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Das Jahr der Revolutionen

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Das Jahr 2011 hatte mit der Frühlingsrevolution in Tunesien einen symbolischen Anfang, und auch das Ende des Jahres war mit den Protesten in Russland und den Unruhen in Kasachstan nicht minder symbolisch. Nicht zu vergessen sind Ägypten, Syrien, Libyen sowie der Versuch, die Wallstreet zu belagern oder die Massenausschreitungen in London, Rom und Athen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die TIME daraus folgend die abstrakte Figur des „protester“ zur „person of the year“ kürte.

Einige hofften fieberhaft, auch die Ukraine als Teilnehmerin an diesem Fest zu sehen. Einige wiederum hatten panische Angst davor. Schließlich ließ die nationale Revolution in der Ukraine auf sich warten und enttäuschte damit die Opposition, doch den Regierungsmitgliedern blieben Aufregungen nicht erspart. Unser ärmster, so fleißiger Janukowitsch hat bereits Kreislaufprobleme.

Die Proteste in der Ukraine trugen 2011 zwar keinen Massencharakter, dennoch waren sie turbulent, stark und infolgedessen stießen sie auch auf Resonanz. Das ist eine umgekehrte Dialektik: Qualität wird zu Quantität, wenn ein zerstörter Zaun vor der Werchowna Rada Hunderttausende von Demonstranten ersetzt.

Charakteristisch wurden Zornesausbrüche der ukrainischen Bevölkerung im weiten Hinterland der ukrainischen Partei der Regionen. Die gestrigen Wähler und Landsleute von Janukowitsch protestieren stärker als andere und laben damit die progressive oppositionelle Gemeinschaft. Die Unruhen im Südosten brachten eine bunte Palette an Emotionen hervor, die vom schadenfreudigen „So geschieht es euch im Donezbecken recht! Ihr sollt eure Verbesserungen haben“ bis zum jubelnden „Hurra, das Donezbecken kommt vorwärts! Ende der Partei der Regionalen!“ reicht.

Die lang ersehnte Offenbarung äußerte sich in der Auflösung alter tribalistischer Losungen: „Wir sind das Donezbecken!“, „Uns wird niemand in die Knie zwingen!“, „Janukowitsch ist unser Präsident!“. Der Bewohner des Donezbeckens ist sich darüber völlig im Klaren, wie illusorisch die Ähnlichkeit zwischen seinen Ansichten und jenen der Donezker Politiker in Kiew sind. Die gewählte Regierung erteilt den durchschnittlichen Stammesbrüdern keine materiellen Bonuspunkte, das eingebildete Zusammengehörigkeitsgefühl schwindet spürbar. 2012 wird sich die Partei der Regionen sehr anstrengen müssen, um die alten Emotionen wenigstens zum Teil zu reanimieren. Es gibt auch keine Garantie dafür, dass die russische Sprache und Banderas Schreckgespenst die steigende Unzufriedenheit überwiegen werden.

Im Übrigen wechselte der Südosten auch nicht die Seiten, nachdem er die Unzufriedenheit über seine Politik geäußert hatte. Die regionale Solidarität wird allmählich ersetzt durch gemeinschaftliche Losungen: „Wir sind Unternehmer!“, „Wir sind Afghanen!“, „Wir sind Tschernobyler!“. Jedoch kamen die protestierenden Donezker der vorbildlichen ukrainischen Identität kein bisschen näher, die so von den Kiewer und Lemberger Patrioten besungen wird. Der über die Regierung schimpfende Nationaldemokrat aus Kiew und der zornige sozial Privilegierte, der über dieselbe Regierung schimpft, haben nach wie vor nichts gemeinsam.

Die von nationalen Protesten träumenden Ukrainer und auch die Demonstranten selbst leben in Parallelwelten und auf verschiedenen Planeten. Die Probleme der Afghanistanveteranen und der Tschernobylliquidatoren sind den Bürgerrechtlern so nah wie die Trabanten des Saturn. Und den ukrainischen Aufständischen sind Demokratie, Meinungsfreiheit, EU-Integration, Julia Timoschenko oder Lina Kostenko (Schriftstellerin) völlig gleich.

Natürlich versucht die Opposition den Schlüssel zum unzufriedenen Herzen des Bürgers zu finden, doch bislang sehen diese Versuche hilflos und nicht sehr überzeugend aus. Sie versucht, den Massen gelb-blaue, orange und herzenswarme Second-Hand Fetzen überzustülpen, die vor Jahren modern waren und heute völlig unbrauchbar sind.

Es verwundert nicht, dass es den ukrainischen Demokraten nicht gelungen ist, den Demos in Angriffstellung zu bringen. Bereits seit eineinhalb Jahren schleppen sich die Gegner der Bankowaja (Sitz des Präsidenten) in der Nachhut voran.

Protestieren die Unternehmer? Wir werden sie unterstützen.
Protestieren die Afghanistanveteranen? Wir werden sie unterstützen.
Protestieren die Tschernobylliquidatoren? Wir werden sie unterstützen.
Protestiert noch jemand? Wir werden auch ihn unterstützen.
Der zerbrechliche Traum ist der nationale Protest, der fähig ist, die regierende Macht zu stürzen. Er wurde 2011 sehnlichst erhofft und auch 2012 wird man auf ihn hoffen.

