Auf der anderen Seite der Front
Im vierten Jahr des hybriden Krieges lieben wir es wie gehabt über die auf der anderen Seite der Front Befindlichen zu reden. Über die Moskauer Intelligenz und die Bewohner der russischen Provinz, über die Einwohner von Donezk und die Konformisten der Krim. Über diejenigen, die keine Waffen in die Hand nahmen, von denen keine Aggression ausgeht, doch die auch die Position der Ukraine nicht unterstützen. Noch vor einigen Jahren erschienen sie als normale Menschen, doch jetzt ist es fast unmöglich, mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu finden. Was geht in ihren Köpfen und Herzen vor sich?
Ein Teil der ukrainischen Gesellschaft greift zur Enthumanisierung des Gegners: die feindlich gesinnte Bevölkerung wird zu einem Haufen degenerierter und bösartiger Orks erklärt, denen alles menschliche fremd ist. Das ist der Weg des geringsten Widerstandes. Von der Sache her unterschreiben wir unsere eigene Schwäche, indem wir die Russen und die Anhänger der Russischen Föderation in den besetzten Gebieten dämonisieren. Unser Wille zum Kampf ist nicht stark genug, um den gleichen Menschen wie uns selbst Böses zu wünschen, und wir überzeugen uns davon, dass es keine Menschen auf der anderen Seite der Front gibt. Dieser verlockende Weg ist nicht für diejenigen geeignet, die vor dem Krieg eng mit Russland oder den abgetrennten Regionen verbunden waren. Die eigenen Verwandten und enge Bekannte, die Kollegen von gestern, Freunde aus Kindheit und Jugend, werden nicht zu den Orks gezählt. Es hilft eine andere Erklärung: diese Leute sind von der Kremlpropaganda zu Zombies gemacht worden. Sie sind gleich der verzauberten Prinzessin, die man wecken kann und sollte. Wenn der verlogene Putinsche Rausch verfliegt, werden sie die Realität erkennen und den ukrainischen Standpunkt einnehmen.
Nun, beide Versionen – die Orks und die Zombies – bauen auf einer Voraussetzung auf. Es wird davon ausgegangen, dass die Interessen der gewöhnlichen Leute übereinstimmen und das bedeutet, dass auf der Seite des Feindes entweder Unmenschen oder desorientierte Opfer der Propaganda sein können. Es ist schwerer zuzugeben, dass die Interessen der einfachen Leute, die in vielem einander gleichen, sich auch kardinal unterscheiden können.
Bis 2014 war die Krim kein Stolperstein zwischen Ukrainern und Russen. Auf der Halbinsel kamen sehr verschiedene Menschen miteinander aus, der gewöhnliche Bürger der Russischen Föderation kümmerte sich nicht um sie, und die Propaganda-Hysterie um „die Krim ist unser“ wurde künstlich erzeugt. Doch nach der Annexion haben wir ein Nullsummenspiel erhalten, in dem der Gewinn des einen gleichbedeutend mit der Niederlage des anderen ist. Der Anschluss der Krim hob das Selbstwertgefühl des russischen Normalbürgers auf Kosten der Erniedrigung der Ukraine und der Ukrainer an und ein erzwungener Verzicht der Russischen Föderation auf die Krim-Trophäe erhöht unser Selbstwertgefühl auf Kosten der Erniedrigung des russischen Normalbürgers.
Noch klarer zeigt sich dieser Antagonismus auf der Halbinsel selbst. Für den einen Teil der Krimbewohner ist jeder Tag der Annexion ein unerträglicher Schmerz. Das bedeutet Emigration oder Leben mit Unterdrückung, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, Angst um Nahestehende, Angst um den Verlust des Wertvollsten. Doch der andere Teil der Krimbewohner hat sich an die neue Realität im Alltag angepasst. So sind die im öffentlichen Dienst Beschäftigten zu passiven Verbündeten des russischen Staats geworden, sogar wenn diese Leute insgesamt völlig apolitisch sind. Und die Rückkehr der Halbinsel in die Ukraine wird tatsächlich für sie zu einem schmerzhaften Schlag. Bis 2014 war die Krim kein Hindernis. Doch jetzt ist sie zu einem geworden.
