Angst und Ehrfurcht


«Das Volk sollte keine Angst vor seiner Regierung haben, die Regierung sollte eher Angst vor ihrem Volk haben!» – behauptete ein aufrührerischer Kinoheld in der Maske Guy Fawkes.

??„Mut und Geschlossenheit ehrlicher Menschen ist das, wovor sich jeder Diktator fürchtet“??- schreibt die unbeugsame Lady Ju in einer Ansprache an ihre Anhänger.

Man kann viele weitere revolutionäre Zitate anführen, doch sie alle lassen sich auf eine Formel zusammenführen: Damit sich die Regierung artig verhält, muss man ihr gehörig Angst einjagen. Das ist das A und O jeglicher oppositionellen Tätigkeit.

Wenn man den verfetteten Machthabern Schrecken einjagt, so ist das schon ein Sieg! Ihre Angst steht für unsere Stärke! Je mehr Angst die Regierung hat, desto besser!

Leider scheitert dieses eiserne Postulat an den traurigen ukrainischen Gegebenheiten. Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dass es gar nicht so schwierig ist, der ukrainischen Regierung Schrecken einzujagen.

Was braucht man, um einem von allen möglichen Phobien geplagten Neurastheniker Angst einzuflößen? Einmal laut klatschen, das genügt um bei dem Patienten einen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Doch der praktische Wert dieser Leistung ist fragwürdig.

Ja, die heutige Regierung hat Angst. Sie hat Angst vor den Gespenstern des Maidan und versucht deswegen, sich vor der revolutionären Pest zu schützen. Sie jagt mickerige Aktionen der Opposition auseinander, die im Volk keinen Zuspruch finden und für das Regime keine ernstzunehmende Gefahr bedeuten.

Sie umzingelt eine Handvoll Studenten zweifach mit Spezialeinheiten. Sie verfolgt einen gewöhnlichen Geschäftemacher, der mit verbotenen T-Shirts handeln will. Sie unterbindet subversive Propaganda, welche nur die erreicht, die schon längst dieser Propaganda erlegen sind. Sie knebelt diejenigen, denen sowieso keiner zuhören will.

Unsere oppositionelle Gesellschaft hat jeglichen Kontakt zu den Massen verloren und lebt in einer eigenen virtuellen Welt. Doch in der gleichen Phantomwelt lebt auch die ukrainische Regierung!

Wie lächerlich auch die Antiregierungsaktionen der Opposition sein mögen, sie irritieren die regierende Riege.

Einige fühlen sich von der panischen Reaktion an der Bankowastraße (Sitz des Präsidenten) geschmeichelt – toll, wir werden gefürchtet! So freut sich ein Teenager, der einen Polizisten mit seiner Plastikpistole erschrocken hat. Doch der erschrockene Esel in der Uniform greift zur Waffe und der Ausgang dieses Duells lässt sich vorausahnen…

Übrigens, wirtschaftliche Proteste, die für die Regierung tatsächlich gefährlich sind, entstehen ganz unabhängig von den oppositionellen Aufwieglern. Einfaches Volk reagiert nicht auf flammende Reden, sondern auf den Ruf des eigenen Geldbeutels. Das Auftreten der Unternehmer und der Bezieher von staatlichen Ermäßigungen waren eine totale Überraschung für die ukrainische Regierung, und keine politischen Säuberungen werden sie vor derlei Unannehmlichkeiten schützen.

Somit ist die hysterische präventive Schutztätigkeit unserer Regierung nur eine nutzlose Zeit- und Kräfteverschwendung.

Wider Willen kommt ein netter mittelalterlicher Brauch in den Sinn, der bis heute in einigen Teilen der Erde praktiziert wird. Vor einem Jahr ist in der Republik Haiti eine Epidemie der Cholera ausgebrochen.

Was haben die erschrockenen Einwohner von Haiti getan? Genau, sie haben fünfundvierzig angebliche „Hexen“ und „Zauberer“ gelyncht, wobei sie fest daran glaubten, dass damit die Pestquelle behoben wird.

In der Ukraine gibt es auch eine ??„schreckliche und gefürchtete Hexe“??- Julia Timoschenko. Unabhängige Beobachter sind sich darin einig, dass ihre Festnahme mit rationellen Gründen nicht zu erklären ist: Eindeutig gibt es die abergläubische Angst der Regierung vor der Chefin der Partei Batkiwschtschyna/Vaterland.

Und es kann keine Rede von einer wirklichen Gefahr in Gestalt von Timoschenko sein: vor dem Prozess bewegte sich Julia Timoschenko gerade auf die politische Versenkung zu, ihre sämtlichen Initiativen endeten in einem Fiasko.

Der ungeschickte Versuch, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen im Gericht zu bestreiten? Keine Chance.

Das operettenhafte Komitee zum Schutz der Ukraine? Ein Reinfall.

Ein Wunsch, den Steuermaidan in seine Gewalt zu bekommen? Gescheitert.

Selbst der zweimonatige Aufenthalt hinter Gittern hat der furchtlosen Dame mit dem Zopf nicht zu höheren Umfragewerten verholfen.