Die Situation in der Ukraine erinnert an den revisionistischen Bestseller von Wiktor Suworow. Nach Meinung des Autors bezeichnete Stalin Hitler als „Eisbrecher“ und rechnete damit, den „Führer“ für eine weltweite Revolution auszunutzen. Pflichtbewusste Ukrainer schreiben dem unzufriedenen Plebs dieselbe Rolle des Eisbrechers zu, der Janukowitsch stürzen und den Weg für die Opposition freimachen soll. In wiefern sind solche Hoffnungen begründet?

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Die Schärfe der Situation liegt darin, dass der gegenwärtige ukrainische Protest überhaupt nicht revolutionär ist. In der heutigen Ukraine geschieht nicht dasselbe wie in Ägypten, Syrien, Libyen und auch nicht in Russland, wo die Protestierenden für einen Wandel kämpfen. Ukrainische Demonstranten wollen gar keine Veränderungen. Im Gegenteil, sie wollen, dass alles beim Alten bleibt, dass die Sozialleistungen nicht gekürzt werden und die Steuerlast nicht größer wird. Die Erzkonservativen sind zu den aktivsten Oppositionellen geworden. Sie protestieren, weil es der ukrainischen Regierung nicht gelingt, eine stabile Stagnation nach russischem Vorbild zu gewährleisten.

Der konservative und antirevolutionäre Charakter der heutigen Proteste in der Ukraine spielt ein böses Spiel mit der oppositionellen Öffentlichkeit. Der Sturz der Regierung stellt für die Aufrührer keine Priorität dar. Sie sind in der Regel Konformisten und fügen sich leicht der Regierung. Punktuelle Protestaktionen werden durch punktuelle Vergünstigungen und „Geschenke“ erfolgreich beigelegt. Genau so ist es auch in Donezk passiert, als die Freunde des verstorbenen Rentners Konopljow sich an einer Million Griwna vom Vorsitzenden der Donezker regionalen staatlichen Verwaltung, Andrej Schischatskij, erfreuten. Damit es solche Eintracht und Kollaborationsbereitschaft nicht mehr gibt, sind ein völliger Zusammenbruch des Staatsbudgets und richtige Massenunruhen vonnöten.

Es ist keine Tatsache, dass der „soziale Eisbrecher“ seine Aufgabe erfüllen wird, die ihm die Demokraten und Patrioten auferlegt haben. Sogar wenn diese Mission glückt, wird er nicht stehenbleiben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Ukraine zu einem vollwertigen sozialen Ausbruch kommt, wächst. Theoretisch könnte dieser Ausbruch Janukowitsch hinwegfegen, einen Regierungsumsturz provozieren, das Monopol der Partei der Regionen brechen und sogar neue Gesichter an die Macht bringen, es gäbe viele Möglichkeiten. Doch was auch immer mit Janukowitsch & Co. passieren wird, die aufgebrachte Volksmenge mit ihrer Forderung nach mehr Geld in den eigenen Taschen wird nie verschwinden.

Der Revolutionär freut sich über den Regierungsumsturz, die Flucht der verhassten Würdenträger, die freien Wahlen und die neue Regierung. Der frische Wind der Neuerungen bedeutet für ihn die „Verbesserung des Lebens schon heute“ (Wahlkampflosung von Janukowitsch). Er möchte glauben und hoffen, er ist voller Enthusiasmus, er ist bereit zu warten, während er in seinen revolutionären Träumereien schwelgt.

Der aufständische Konservative des Donezbeckens hingegen lässt sich nicht mit irgendwelchen Deklarationen, Verfassungen, Wahlen und Neuwahlen zufrieden stellen. Dieser will sein schwer verdientes Geld und Sozialleistungen, und das sofort.

Die politischen Konsequenzen eines Volksaufstandes in der Ukraine sind schwer vorherzusagen, die wirtschaftlichen hingegen umso leichter. Wenn die sozialen Brände die ganze Ukraine erfassen und nicht mit Polizeigewalt zu kontrollieren sind, werden sie mit Geld gelöscht, das schnellstens in der ukrainischen Nationalbank hergestellt wird. In der Tat ist eine Hyperinflation ein Schrecken ohne Ende. Doch wenn die Regierung das schreckliche Ende hinauszögern will, ist jedes Mittel recht. Es ist auch nicht wichtig, wer die Entscheidung zur radikalen Notenausgabe trifft, ob Janukowitsch selbst, seine gestrigen Gefährten oder eine plötzlich aufgetauchte Übergangsregierung. Die wirtschaftlichen Konsequenzen werden stets dieselben sein.

Leider sind einfache soziale Proteste nach dem Motto „Her mit dem Geld!“ a priori destruktiv. Mann kann die Afghanistanveteranen oder Tschernobylliquidatoren für ihren Mut bewundern, dafür, dass diese Menschen nicht zu Hause sitzen, sondern für ihre Rechte kämpfen. Die „Rechte“ eines jeden Kämpfers um Sozialleistungen basieren jedoch auf einer zwangsläufigen Wegnahme des Geldes eines anderen und unterscheiden sich daher nicht merklich von den „Rechten“ eines Beamten. Und wenn es nichts mehr wegzunehmen gibt, bleibt nur noch der Start der Banknotenpresse.

Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass 2012 die Schlauberger der Opposition es endlich schaffen, die Initiative zu ergreifen und die Ukrainer für sich zu begeistern, indem sie neue, konstruktive Trends zum Protest setzen. Doch fällt es schwer, an so etwas zu glauben.

28.12.2011 // Michail Dubinjanskij

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Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Katharina Jaroschak — Wörter: 1278

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