Andrej Kurkow: „Bei uns gibt es 42 Millionen verschiedene Ukrainen“


Andrej Kurkow ist ohne Übertreibung der bekannteste zeitgenössische ukrainische Schriftsteller der Welt. Die neueste literarische Nachricht von ihm ist die Veröffentlichung seines Romans „Die Geschichte von Schengen“. Man übersetzt sie bereits in europäische Sprachen. Unterschrieben sind Verträge für Übersetzungen ins Deutsche – die Erscheinung ist für 2018 geplant –, Französische und Dänische. Ein wichtiger Teil der Arbeit Kurkows ist seine Tätigkeit als Vizepräsident des ukrainischen PEN-Clubs. In dieser Rolle beteiligte er sich an der Lobbyarbeit für die Ukraine als Austragungsort des Internationalen PEN-Kongresses 2017. Das Treffen fand im Anschluss an das Buchforum im Herbst in Lwiw (Lemberg) statt. Kurkow arbeitet außerdem engagiert als Promotor der zeitgenössischen ukrainischen Literatur im Ausland, indem er den ausländischen Verlegern hilft, neue Namen kennenzulernen. So geschah es mit Maria Matios’ „Darina, die Süße“. Im Fokus des vorliegenden Gesprächs stehen die Themen der Verantwortung für die Repräsentation der Ukraine im Ausland, die Herausforderungen der Menschenrechte, die exotische (post-)sowjetische Welt und schließlich das Thema des Lebens der Minderheiten in der Ukraine.

– Sie sind wahrscheinlich der weltweit bekannteste zeitgenössische ukrainische Schriftsteller. Ich vermute, das gibt insgesamt ein Gefühl von großer Verantwortung für die Repräsentation der Ukraine, in den näheren als auch den ferneren Ländern, für die die Ukraine so fern ist wie der Mars.

- Klar, ich fühle diese Verantwortung. Bei der Vorstellung eines neuen Buches ist es normalerweise so, dass man mir mehr Fragen über die Ukraine als über das eigentliche Buch stellt. So ist das schon seit dem Ende der 1990er Jahre. Das hat mich gezwungen, meine literarische Aktivität und die Literatur an sich zugunsten von Politik oder Kommentaren in der lokalen Presse zu unterbrechen. In gewissem Sinne machte das aus mir einen „Übersetzer der Träume“, einen Dolmetscher der Ukraine“.

– Was dolmetschen Sie über die Ukraine, welche Träume lesen Sie? Die Ukraine ist so groß, dass man nicht alles abdecken kann.

- Man kann erzählen, woher alles kommt. Außerdem kann man den Unterschied zwischen uns und unseren Nachbarn und Gegnern erklären, sowohl den historischen als auch den psychologischen.

– Zum Beispiel?

- Die Ukraine hat nie einen eigenen König gehabt, weshalb Ukrainer nicht Monarchisten sein können. „Tradition“ seit dem 15. Jahrhundert ist eher eine Tradition organisierter Anarchie. Ich erinnere an die Kosaken, das Gebiet der entlaufenen Leibeigenen.

Die Ukraine war ein Territorium mit beweglichen Grenzen, einer eigenen Armee, nationalen Wahlen eines Hetman, [also eines obersten Feldherrn] und mit Militärgerichten. Sie war also ein Territorium ohne zivile Verwaltung, ohne Gerichte und ohne eigene Währung. Das Land war eigenständig.

Seit jener Zeit bildete sich eine genetische Respektlosigkeit gegen jedwede Regierung. Eben deshalb begannen sofort nach jeder Wahl eines Hetmans [den man übrigens zum Einstand sogleich mit öffentlicher Verspottung übergoss, Anm. d. Ü.] Intrigen, Provokationen, Geheimkampagnen gegen den neugewählten Führer.

Die Geringschätzung von Gesetzen ist also nicht in einem Vakuum entstanden.

– Spätestens an diesem Punkt fragt der satte und zufriedene europäische Leser, der zu Ihrer Buchvorstellung kommt: „Entschuldigen Sie mal, aber wie kann man bei solchen Ausgangspunkten einen Rechtsstaat bauen?“

- Man kann es. Es gab immer wieder verschiedene historische Filter.

Was jetzt geschieht ist auch so ein historischer Filter. Im Donbass und auf dem Maidan sind sehr sehr viele Hochengagierte umgekommen. Das heißt, es haben sich Menschen herausgefiltert, die bereit sind, zur Waffe zu greifen, da sie mit der Situation unzufrieden sind.

Ein eben solcher, schrecklicher Filter war der Bürgerkrieg nach 1917, über den in der Ukraine sehr wenig geschrieben worden ist. Ferner die sowjetischen Deportationen, der Holodomor, also die künstlich herbeigeführte Hungersnot 1932/33… Die Ukraine explodiert regelmäßig und erhebt sich. Jede Regierung sollte diese historische Explosivität der ukrainischen Gesellschaft bedenken, sie ist sozusagen genetisch. Bei uns fürchtet man die Regierung nicht.

In Russland hingegen hat die Monarchie die Leute gelehrt, die Regierung zu fürchten und zu versuchen, sich unter ihre Fittiche zu flüchten. Daher ist dort zwar ein betrunkener Aufstand möglich, einen nüchternen Aufstand wird es aber nicht geben. Die Langmut kennt in Russland keine Grenzen.

In der Ukraine ist das überhaupt nicht so. Hier war immer die Frage der Grenzen ausschlaggebend. Genau darum ist in der vorsowjetischen Literatur der entscheidende Konflikt der Konflikt zwischen den Grenzen und dem Land. Die Ukrainer haben eine sehr starke Bindung zu ihrem Land.

Das Gefühl für das eigene Stückchen Ukraine wird nie verlorengehen.

– Wegen der Explosivität gibt es die Gefahr, eine gute Regierung nicht zu würdigen, das Kind also gemeinsam mit dem Bad auszuschütten.

- Ja klar, genau deshalb haben jetzt die Menschen, die sich für Radikale halten, die Folgen ihrer Radikalität zu bedenken.

Im politischen Kampf in der Ukraine geht es im allgemeinen selten um die Zukunft, es geht mehr darum, wer an die Macht kommt, und wie lange er sich dort hält.

Aber heute ändert sich das, und dabei hilft uns die eigene geopolitische Lage. Durch sie haben unsere Politiker nicht nur darüber nachzudenken, wie sie sich an der Macht halten, sondern auch darüber, wie sie das am Bestehen erhalten, was jetzt Ukraine genannt wird, und jene in die Schranken der Grenzen zu weisen, über die früher niemand nachdachte. Wir erinnern uns, offizielle Abgrenzungen und Vereinbarungen über die Staatsgrenze mit Russland gibt es bislang nicht.

Das Fehlen der Grenzen haben Krawtschuk, Kutschma, Juschtschenko, Janukowytsch zu verantworten. Niemand dachte, dass gerade dies Putin erlaubt zu denken, dass die Ukraine nicht existiert. In seinen Augen endet Russland an der Grenze zu Polen.

– Aber in der Ukraine schaute das nicht anders aus.

- Klar. Bei uns hat jeder seine kleine Ukraine, und diese ist ein harmonischer Teil der großen Ukraine, die aus eben solchen Teilen besteht.

In ähnlicher Weise kann es für uns so aussehen, dass es auf der Welt sehr intelligente Leute gibt, wenn wir nur mit dem uns umgebenden Zirkel sprechen, der aus intelligenten Menschen besteht. Aber in Wirklichkeit sprechen wir bloß nicht mit anderen Leuten.

Wir haben keine Kontrolle über unsere eigenen Filter. Die Filter des eigenen Zirkels und der Wahrnehmung des Landes kontrollieren uns.

– Wenn wir über Ihre eigene kleine Ukraine sprechen, was sind ihre Grenzen? Bilden Menschen, Küche, Sprache die Landesgrenze?

- Als die Kinder heranwuchsen, fuhren wir mit dem Auto alle Grenzen der Ukraine ab, damit sie verstehen, wo sie leben.

Wie das bei jedem Ukrainer ist, habe ich meinen Anteil am Land, 4000 Quadratmeter. Es gibt noch ein anderes aufgegebenes Grundstück, wohin ich nicht fahre, 1800 und 1000 Quadratmeter, wo man das Haus ständig ausgeraubt hat. Um unsere Datscha und das größere Grundstück sich zu kümmern, helfen uns unsere Nachbarn.

Hier ist mein Garten. Ich glaube, jeder Ukrainer braucht seinen eigenen Garten, um sich wohl zu fühlen.

– Kirschen?

- Eher Äpfel? Oder doch Kirschen, und noch 500 Quadratmeter Kartoffeln.

Im Ernst, die Beziehung der Ukrainer zum eigenen Land ist das, was uns dazu gebracht hat, nicht das Gefühl für einen eigenen Staat zu verlieren. Dass jetzt so viele Ukrainer, die ausgewandert sind, nicht ihr Eigentum verkauft haben, beweist die Existenz einer solchen Beziehung zum eigenen Land.

Wir haben Angst vor einer richtigen Auswanderung.

– Was bedeutet das?

- Dorthin zu gehen, wo es Arbeit gibt, und alles aufzugeben, das impliziert ein Verständnis von dem Ort, wo Du jetzt lebst, als bloß einer Etappe, die Du bereits übermorgen aufzugeben beschließen kannst. Solch ein Leben bedeutet das Fehlen von Eigentum oder die Fähigkeit, seinen Besitz schnell zu kaufen und zu verkaufen.

Du gehst sozusagen in einem beschleunigten Tempo, bei Du nicht darüber nachdenkst, welche Grenzen Du überschreitest oder ob Du nicht am Ende des Lebens in Deine Heimat zurückkehren musst.

– Dieses Gemälde ähnelt sehr dem, wie auf der ganzen Welt Spitzenkräfte leben. Sie wechseln Arbeitsplätze und Länder. Das Bild der Auswanderung als ein gewisses „für immer“, wodurch du anderswo ein ganzes Leben zurücklässt, ist bereits passé. Das ferne „ersehnte Land“ ist bereits nicht mehr so fern.

- Die europäische Migration ist im Wesentlichen beruflich und sehr pragmatisch, sie legt die Begriffe Patriotismus und Territorium ab.

Unsere Migration hielt man traditionell immer für eine Vergewaltigung, man deportiert dich, bringt Dich anderswo hin, schickt Dich irgendwohin, siedelt dich um, und schüttet dein Dorf in das Kyjiwer Meer. Bei uns gibt es eine andere Verbindung zum Land.

– Die Migration könnte ja auch verbunden sein mit Armut, die dazu animierte, freiwillig in ein anderes Land zu ziehen, jenseits des Ozeans, wo es genug Land für alle gibt und wo man durch eigene Arbeit sein Glück machen kann, wo man Eigentum erwerben und es behalten, den eigenen Kindern weitergeben kann.

- Das sind Träumereien. Die Ukrainer sind für das fortgezogen, was sie nicht hatten und was das allgemeine Symbol für Glück war, beispielsweise das eigene Land, ein kleines Grundstück. Genau darum akzeptiert man es bei uns oft, als Wanderarbeiter zu leben, aber man akzeptiert nicht eine wirkliche endgültige Emigration, auch wenn man sie planen und sie insgesamt pragmatisch betrachten kann.

Für ein gutes Leben geht bei uns niemand irgendwohin, aber wegen eines schlechten Lebens reisen sie aus, um etwas zu verdienen und dann wieder zurückzukehren.

Ein hervorragendes Beispiel für diese Mentalität sind die Ungarn, die nicht einmal ins benachbarte Österreich gehen wollen. 95 Prozent von ihnen wollen nicht für lange Zeit in eine schreckliche Welt gehen, wo man nicht Ungarisch spricht.

– Leben in der Ukraine mit einem solchen Gepäck: Traumata, Träume, Siege und Niederlagen, – bedeutet das, ein Träumer zu sein?

- Wir haben einen sehr guten Traum.

Wer träumt am besten? Die Anarchisten! Sie sind passioniert und können sich ein ideologisches Bild ausmalen und erklären, warum gerade dieses besser als alle anderen ist. Darum gibt es bei uns auch 42 Millionen Ukrainen.