Der Konflikt, der von Herrn Putin aus heiterem Himmel geschaffen wurde, hat eine Vielzahl von Schicksalen ergriffen und ein Eigenleben entwickelt. Und wenn morgen der verhasste Wladimir Wladimirowitsch entfernt würde, könnte die Konfliktsituation nicht einfach wieder zurückgedreht werden. Daher rührt das plumpe Geeiere der russischen Opposition, die Diskussion darüber, dass die Halbinsel „kein belegtes Brot sei“, vom „fairen wiederholten Referendum“ und so weiter … Die russische Demokratie versucht eine Kompromissvariante zu finden, die in gleichem Maße alle zufrieden stellt.
Doch es gibt keine derartige Variante und es kann sie auch nicht geben. Zu viele Menschen wurden in das Nullsummenspiel hineingezogen. Vor uns liegt das harte Gesetz der Geschichte. Kriegen werden oft mit einem imaginären Interessenkonflikt begonnen, der lediglich in den Köpfen der herrschenden Schicht und durchgeknallter Propagandisten existierte. Doch diesen beginnend, wächst der Krieg sich zu einem realen Interessenkonflikt zwischen einer Vielzahl gewöhnlicher Bürger aus, unabhängig von ihrer politischen Position oder des Fehlens einer solchen.
Stellen wir uns den Angriff der britischen Luftwaffe auf Hamburg 1943 vor. Am Steuer des Bombers sitzt der Pilot John Smith. Er mag Hitler nicht und möchte ein schnelles Ende des Krieges. Unten versuchen der weit denkende Doktor der Philosophie Johann Schmidt mit Frau und Kinder in einem Bombenschutzkeller zu verstecken. Er mag Hitler ebenfalls nicht und möchte ebenso, dass der Krieg so schnell wie möglich endet und nichtsdestotrotz weichen seine Interessen kardinal von denen des Piloten ab.
Der Brite will der Stadt den größtmöglichen Schaden zufügen. Aus seiner Sicht ist der Tod des deutschen Doktors mit seiner Familie in den Flammen ein zulässiger Preis dafür, um den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und das Ende des Krieges zu erreichen. Doch aus der Sicht Herrn Schmidts ist das absolut unannehmbar. Sein Interesse besteht darin, dass der Schaden durch den britischen Luftangriff im einzeln herausgenommenen Hamburg minimal ist. Nicht deshalb, weil er von der Goebbelschen Propaganda zu einem Zombie gemacht worden wäre, sondern daher, dass er ein lebendiger Mensch ist. Die Bürger der Ukraine und der Russischen Föderation, die Einwohner Kiews und Donezks können sich im Privatleben nicht sehr voneinander unterscheiden. Doch diese Übereinstimmung bedeutet nichts, wenn die Rede von der Annexion der Krim, der Antiterroroperation, den antirussischen Sanktionen und anderen Realien der hybriden Konfrontation geht.
In jedem Fall zeigt sich, dass irgendjemandes objektives Interesse, dem eines anderen entgegensteht. Der apolitische Donezker Einwohner ist daran interessiert, dass sein Alltag nicht von den Kriegshandlungen betroffen sein wird, sogar wenn dies die Deokkupation der Region ausschließt. Der russische Geschäftsmann ist an der Aufhebung der Sanktionen interessiert, darunter um des Preises der Verletzung internationalen Rechts und des Verrats der Ukraine durch die westlichen Partner. Der Ukrainer, der in Erwartung hybrider Schläge durch den Kreml lebt, ist an einer maximalen Schwächung der russischen Wirtschaft und Problemen innerhalb der Russischen Föderation mit unvermeidlichem Leiden von Millionen von Russen interessiert. Die Einwohner Russlands sind von einer derartigen Perspektive aus verständlichen Gründen nicht begeistert.
Die Mehrzahl der auf der anderen Seite Befindlichen sind keine Ausgeburten der Hölle, keine böswilligen Entarteten, keine blutrünstigen Orks. Doch auch keine verzauberten Prinzessinnen, die man aus dem Propagandatraum mit einem kräftigen ukrainischen Kuss holen kann. Auf der anderen Seite der Front sind Millionen gewöhnlicher Menschen, die in einen Interessenkonflikt mit gewöhnlichen Ukrainern gezogen wurden. Ein Konflikt, der bereits aus dem Propagandabereich in den der alltäglichen Realität übergetreten ist und daher nicht mehr schmerzlos für beide Seiten gelöst werden kann. In einem Nullsummenspiel gewinnt immer nur einer allein.
20. Oktober 2017 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda