Andreas Umland: Die semipräsidentielle Zeitbombe unter dem ukrainischen Staat


Die heutige ohnehin angespannte innen- und außenpolitische Situation in der Ukraine durch kostspielige und vermutlich schmutzige Präsidentschaftswahlen zusätzlich zu belasten, ist riskant schreibt Dr. Andreas Umland für die Internetausgabe des Kyjiwer Wochenmagazins “Korrespondent”.

Die jüngsten Verhandlungen zwischen Julia Timoschenko und Wiktor Janukowitsch hinsichtlich einer Verfassungsänderung und Nichtdurchführung der Präsidentschaftswahlen 2010 hingen mit der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise in der Ukraine zusammen. Im Moment ist noch schwer abzuschätzen, welche genauen gesellschaftlichen Folgen der rapide Rückgang der Industrieproduktion und die Zuspitzung des Verhältnisses zu Russland bezüglich der Zahlungen für Gaslieferungen haben wird.

Allerdings scheint schon jetzt klar, dass die Periode der relativ positiven Entwicklung der Ukraine im neuen Jahrhundert für erste zu Ende ist. Die Krise wird wesentliche wirtschaftliche und soziale wie auch politische Folgen haben. Daher erscheint es riskant, die heutige ohnedies angespannte innen- und außenpolitische Lage in der Ukraine durch kostspielige nationale Wahlen und einen wahrscheinlich schmutzigen Präsidentschaftswahlkampf weiter zu verschärfen.

Die Unzweckmäßigkeit der Durchführung von Präsidentschaftswahlen wird schon daran deutlich, dass diese Wahlen für die Ukraine nicht lebensnotwendig sind. Das Land hat sowohl ein gewähltes Parlament als auch eine Regierung sowie eine Regierungschefin. Die Legitimität dieser Organe ist relativ frisch: die jetzige Verchovna Rada (der Oberste Rat, d.h. das Parlament) wurde vor lediglich zwei Jahren gewählt. Viele moderne Staaten – unter ihnen auch einige der erfolgreichsten Länder der Welt – kommen ohne das Amt eines direkt vom Volk gewählten Präsidenten aus.

Die Kontrolle über die Exekutive unter verschiedenen politischen Kräften aufzuteilen, so wie Wiktor Janukowitsch dies offensichtlich wünscht, ist auch in einer parlamentarischen Republik möglich. Sogar in den als am demokratischsten geltenden Staaten der Welt, ist eine Beteiligung des Volkes zur Erreichung dieses Ziels nicht notwendigerweise vorgesehen. Die Macht untereinander zu verteilen, ist Aufgabe der Fraktionsvorsitzenden, deren Parteien die meisten Stimmen bei den Parlamentswahlen erhalten haben. Wie genau man dies in einer heutigen repräsentativen Demokratie erreicht, ist eine Entscheidung, die nicht unbedingt der Wähler, sondern auch die politische Elite treffen kann.

Zum Beispiel könnte der Präsident, wie dies im veröffentlichten Verfassungsreformentwurf von Anfang Juni 2009 vorgeschlagen wurde, nicht vom Volk sondern von zwei Dritteln der Abgeordneten der Verchovna Rada gewählt werden. Dies stellt eine der Optionen einer bewussten Aufteilung von Exekutivmacht unter den führenden politischen Kräften des Landes dar. Obwohl diese – neben dem/der Vorsitzenden des Ministerrates – zweite von der Verchovna Rada ernannte Führungsfigur als “Präsident” bezeichnet würde, wäre das daraus resultierende politische System ein grundsätzlich anderes als das heutige.
Als Quelle der Legitimität und Grundlage der Machtgewalt sowohl dieses “Präsidenten” wie auch des Ministerpräsidenten würden in einem solchen System Parlamentswahlen und -fraktionen fungieren. Das heißt, dass, obwohl an der Spitze des Staates wieder ein “Präsident” stünde, diese neue Republik dennoch eine rein parlamentarische und nicht eine neue Version jenes gemischten Systems, das bislang in Kraft ist, wäre. Präsident und Premierminister würden sich auf die Abgeordneten der Verchovna Rada stützen und wären gezwungen, sich sowohl mit den parlamentarischen Gruppierungen sowie Ausschüssen als auch miteinander abzusprechen.