Bei allen Russen, Burjaten und Jakuten gibt es das eine Russische Reich, mit einem doppelköpfigen Adler und dem Antlitz eines einstweilen ewigen Zaren. Bei uns weiß niemand, wer bei den nächsten Wahlen Präsident wird. Und niemand ist bereit, einen fernen Nachbarn zu akzeptieren, der nicht der eigenen Ukraine ähnelt.

Wir haben Millionen von Ukrainen, unter denen sich einzelne Gruppen abheben – da sind diejenigen Ukrainen, die verschieden sind, aber auch mehr oder weniger ähnliche. Zum Beispiel gibt es jetzt viele Ukrainer, für die es keine ungarisch- oder russischsprachige Ukraine gibt. Und sie denken nicht nach über das Schicksal von 20 Millionen Menschen. Sie wollen eine Grenze schaffen, die Sprache an die Stelle der Landesgrenze setzen.

– Wenn es 42 Millionen Ukrainen gibt, wie kann man da für eine gemeinsame Sache zusammenarbeiten?

- Ukrainische Politiker müssen viel intelligenter, professioneller und umsichtiger sein als beispielsweise österreichische Politiker.

Ein Hinweis darauf, dass auf dem Grunde der ukrainischen Idee die Anarchie liegt, ist die Tatsache der Existenz von fast 300 politischen Parteien.

– Aber sie sind nicht alle lebensfähig.

Deshalb, weil alles, was man schnell organisieren kann, zur Ware wird. Und viele Parteien haben sich registriert als eine künftig verkäufliche Ware.

Aber es geht nicht darum. Es gibt keine konservativen, demokratischen, liberalen Parteien. Gut, es gibt „Swoboda“, bei ihnen artikuliert sich Ideologie. Aber alle Parteien sind hetmanisch: Ein kleiner Führer, der eine bestimmte Partei gegründet hat, verkauft sie anschließend leicht einem anderen kleinen Führer mit Hilfe von Neuwahlen oder von formellen Versammlungen.

Wenn die Zeit kommt und man sagt, dass alle Parteien nach dem neuem Recht neu registriert werden müssen, nach dem es notwendig ist, eine eigene Parteiideologie zu präsentieren, dann werden sie protestieren, das sei ein Angriff auf die Demokratie.

Demokratie ist für uns Anarchie. Wofür brauchen wir denn nämlich eine Ideologie? Hier in meiner Partei gibt es dieses Gesicht, aber in Eurer Partei jenes Gesicht. Ihr Gesicht ist schöner, und zu Ihnen gehen mehr Jüngere, aber zu mir kommen seriöse, erwachsene Leute. Aber keinen von ihnen werden wir fragen, was für eine Sicht der Ukraine sie haben, oder ob sie überhaupt eine haben.

– Wie kann man ein gemeinsames Dach finden, dass alle Gesichter oder meinetwegen Teile zueinander passen?

- Das einzige Instrument ist: entfernen Sie aus den Parteien die Gesichter. Belassen Sie nur die Ideologie.

- Vielleicht sieht es in den Augen der Polittechnologen und derer, die die Parteien gegründet haben, so aus, dass man den Wählern keine Ideologie verkaufen muss. Besser ist es, stattdessen ein Gesicht zu verkaufen.

- Die Wähler wollen Ideologie, aber sie wird ihnen nicht angeboten. Schauen Sie: In der Ukraine gibt es Territorien, wo die Nachfolger der „Partei der Regionen“ ihren Sieg feiern. Das sind neue Parteien, die sich anders nennen.

In einem normalen Land hätte man in jeder Stadt oder in jedem Dorf, in dem die „Partei der Regionen“ gewonnen hatte, begonnen, Büros anderer Parteien zu eröffnen, um eine neue Wählerschaft zu gewinnen. Jedes Dorf hat seinen „Verrückten“ mit einer aktiven Position, und wenn man ihn Politik machen lässt, geht er in die Politik.

Bei uns aber verstehen sie nicht, mit den Wählern nicht nur während der Zeit vor den Wahlen, sondern eben jeden Tag zu arbeiten. In Großbritannien beispielsweise gibt es in jedem kleinen Dorf Büros der konservativen und liberalen Parteien, und abends werden in einem von ihnen alle politischen Fragen besprochen.

Dort gibt es einen Wasserkocher, Tee und Kekse, das reicht für das Gespräch. So werden die Menschen Aktivisten. Sie unterscheiden sich von den „Aktivisten“, die man bei uns einen Monat vor den Wahlen dingt.

Wir haben kein wirkliches politisches Leben, sondern eine von Parteien finanzierte Imitation. Wenn sich das verändern wird, dann wird man in der Ukraine Ideologie verkaufen und nicht Gesichter.

– Ist in dieser Skizze eine Selbstorganisation der „Verrückten“ zu Aktivisten von unten nach oben möglich?

- Sie haben sich bereits verwandelt. Alle Formen des politischen Aktivismus einschließlich Pogrome kann man organisieren und kanalisieren. Aber sie können nicht immer eine eigene politische Kraft gründen. So hat auch der Maidan keine neuen Parteien geschaffen.

– Sind Sie frustriert?

- Frustriert zu sein ist normal wie ein Kater. Die Frage ist nicht, ob man ihn fühlt, sondern ob man ihn nicht fühlt. Es war nicht so eine Revolution, dass bei ihrem Ausgang sogleich alle glücklich wurden und so bis zu ihrem Lebensende blieben.

Die Ukrainer haben ein anderes emotionales Naturell. Es ist anarchistisch und radikal, zu ihm kommt ein schlechtes Bildungssystem hinzu. Je schlechter das Bildungssystem ist, desto mehr Emotionen, oft noch durch künstliche Anlässe hervorgerufen. Genau deshalb tendiert man bei uns mehr zu „Verrat“ als zu „Sieg“: Die Menschen analysieren nicht, sondern reagieren gleichsam auf Farben.

Wenn ein Mensch eine Lebensaufgabe hat, aus der ihn für eine gewisse Zeit die Revolution herausgerissen hat, dann kehrt dieser Mensch anschließend zu seiner Aufgabe zurück, vielleicht nicht ohne Schwierigkeiten, aber er wird nicht in Verzweiflung fallen.

