschko, die Grüne Partei, „Ukrajina majbutnjoho“ („Die Ukraine der Zukunft“). Egal, wie wir diese Parteien wahrnehmen, ob als ein einmaliges politisches Projekt oder als deutliche Außenseiter, ihre Unterstützung seitens der Jugend bedeutet, dass sich die Jungen eine neue Qualität in der ukrainischen Politik wünschen.

„Zurück nach Ägypten“ oder Yes, we can?

Ich ende mit zwei Szenen, die ich letzte Woche erlebt habe. Am Sonntag kamen die Politologen aus Lemberg zu einem Treffen mit einem ausländischen Botschafter, der sie gebeten hat, ihm zu erklären, was in der Ukraine passiert. Ich habe sie direkt nach dem Ende des Gesprächs getroffen. Ihre Gesichter waren traurig und ohne Freude. Danach habe ich mich mit dem Botschafter und seiner Umgebung unterhalten. Laut ihren Worten, lief die ganze Analyse der Politologen auf Hoffnungslosigkeit und beinahe Verzweiflung hinaus. Einer der Gesprächspartner hat hinzugefügt, dass in seinem Land solche Leute, wie unsere Politologen, „zurück nach Ägypten“ heißen, es sind die, die Moses in die Wüste folgten und sich permanent beschwerten, wie schwer es sei, und dass man umkehren müsse.

Ein paar Tage davor, in der Nacht der amerikanischen Wahlen, saß ich unter ein paar Dutzend der jungen und jüngeren Leute, die sich um fünf Uhr morgens (!) in einer der Lemberger Kneipen getroffen hatten, um zusammen die Wahlergebnisse zu besprechen. Der Unterschied zwischen den „Leuten am Sonntag“ und den „Leuten am Mittwoch“ war riesig: Die letzteren waren lustig und entspannt, haben versucht, irgendetwas Kluges und nichts Banales zu reden und, ich muss gestehen, ab und zu ist es ihnen gelungen.

Die Ursache ist hier nicht nur der Unterschied im Alter. Es liegt ebenfalls am Objekt der Besprechung. Egal, wie heftig Schufrytsch und andere Regionale versuchen, uns vom Gegenteil zu überzeugen, es gibt wesentliche Unterschiede zwischen den ukrainischen und amerikanischen Wahlen. Sie bestehen alleine schon darin, dass bei letzteren auch zum zweiten Mal jemand wie Obama, nämlich ein dunkelhäutiger Politiker (deutlich „anders“), der vor knapp zehn Jahre kaum bekannt war, gewinnen könnte.

Die Umfragen unter den amerikanischen Wählern zwischen 1987 und 2012 zeigen, dass der amerikanische Wähler auf Werte orientiert ist. Der Schlüssel des Obama-Sieges ist seine Fähigkeit, seine Wähler und vor allem junge Leute, für neue Werte zu mobilisieren.

Um zu siegen, muss sich die ukrainische Opposition verändern. Sie sollte aufhören eine „Politik des Geldsackes“ zu spielen und damit anfangen zu einer „Politik der Werte“ zu gelangen.

Das heißt nicht, dass man vollkommen ohne Geld auskommen kann. Das Geld ist das Blut, das die Funktionsfähigkeit des Organismus sichert. Ohne Geld sind wir schwach. Aber das Geld sollte den Werten untergeordnet sein und nicht umgekehrt. Werte kann man weder verkaufen noch kaufen. Sie sind eine größere Motivation, als der gesamte Reichtum der Welt ist.

Doch solange wir das nicht begreifen, werden wir weiter saure Mienen haben, die ukrainische Opposition wird weiter planlos handeln und die ukrainische Gesamtsituation wird hoffnungslos bleiben.

14. November 2012 // Jaroslaw Hryzak

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Oksana Huss  — Wörter: 1374

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