Der Zauber von Julia hat längst keine Wirkung mehr auf die Massen, aber nach wie vor versetzt er die Bankowa in ein ehrerbietiges Zittern. Indem Wiktor Janukowitsch die imaginäre Hexe neutralisieren wollte, schaffte er ein Knäuel wirklicher Probleme, kratzte das Image des offiziellen Kiews an und erschwerte die Beziehungen mit Europa zu dem unpassendsten Zeitpunkt.

Je mehr Angst die ukrainische Regierung hat, desto mehr sinnlose Grausamkeiten verübt sie, desto mehr Schaden fügt sie sich selbst und dem ganzen Land zu. Und daran ist nichts verwunderliches.

Der Glaube an die positive Kraft der Angst hängt mit einem anderen Stereotypen zusammen: Es wird angenommen, dass das Land von schlauen und berechnenden Schurken regiert wird, die die Situation kaltblutig einschätzen können. Doch in der Bankowa gibt es keine Talleyrands und Machiavellis und die Angst ist für unsere Regierung sehr schädlich: Sie verhindert ein gelegentliches Einschalten ihres Verstandes, wobei die irrationelle Komponente ihres Handelns noch deutlicher zur Geltung kommt.

Damit kann man eine nützliche Einschüchterung Wiktor Janukowitschs und seines Teams vergessen. Das heutige Regime erfordert einen anderen Ansatz.

Es gibt nur einen Beweggrund, der sich auf die ukrainische Regierung positiv auswirken kann. Dieser große Beweggrund hat die moderne Zivilisation geschaffen. Er setzt Fabriken und Einkaufszentren in Bewegung, lässt Autos und Flugzeuge, neueste iPhones und iPads entstehen, lässt Wolkenkratzer in den Himmel ragen und Computernetze unseren ganzen Planeten umspinnen.

An diesem Beweggrund scheiterten Fanatikerarmeen mit Kreuzen, Hackenkreuzen und fünfzackigen Sternen. Er heißt Gewinn.

Während Angst unsere Machthaber zu verhängnisvollen Verrücktheiten veranlasst, so werden sämtliche konstruktive Schritte von rein auf Gewinn ausgerichteten Erwägungen verursacht.

Ungern die Verhandlungen mit der EU und den Unwille Janukowitschs, sich Moskau zu beugen, zustimmend, kommentiert das progressive Publikum: „Die Interessen der Oligarchen fielen mit denen der Ukraine zusammen.“

Kein Wunder wiederum. Wenn die regierenden Eliten das Land wie eine geschlossene Aktiengesellschaft betrachten, wird ihr direkter Gewinn an eine erfolgreiche Entwicklung der Geschlossenen Aktiengesellschaft gekoppelt, und nicht an ihre Pleite und Übernahme durch eine andere Firma.

Auf den Petschersker Hügeln (Viertel von Kiew) verschanzten sich eigennützige und selbstverliebte Egoisten. Aber sind Machthaber, die nur an sich selbst und an den eigenen Vorteil denken, wirklich so schlimm? Durchaus nicht, gesetzt den Fall, dass sie wirklich denken. Und Denkstoff gibt es mehr als genug.

Was nützt es, die Luft zu verkaufen, die du einatmest? Was nützt es, die Milchkuh zu schlachten, um einmal in den Genuss von Fleisch zu kommen? Was nützt es, Eigentumsrechte zu untergraben, wodurch Investoren verscheucht werden und der Zustrom des ausländischen Kapitals in die Ukraine schrumpft?

Was nützt es, die Wirtschaft mit manueller Steuerung zu unterdrücken, um morgen mehr zu verlieren, als man heute verdient hat? Was nützt es, den Schwarzmeerflotten-Trumpf durch einen ephemeren Rabatt in der unabänderlichen Gasformel einzutauschen? Was nützt es, sich mit den Europäern zu überwerfen, indem man unsinnige politische Repressalien ausübt?

Könnte die Regierung diese Fragen richtig beantworten, würde der Ukraine die Mehrheit unsinnig geschaffener Probleme erspart. Doch die Regierung vermag nicht, einige Schritte im Voraus zu berechnen: sie irrt im Nebel, sieht nur kurzfristigen Gewinn und greift voreilig danach. Irrationale Phobien, so typisch für die Partei der Regionen, verschlimmern die Lage nur.

Das Einzige, was Janukowitsch und Co. noch helfen kann, sind regelmäßige, inständige, zugängliche Vorträge über Gewinn und Verlust, unterstützt von anschaulichen Beispielen. In der entstandenen Situation ist der Dollar der beste Lehrer.

Romantiker wünschen sich für die Ukraine eine perfekte Regierung, die Angst vor dem Volk hätte und ihm treu diente. Leider kann man in absehbarer Zukunft nicht damit rechnen. Heute ist für uns ein etwas bescheideneres Ziel angesagt: eine adäquate Regierung, die sich vor keinen Phantomen fürchtet und einen Gewinn für sich anstrebt in klarem Bewusstsein, worin dieser Gewinn besteht.

07. Oktober 2011 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Iryna Tsyumrak  — Wörter: 1241

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