Ich bin beispielsweise für fünf Monate zu meinem Roman zurückgekehrt, der durch den Maidan unterbrochen wurde. Aber ich bin zurückgekehrt in einen normalen Zustand und habe ihn beendet.

– Lassen Sie uns das weiter oben aufgegriffene Thema der Sprache fortsetzen. Ich nehme an, dass man Sie im Ausland oft zum „Sprachproblem“ befragt. Wie sehr wird für Ihre Leser die Tatsache eines ukrainischen Schriftstellers, der russisch schreibt, Anstoß für eine Diskussion?

- Das interessiert sie nicht besonders. Die Leser verstehen insgesamt nicht den Sprachenkrieg. Die Hälfte der Gesellschaft lebt im Allgemeinen an Sprachgrenzen, wo man um sich herum zwei oder sogar drei Sprachen hört. Gleichwohl liebt man es in der Ukraine das Beispiel Frankreich anzuführen, wo es angeblich nur eine Sprache gibt.

– Aber es ist durchaus nicht so, man kann dort sehr leicht überall chinesisch, türkisch, arabisch hören. Und wenn man ins Zentrum von Paris kommt, dann sprechen da die Touristen und die örtlichen Dienstleister in allen Sprachen der Welt.

- Es geht noch weiter, mit der französischen Sprache hat man zur Zeit Napoleons alle regionalen Sprachen vernichtet, als man in den Schulen begann, den Unterricht und die Unterhaltung in den Pausen zwangsweise ausschließlich auf Französisch durchzusetzen.

– Es scheint so, dass nur das Bretonische gut dasteht.

Es steht schlecht da. Etwas besser hält sich das Baskische. Es reicht nicht, dass man Geld in die Schulbildung, in die Radioarbeit steckt. Auch Bücher in bretonischer Sprache zu verlegen ist sinnlos, weil alle, die bretonisch lesen können, problemlos französisch lesen.

– Wenn wir uns dem Thema der Sprachkriege durch das Prisma der Stärkung der kleinen oder regionalen Sprachen nähern, was für interessante Dinge kann man da notieren? Sie haben bereits das Ungarische erwähnt…

- Bei uns kamen und gingen die Sprachen. Es genügt daran zu erinnern und abzuzählen, wie viele Sprachen die Menschen in Tscherniwzi (Czernowitz) oder Kamjanez-Podilskyj gehört haben. Dabei sind die Czernowitzer nirgendwohin verschwunden.

– Dort hat es sogar seine ausgestorbenen Sprachen, da ihre Träger ausgestorben sind.

- Vor sieben Jahren starben in Czernowitz die letzten Bürger, die Jiddisch sprachen. Über sie hat man es sogar geschafft, einen Dokumentarfilm zu machen. Das haben Franzosen gemacht, nicht wir, weil uns das nicht interessiert. [Volker Koepp hat ebenfalls mit „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ 1999 einen Film gedreht, Anm. d. Übers.]

– Warum interessiert uns das nicht?

- Deshalb, weil die aktiv Russischsprachigen nur die Ukrainischsprachigen im Blick haben: die kleinen Sprachen interessieren sie nicht, die sind zu geringfügig und uninteressant. Deshalb, weil die aktiv Ukrainischsprachigen nur die Russischsprachigen im Auge behalten.

Sie starren so aktiv, dass sie 25 Jahre lang die krimtatarische Sprache und Kultur nicht bemerkt haben, kein einziges Buch eines Schriftstellers übersetzt haben, der in der krimtatarischen Sprache schreibt.

Ein weiteres Beispiel habe ich während der Arbeit im Projekt „Transkarpatische Dialoge“ gesehen, bei dem der ungarische Schriftsteller Oleksandr Hawrosch mit uns nach Berehowo reiste, wo ich mit Erstaunen lernte, dass dort schon seit vielen Jahren eine Zeitschrift ungarischsprachiger Schriftsteller erscheint. Dort leben dreißig-vierzig aktive Schriftsteller, die schreiben, publizieren und eine Reihe interessanter Projekte veranstalten.

– Gab es irgendwelche Früchte, ausgenommen der Anerkennung?

- Die Hauptsache ist das Kennenlernen. Es ist lustig, wenn du nicht weißt, was im literarischen Leben siebzig Kilometer von Uschhorod geschieht. Besonders wenn man bedenkt, dass die transkarpatischen Autoren untereinander befreundet sind und sich dafür interessieren, was jeder macht.

– Wie kann man diese Analogie auf die Erfahrung der ukrainischen russischsprachigen Autoren anwenden? Einigen von ihnen gab das Schreiben in russischer Sprache die Möglichkeit, Teil der größere Kultur und Sprache der Russischen Föderation zu sein, was größere Auflagen und Honorare bedeutet. Werden die ungarischsprachigen Autoren Transkarpatiens in Ungarn gedruckt?

- Nein, aber Ungarn hilft ihnen, hat sie im Blick und schreibt über sie. In der Ukraine freilich schreibt man nicht über sie. Ich glaube, in kultureller Hinsicht leben sie an zwei Fronten, aber in erster Linie leben sie in ihrer Region.

Zum Beispiel die Gewinnerin des Wettbewerbs, die 26-jährige Timea Shrek, schreibt tolle Novellen und arbeitet als Sozialpädagogin mit Roma-Kindern. Das ist ihre Erfahrung und sie beschreibt sie. Thematisch ist das also ukrainische Literatur über eine ukrainische Lebenswelt in einer konkreten Region, aber in ungarischer Sprache.

Die Nationalliteratur wird aus Literaturen der Regionen gebildet, aber nicht aus Literaturen von Iwano-Frankiwsk, Lemberg und Kyjiw.

– Es ist gut, auf die sichtbarste Sprachminderheit, die Russischsprachigen, zurückzukommen und sich die ukrainische Literatur in russischer Sprache anzusehen. Sie verstehen sich als russischsprachigen ukrainischen Schriftsteller. Sehen Sie eine Grenze zwischen der russischsprachigen Literatur der Ukraine und der der Russischen Föderation?