Die Rivalität zwischen Präsident und Ministerpräsident würde, falls diese unterschiedlichen Parteien angehören, zwar ohne Zweifel weiterbestehen. Da beide Seiten aber voneinander abhängig wären, fänden die destruktiven Konfrontationen zwischen den zwei unterschiedlich legitimierten Regenten bzw. beiden konkurrierenden Machtzweigen der letzten Jahre ein Ende. Heute existiert zum Beispiel in Deutschland eine sog. Große Koalition, die in einer Regierung sich ansonsten bekämpfende Rechtszentristen einerseits und Sozialdemokraten andererseits zusammenfasst. Obwohl die deutsche Kanzlerin und Vorsitzende der CDU Angela Merkel und der Vize-Kanzler sowie Kanzlerkandidat der SPD Frank-Walter Steinmeier direkte Rivalen bei den kommenden Bundestagwahlen im September 2009 sind, läuft die Arbeit der Regierung der BRD mehr oder weniger reibungslos ab.

Die in der Ukraine hinreichend demonstrierte Dysfunktionalität semipräsidentieller Systeme insbesondere in Transformationsgesellschaften wird durch die moderne politologische Forschung bestätigt. 2008 z. B. veröffentlichten der irische Professor für Regierungslehre Robert Elgie und die amerikanische Politikwissenschaftlerin Sofia Moenstrap im Verlag der Universität Manchester den Sammelband “Semi-Presidentialism in Central and Eastern Europe”, welcher wissenschaftliche Analysen führender Fachleute zu den postsowjetischen politischen Systemen in Weißrussland, Bulgarien, Kroatien, Litauen, Mazedonien, Moldowa, Polen, Rumänien, Russland, der Slowakei, Slowenien und der Ukraine vereinigt.
Diese Aufsatzkollektion bestätigt nochmals, worauf bereits viele vorhergehende Untersuchungen jenes politischen Systems, welches die Ukraine nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit im Jahre 1991 übernahm, hingewiesen haben. Die Forschungsergebnisse der verschiedenen Osteuropexperten zusammenfassend, kommen Elgie und Moenstrap zu dem Schluss, dass in jenen Situationen, “in welchen der Semipräsidentialismus eine Rolle spielte […], sein Effekt eher negativ oder zumindest unnütz bezüglich des Demokratisierungsprozesses war. […] Der negative Einfluss von Semipräsidentialismus war besonders offensichtlich in Fällen einer starken Stellung des Präsidenten im semipräsidentiellen System [wie in der Ukraine bis 2005 – A.U.] und in Fällen eines balancierten präsidentiell-premierministeriellen Semipräsidentialismus [wie in der Ukraine nach 2005 – A.U.].” Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass, “solange wie Demokratie noch fragil ist, sollte Semipräsidentialismus jedweder Form vermieden werden”.

Mit den Präsidentenwahlen am 17. Januar 2010 reproduziert die Ukraine ein politisches System, das ihren Interessen auch schaden würde, wenn man es die sich parallel anhäufenden Folgen der Weltfinanzkrise nicht gäbe. Anders ausgedrückt: die Ukraine wird selbst im Fall eines – eher unwahrscheinlichen – Best-Case-Szenarios verlieren. Jüngste Versuche einer politischen Konsolidierung durch Vertreter der wichtigsten politischen Kräfte in Kyjiw zeigen, dass dieses Problem grundsätzlich erkannt ist. In den letzten vier Jahren hat die Ukraine zu anschaulich demonstriert, dass die Erkenntnisse der Politologen zutreffen. Bleibt zu hoffen, dass die Vorsitzenden der Partei der Regionen und des Blocks Julia Timoschenko ihre Verhandlungen wieder aufnehmen und die im besten Falle sinnlosen und im schlimmsten Falle destruktiven Präsidentschaftswahlen im Januar 2010 annulieren.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Korrespondent.net am 15. Juni 2009. Bei der Rückübersetzung aus dem Russischen half Vita Martynyuk.

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