- Sie wird im Augenblick am meisten in Russland bemerkt. Dort ziehen sich lange Debatten hin darüber, was man von nichtrussischer russischsprachiger Literatur halten soll. Schließlich hat das Establishment der Literaturkritik gemeinsam den Gedanken gefasst, dass es eine „Russophonie“ gibt, das heißt eine Kultur, die keinen Bezug zum Land Russland hat, aber Beziehungen hat zur russischen Sprache. Genauso wie vor 160 Jahren, als der Begriff „Frankophonie“ entstand, ist jetzt die Frage entstanden nach der Möglichkeit, die Sprache für politische Ziele zu gebrauchen.

Für Russland ist die Sprache ein Marker. Ebenso ist die Sprache ein wichtiger Marker für die ukrainischen Nationalisten, die in der letzten Zeit begonnen haben, die Formulierung „Sprache des Besatzers“ zu verwenden.

– Aber es gibt doch die „Russische Welt“ als Konzept.

- Das begann als humanitäres Projekt der Russischen Orthodoxen Kirche und des kulturellen Establishments Russlands. Mit der Zeit aber wurde klar, dass dies ein geopolitisches Projekt ist zum Aufbau eines Einfluss ausübenden Agentennetzes. Wenn die „Russophonie“ hier enden wird, dann beginnen irgendwelche anderen Prozesse. Die „Frankophonie“ beispielsweise konnte sich von der Politik loslösen und in die Kultur hinüberwechseln. Frankreich unterstützt alle französischsprachigen Länder und ihre Kulturen, indem es die Sprache fördert, nicht aber die politischen Kräfte in diesen Ländern.

In der Ukraine wird die „Russophonie“ sicherlich nicht die ungebildeten Menschen betreffen, die zuhause russisch sprechen, nur die Sprache kennen, irgend eine andere nicht lernen werden. Mit diesen Menschen, genauer mit ihren Kindern und Enkeln, sollen die örtlichen ukrainischen Aktivisten arbeiten, beispielsweise in den Schulen.

Der Ausdruck „Sprache des Besatzers“ appelliert praktisch daran, das Land in zwei Teile zu teilen, in „Feinde“ oder nur „potenzielle Feinde“ und „richtige Ukrainer“. Das heißt, ein Mensch, der in der „Sprache des Besatzers“ spricht, ist klarerweise jemand, der „nicht einer von uns“ ist.

In jeder Gesellschaft gibt es 90 Prozent Einwohner, die sich anpassen und mit jedweder Regierung leben würden.

Würde ein ukrainischsprachiger Diktator kommen, nach dessen Regel man auf den Straßen und auf allen öffentlichen Plätzen ukrainisch sprechen müsste, dann würden die Menschen daheim noch flüsternd russisch sprechen, auf den Straßen aber würden schon Personen mit Pistolen stehen und auf das erste russische Wort hin schießen. Unter solchen Bedingungen würden alle ein Basis-Ukrainisch lernen und es besonders laut sprechen, damit man sie nicht erschießt.

Angst aber ist unvereinbar mit einer demokratischen Gesellschaft. Wenn eine Gesellschaft normal ist und nach politischen Leitlinien funktioniert, also weiß, was sie erreichen will, dann müssen die Menschen, die gegen die „Sprache der Besatzer“ kämpfen sollen, Staatsdiener sein mit Geld für neue Projekte, die das Lernen der ukrainischen Sprache stimulieren.

Sie würden beispielsweise ein Projekt der Umwandlung des Gebiets Charkiw in ein ukrainischsprachiges schaffen. Sie würden ihre Bevölkerung zählen, würden die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Region studieren und für diejenige arbeitende Bevölkerung einen Arbeitszuschlag einführen, die eine Prüfung in der ukrainischen Sprache abgelegt haben. Ebenfalls würden sie ein neues Privileg erteilen, einmal alle drei Monate im Buchladen ein modernes ukrainisches Buch nach eigenem Geschmack kostenlos auszuwählen.

- Ist das nicht genauso eine „Unterdrückung der Russischsprachigen“?

- Das ist nicht eine Unterdrückung. Hier geht es um eine Einladung zum Handeln, und du hast die Wahl – mehr verdienen oder nicht verdienen, am Abend bloß herumzusitzen oder eine Sprache zu lernen.

Anarchisten sind kreative Menschen, sie können sich noch viele Projekte ausdenken.

Wenn die Bewegung sich von einem kleinen lokalen Projekt zu dem großen nationalen vollzieht, dann kann man in ein paar Jahren die Lage verändern. Aber hierfür muss man etwas tun anstatt nur „Sprache der Besatzer“ zu schreien.

Die ukrainische Sprache muss eine Ware werden, die es zu kaufen lohnt. Hier, Du hast sie gekauft, und dank ihrer bestreitest Du Dein Leben selber und Deine Kinder verdienen. Auf diese Weise kannst Du durch Kulturpolitik das menschliche Bewusstsein verändern.

Ich habe schon gesagt, dass jeder Ukrainer seine eigene Ukraine haben möchte. Aber es gibt Menschen, vor allem im Osten, die keine eigene Ukraine besitzen. Man hat sie ihnen nicht gegeben. Sie konservieren ungestrichene Zäune und sowjetischen Kollektivismus und Paternalismus. Sie glauben an einen guten Schacht-Direktor.

– Vielleicht ist der Schacht auch eine eigene Ukraine? Für Bergbaustädte ist sie Grundlage und Kern.

- Dies ist eine aufgezwungene Struktur des Lebens, sehr begrenzt und vereinfacht.

Ich erinnere mich, im Februar 2015 war ich in Sewerodonezk und versuchte, mit den Menschen auf der Straße zu sprechen. Mir fiel auf, dass sie Angst hatten, mit einem Fremden zu sprechen.

Ich dachte damals, zunächst müsse man das Auftauchen jedes Unbekannten in der Stadt mit Hilfe von Wandzeitungen annoncieren und ein Attestat vom Psychiater hinzufügen, dass dieser Unbekannte nicht beißt. Wünschenswert wäre auch eine Autobiografie. Also man müsste das fremde Gesicht legalisieren in einer Stadt, wo alle einander kennen.

Dann kann man ruhig auf die Straße gehen.

– Diese Geschichte vom Misstrauen gegenüber Fremden, wenn wir das über die Sprachen der Minderheiten in der Ukraine Gesagte damit verbinden, dann ist das alles eine Geschichte über das Vertrauen. Wenn man sich das Leben der zeitgenössischen Ukraine durch das Prisma des Vertrauens und seiner Abwesenheit ansieht, was kann man da sagen?

- Politisches Vertrauen basiert auf dem Zugang zu Informationen über die andere Seite – dann gibt es keine Angst, auch wenn es Zweifel gibt.

In der Ukraine haben sich die Politiker nie mit der Integrationspolitik beschäftigt. Alle Gespräche darüber, dass man die Kinder aus Donezk mit Gleichaltrigen aus Lwiw (Lemberg) bekanntmachen muss, Kinder aus Chmilnyk (Kleinstadt im Gebiet Winnyzja) mit Gleichaltrigen aus Luhansk, blieben somit politische Stuckatur.

Bei uns Ukrainern kennen die Menschen einander noch nicht. Die, die in Bessarabien leben, wissen nicht, wie man in Kyjiw oder im Donbass lebt. Die Menschen reisen überhaupt wenig, im Wesentlichen nur im Rahmen ihres Landkreises.

Wenn Ukrainer in Bolhrad leben im Kreise der bulgarischen Minderheit, und unter einander bulgarisch und russisch sprechen, dann reisen sie nicht zu den benachbarten Gagausen (turksprachige Minderheit im ehemaligen Bessarabien, A.d.R.), weil sie Fremde sind. Ein Fremder ist der, über den Du nichts weißt, oder nur sehr wenig weißt.

– Wie kann man mit „Fremden“ Bekanntschaft schließt, wie die Notwendigkeit erzeugen, mit „Fremden“ überhaupt sich bekannt zu machen?

- Es gibt so einen Begriff wie das Gefühl für ein eigenes Landes. Bei vielen Ukrainern ist es in den 25 Jahren der Unabhängigkeit nicht entstanden. Es reicht nicht, einen ukrainischen Pass zu haben, in Hrywnja zu zahlen und von der Existenz ukrainischer Gesetze zu wissen. Es sollte eine Rückkoppelung, ein Feedback geben. Also: Was habe ich für die Ukraine getan?

Stattdessen erklangen nach der Revolution der Würde immer die Stimmen, die fragten: „Was hat die Ukraine für mich getan?“

– Oder „Was hat die Ukraine für den Donbass getan?“ Also ebenso „Aber was hat der Donbass für die Ukraine getan?“

- Das bedeutet, dass die Ukraine nichts für den Donbass getan hat, wohl wissend, dass sie dort ihre Oligarchen haben. In jeder Region, nicht nur im Donbass, gab es eigene „Pionierführer“ Sie behandelten die Bevölkerung „ihres“ Gebietes wie Pioniere, die man aufstellen, auf Linie halten, denen man die rote Halstuch binden und wo man irgendjemanden auch im Dunkeln zusammenschlagen muss.

Diese Haltung gegenüber der Bevölkerung stimuliert nicht den Wunsch, gebildeter oder aktiver zu werden. Es fördert die Passivität. Eine Variante davon, aktive Passivität, ist der Weg der Verwandlung in Angreifer, das heißt in aktiv passive Menschen, denen man einen „gemeinsamen Feind“ zeigen kann, gegen den sie angehen.

– Aber das erklärt nicht, wie man die Gräben füllen und Brücken bauen soll. Und wie man den „Fremden“ nicht sogleich schlagen soll.

- Die Menschen fangen an zu kämpfen, wenn ihnen Worte fehlen. Das Vokabular ist bei uns in der Ukraine begrenzt, was auch ein Ergebnis der Defizite des Bildungssystems und der Mängel eines eigenen Kultur- und Informations-Raumes ist.

Oder anders gedreht: wir nehmen die richtigen Worte nicht auf, die in der „falschen“ Sprache gesprochen sind. Das ist ein neues Problem. Wir wünschen, dass man mit uns in unserer Sprache spricht, was die Möglichkeit eines normalen Dialogs verzögert. Es ist aber klar, dass niemand reden wird, solange die Kanonen schießen.

Der Zeitpunkt ist verloren, es gab ihn auch nicht. In der Ukraine gehen die Revolutionen traditionell in Krieg über. Aber vor der Revolution wurde die Chance vergeben, denn wir hatten nicht gelernt, für den Staat und für eine harmonische interregionale Entwicklung verantwortlich zu sein.

– Ich habe bereits über den Wassergraben zwischen der russischen und der russischsprachigen ukrainischen Literatur gefragt. Wenn wir nicht über die „russische Welt“ sprechen, sondern über lebendige Menschen, Schriftsteller, Journalisten, Blogger, welche Kommunikationsinstrumente gibt es zu zeigen, wer nicht Feind eines anderen ist?

- Die Instrumente fehlen, aber heute sind die russischsprachigen Intellektuellen aus der Diskussion zwischen den Patrioten ausgeschlossen.

Ich sehe, dass es bereits beinahe ein Jahr schon in den Literaturüberblicken keine Namen russischsprachiger Dichter und Prosaiker aus der Ukraine mehr gibt. Beispielsweise Wolodymyr Rafejenko und Olena Stjaschkina.

– Offenbar hat man über sie gleichwohl geschrieben, anlässlich ihrer Neuerscheinungen.

- Vielleicht, aber ich habe es nicht bemerkt. Ebenso fehlen sie in den unterschiedlichen Rankings der ukrainischen Top-Schriftsteller. Über mich selber schweige ich, mich gibt es da schon lange nicht.

Das ist symptomatisch. Diejenigen, die in der „Sprache des Besatzers“ sprechen, schließt man von der Diskussion aus. Das bedeutet, sie müssen ihre eigene Diskussion schaffen, in die sie automatisch selbst diejenigen ukrainischsprachigen Kollegen nicht einbinden können, die keine Propagandisten der Idee einer Haltung gegenüber den russischsprachigen als Feinden sind.

– Aber ich erinnere mich, dass auch Sie oder die erwähnten Wolodymyr Rafejenko oder Olena Stjaschkina in regelmäßigen Abständen an öffentlichen Veranstaltungen und Diskussionen teilnehmen. Olena Stjaschkina kann man im Grunde als eine bekannte öffentliche Intellektuelle bezeichnen.

- Aber Olena wurde nicht zu der, die sie hätte in der Ukraine sein müssen. Am Anfang sprach man über sie als Schriftstellerin und Flüchtling, dann hörte man auf. Mir scheint, man kennt sie nur in den akademischen und Insider-Kreisen. Und das ist sehr schade.

– Ich erinnere mich an Gespräche mit Wolodymyr Rafejenko und Boris Chersonskyj, die auf Ukrainisch zu schreiben begonnen haben. Dieser Übergang von einer Sprache zu einer zweiten ist eine interessante Geschichte. Haben Sie darüber nachgedacht? Autoren haben in der Weltliteratur die Sprache gewechselt.

- Zweisprachige Autoren haben die Sprache gewechselt. Aber wenn ein Schriftsteller eine andere Sprache lernt und in ihr statt in seiner Muttersprache zu schreiben beginnt, dann ist das eher eine politische als eine künstlerische Geste. Ja, Kundera wechselte ins Französische, Nabokov schrieb auf Englisch. Das fand bei ihnen nach der Emigration statt.

In der Ukraine mag es im vorliegenden Fall um politische Migration gehen, nicht aber um eine geopolitische. Die eigene Sprache ist aber keine politische Erscheinung, sie wird nicht von politischen Ansichten gesteuert. In den Menschenrechten geht es darum, dass der Mensch das Recht hat auf Zugang zu Nachrichten und Kultur in der Muttersprache.

Aufrufe, die an die ethnischen Russen in der Ukraine gerichtet sind, von der russischen Sprache abzulassen, sind Aufrufe, sich zu assimilieren. Die Ukrainer wissen gut, was eine solche Assimilation ist. Demokratie aber korreliert nicht mit Assimilierung. Demokratie gewährt die Integration verschiedener Bevölkerungsteile in einem einzigen Staat.

Bei uns geschieht es aber so, dass man die Krimtataren integrieren kann, obwohl man bis zum Krieg 2014 nicht versucht hat, sie zu integrieren. Die Ungarn integriert man überhaupt nicht und man unterstützt sie nicht.

Das Thema der Assimilation und der Integration als Thema von Instrumenten, mit denen man den Staat baut, wird bei uns nicht diskutiert, denn es ist unbequem. Eine Diskussion erlaubt es aber sogleich, demokratische und totalitäre Instrumente zu unterscheiden.

– In der Ukraine existieren Ideen über ein „mononationales“ und ein „multinationales“ Land nebeneinander.

- Der Mensch wählt selber, wie blind er sein will.

Es gibt Menschen, die die Ukraine als nur ukrainischsprachig sehen, denn alles andere ist nicht die Ukraine. Neben ihnen gibt es die, die die Ukraine als vielsprachig sehen, aber mit einem ukrainischsprachigen Herzen.

Im zweite Fall handelt es sich ein Land mit einem verbreiteten positiven Ansehen der ukrainischen Sprache unter der nicht ukrainischsprachigen Bevölkerung. Hierfür aber muss man große Anstrengungen machen. Jede Gewaltaktion wird abstoßen.

– Lassen Sie uns mit dem Thema Entkommunisierung fortsetzen. Diejenigen von Ihren Büchern, die ich gelesen habe, enthalten Elemente exotischer (post-)sowjetischer Wirklichkeit. Warum stehen sie in den Texten?

- Das ist das, was jeden Text historisch macht. Ich halte eine alltägliche Geschichte fest, die die politische Geschichte der Gesellschaft widerspiegelt. Diese Details sind selten Kunst, sondern sie halten den Augenblick fest, über den geschrieben wird.

– Die Spuren der Zeit und der Vergangenheit sind in diesen Texten sehr zu spüren. Kann man den ukrainischen Alltag entkommunisieren? Sagen wir, aufhören Mandarinen zu kaufen und die „Ironie des Schicksals“ (sowjetischer Film aus den 1970ern, traditionell am 1. Januar gezeigt, A.d.R.) an Neujahr zu sehen.

- Man kann lernen, Veränderungen finden statt, aber nicht im Inneren der Menschen. Es ändern sich die Situation, die Regeln. Die Brause-Automaten für eine Kopeke sind verschwunden, es haben sich die Alltagspraktiken verändert. Es verschwinden die Cafés auf Rädern, es kommt etwas anderes. Solche kleinen Veränderungen rütteln an der Lebenseinstellung der Menschen.

Die Menschen gewöhnen sich schnell an Mikrorituale, von deren Einhaltung sich ein Gefühl von Harmonie einstellt. Es ist wichtig, seine täglichen Wege zu kennen – hier ist Dein Postamt, hier Deine Apotheke. Wenn man morgen Dein Postamt irgendwohin verlegt, kommt bei Dir ein Augenblick von Unglück auf, denn man hat Deinen Harmoniezustand beschädigt.

Ich kann mir gut vorstellen, dass es auf einmal ein Neujahr ohne Mandarinen geben kann, weil etwa alle Mandarinen an einer afrikanischen Pest erkrankt sind. Dann werden an ihrer Stelle auf unseren Tischen endlich Mangos auftauchen.

Wir werden uns ein Jahr lang daran gewöhnen, so dass im darauffolgenden Jahr sich bereits niemand mehr ein Fest ohne Mangos vorstellen kann. Währenddessen werden Experimente stattfinden: Jemand wird Mango und Avocado für verwandte Früchte halten, so werden neue, süß-saure ukrainische Vinaigrettes erscheinen.

Wenn wir etwas erfinden, dann freuen wir uns. Um anzufangen, sich etwas auszudenken, ist etwas Neues und sind immer neue Herausforderungen nötig, die die Zeit, Situation, Politiker oder sogar berufliche Provokateure herbeiführen. Hierbei ist es wichtig, dass sich die Magistralen des Lebens nicht ändern. Am schwersten wird es sein, den Oliviersalat zu vergessen, nach zwei Generationen aber vergisst man ihn, so wie auch die Hälfte der Ukrainer die Sülze vergessen hat. Ich fürchte, in dem Tempo werden wir auch den Meerrettich vergessen.

– Sind das kulturelle Verluste?

- Dies ist ein Abstoßen von einem Ufer, um ein anderes Ufer zu erreichen. Auf diese Weise werden altvertraute Gegenstände kollektive Seltenheiten. Diejenigen, die sie bewahren werden und schätzen, werden empfinden, dass sie nicht umsonst leben.

– Ich bin sicher, dass Sie mit ihren Übersetzern sprechen. Sprechen sie mit Ihnen über Episoden und Worte, die nicht übersetzt werden können? Ich weiß nicht, wie man den „Oliviersalat“ für Leser in Österreich oder im Iran genau übersetzen soll.

- Man muss ihm den französischen Namen geben, „salade russe“. Wenn er auch den Österreichern nichts sagt, so sagt er jedoch den Franzosen etwas.

Es gibt viele Dinge, die unübersetzbar sind. Aber meine Texte übersetzt man nicht nur, adaptiert sie auch. Je nach Land und Sprache bleiben in den Texten mehr oder weniger kulturelle Zitate und historische Anspielungen.

Wenn das, was man erklären muss, ein Interesse wecken kann, den Leser zum Schmunzeln bringt, dann lassen sie es, übersetzen und erklären es. Wenn dies bloß ein Detail ist, das im Text keinen Nachgeschmack gibt, dann nehmen sie es einfach weg.

– Was können Ihre Bücher über die Ukraine eröffnen?

- Ich analysiere nicht ernsthaft oder berechne, was gefällt oder was nicht gefällt. Ich kann aber doch ungefähr berechnen, ob ein Buch erfolgreich wird.

Zum Beispiel wusste ich sicher, dass meine Leser über den Roman „Die Welt des Herrn Bickford“ unzufrieden sein werden, weil es da weniger Humor gibt, nun ist das Buch nicht so einfach. Aber ich wusste genauso, dass sie es sicher bis zum Ende lesen.

– Konnten Sie den Erfolg des Buchs über den Maidan, Ihr Tagebuch, vorhersehen?

- Ich konnte ihn nicht vorhersehen, denn es erschien nicht so, wie ich es wollte. Zuerst wollte ich eine Zensur durchführen, um alle Hinweise auf Kinder und Familie zu entfernen. In den französischen und deutschen Ausgaben ist mir aber die Zensur nicht gelungen, das Buch erschien ohne Absicht unzensiert. In der englischen Ausgabe führten stattdessen die Juristen von „Random House“ die Zensur durch.

In Frankreich und in Deutschland interessierten sich die Leser meines „Maidan-Tagesbuches“ am meisten für die Lebensbilder normaler Familien zur Zeit des Maidans. Sie interessierten sich, wie die Kinder den Maidan aufnahmen, reagierten auf die Geschichte darüber, wie ein Mensch, der fünf Minuten zu Fuß vom Epizentrum der Revolution lebt, bis zuletzt versucht, seine gewohnten Fußwege nicht zu ändern. Das war interessant, eine solche Reaktion hatte ich nicht erwartet.

– Ich habe die französische Ausgabe der „Maidan-Tagebücher“ gelesen. Was suchen in ihm mehr und mehr Leser? Was kann dort ein Mensch aus Japan oder den Niederlanden herauslesen?

- Sie verwundert gerade das Wort „Platz“ und das, was es transportiert. Sie verstehen es als eine gewisse Organisation, einen Rat der Ältesten oder so etwas. Das Buch erklärt gerade die Atmosphäre, die Luft, die Brownsche Bewegung. Ich erzähle, wie die individualistischen Ukrainer zum Zeitpunkt der Revolution plötzlich Kollektivisten werden.

Das gemeinsame Ziel und das gemeinsame Handeln helfen, das herrschende politische System zu dekonstruieren. Nachdem der Maidan seine Sache erledigt hatte, kamen nicht die, die ein neues hätten konstruieren sollen. Deshalb lädt man sozusagen die, die man verjagt hat, erneut ein, aufzubauen, und sie bauen nun das auf, wozu sie imstande sind.

– Gibt es Dinge, die unverständlich bleiben?

- Es gibt Dinge, an die man nicht glauben will. Man will beispielsweise nicht glauben, dass der Maidan nicht von irgendwelchen geheimnisvollen Kräften von oben nach unten organisiert war. Man glaubt nicht, dass amerikanisches Geld und der CIA nicht beteiligt waren, aber das ist schon das Verdienst unserer Nachbarn und Gründer des KGB.

Am meisten hat alle erstaunt, als ich erklärte, dass das unterirdische Einkaufzentrum „Globus“ an allen Tagen des Maidan arbeitete außer an zwei Tagen im Februar. Dass keinerlei Raub, Plünderungen oder Verbrechen auf dem Maidan vorgefallen sind, weil eine Volkspolizei agierte. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die Kriminellen vor der staatlichen Polizei keine Angst hatten.

Ausländer sagten, dass sie die Ukrainer beneideten, die so etwas organisieren konnten.

– Erinnern Sie sich an die Zeit des Maidan als eine glückliche Zeit?

- Das würde ich nicht sagen. Ich erinnere mich an das Gefühl des Angespanntseins und der Erwartung eines Krieges. Ich fühlte das jeden Morgen, vor allem Anfang März.

– Strahlt bei uns eine revolutionäre Nostalgie?

- Es gab sie nicht und wird sie nicht geben, weil die Revolution in Krieg übergegangen ist. Der Maidan wurde schnell eine Etappe der Geschichte, der Anfang des Kampfes der Ukraine für echte Unabhängigkeit. Aber die zwei Kämpfe haben sich vermischt: der politische und der geopolitische.

Das Ende der Geschichte lässt sich nicht vorausschauen. Beide Kriege sind miteinander verflochten. Wer im quecksilbrigen Kampf der Oligarchen und der politischen Eliten siegen wird, von dem wird auch abhängen, wer an der Front siegen wird.

23. September 2017 // Iryna Slawinska speziell für UP.Kultura

Quelle: Ukrajinska Prawda – Kultura

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