Der Tag der Auswertung
Hohe Feiertage muss man mit Pomp, Phantasie und symbolischer Kreativität begehen.
So beschenkte man die Bewohner des revolutionären Paris 1794 mit einer hinreißenden, allegorischen Darbietung: Auf einem speziellen Podest wurden feierliche Nachbildungen der Scheusale verbrannt, welche Atheismus, Anarchie und andere Grässlichkeiten verkörpern sollten, bevor über einen geschlossen Mechanismus eine feuerfeste Statue der Weisheit in die Höhe gezogen wurde.
Am neunzehnten Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit passt es eher, die ambitiösen Ideen, hübschen Losungen und zerbrochenen Hoffnungen auf den Scheiterhaufen zu werfen. Und inmitten der malerischen Brandstelle ragt die feuerfeste Statue der Enttäuschung in die Höhe, welche erfolgreich Krawtschuk, Kutschma sowie Juschtschenko überlebt hat und nun Janukowitsch spöttisch ins Gesicht lacht.
Die depressive Stimmung in der Gesellschaft ist heute besonders spürbar.
Die pflichtbewussten Ukrainer sind verstimmt über den Bankrott ihrer eigenen ideologischen Rezepte und den Sieg der „Donezker“. Die nicht pflichtbewussten Ukrainer beginnen zu verstehen, dass eine Rückkehr zum Kutschmaismus den weltweiten Wirtschaftsaufschwung aus den Zeiten des späten Kutschma-Regimes nicht zurückbringt.
Mit einem Wort, alle sind traurig, und Trauer stimmt nachdenklich.
Der bevorstehende Unabhängigkeitstag bietet keinen schlechten Anlass, zurückzublicken, unseren neunzehnjährigen Weg zu bewerten und einige Schlüsse zu ziehen.
Erstens: Der Einfluss der Politik auf die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht so groß, wie wir es uns wünschen würden.
Durch die Intensität ihrer politischen Leidenschaften dient die Ukraine vielen Ländern Eurasiens als Vorlage. Aber solche schicksalsträchtigen Ereignisse, wie die Verkündung der Unabhängigkeit oder der Maidan, haben nicht zu dem gewünschten, ökonomischen Ruck geführt. Und es sind nicht die Festigkeit der demokratischen Prinzipien oder die Idee der Souveränität selbst, sondern die inadäquaten Erwartungen, die man in die politische Sphäre gesetzt hat.
Wir bemühen uns, die Nägel mit dem Mikroskop einzuschlagen, und sind bei Misserfolg bereit, die unglücklichen Instrumente zu völlig sinnlosen und sogar schädlichen Erfindungen zu erklären.
Man sollte die Politik nicht als Allheilmittel wahrnehmen, das zur Lösung jedes beliebigen Problems fähig wäre. Die Politik bestimmt vieles, aber bei weitem nicht alles.
Besondere Bedeutung haben die intellektuellen Ressourcen, Arbeits- und Verwaltungskultur, das Niveau der gesellschaftlichen Selbstorganisation, die globale Konjunktur und andere Indikatoren, aus den sich die Konkurrenzfähigkeit eines Staates bildet.
Versuchen wir eine Bilanz der neunzehnjährigen Unabhängigkeit zu ziehen, indem wir das stürmische politische Leben ausklammern.
Leider sind die Erfolge der Ukraine überschaubar. Wir leben bis heute nach dem Trägheitsgesetz, beuten unser industrielles und kulturelles Potential aus, dass uns noch aus Sowjetzeiten erhalten ist. Dieses wird nicht mehr lange halten und würdiger Ersatz ist bis jetzt noch nicht gefunden.
Taucht eine neue Perspektive auf, bevor die alte erschöpft sein wird? Das ist die Schlüsselfrage, von der das weitere Schicksal der unabhängigen Ukraine abhängt.
Zweitens: Im neunzehnter Jahr der Unabhängigkeit ist das Problem des Zerfalls so akut wie noch nie.
Es wurde offensichtlich, dass die Bürger der Ukraine nicht nur durch Sprache, Geschichte und Religion getrennt sind, sondern auch durch ihre geopolitischen Vorstellungen. Bedeutet dies, dass eine Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft prinzipiell irreal ist? Mitnichten! Aber die Wirklichkeit zwingt uns dazu, die ideellen Prinzipien der Vereinigung zu korrigieren.
Nach ukrainischen Maßstäben ist eine nationale Konsolidierung auf Kosten der Konfrontation mit einem äußeren Feind unmöglich. Im neunzehnten Jahrhundert sind viel neu gebildete Staaten diesen Weg gegangen, beispielsweise Italien (gegen Österreich!) und Deutschland (gegen Frankreich!), aber für unser Land ist dieser Weg unannehmbar.
Die Ukraine wird niemals ein zweites Russland, das sich von den Knien erhebt, um den Tschetschenen den Garaus zu machen, die Georgier zu schlagen und den über die Stränge schlagenden Amerikanern Verstand beizubringen. Aus uns wird kein zweites Estland oder Georgien, die bereit sind, sich zu vereinen, um dem aggressiven, russischen Bären Widerstand zu leisten.
Nach der derzeitigen Konstellation sympathisiert ein Drittel des Landes mit Russland, ein Drittel orientiert sich nach Westen und ein Drittel ist apathisch. Jeder Führer, der die Ukrainer zum Kampf gegen einen äußeren Feind mobilisieren möchte, würde nur von einer Minderheit getragen. Es wäre unwichtig, wer den Bürgern als Feind vorgestellt würde – die heimtückischen Moskowiter oder die hinterlistigen NATO-Länder.
Man kann unser Land nicht vereinen, indem man es in eine belagerte Festung oder ein Kriegslager verwandelt. Ob das nun gut oder schlecht ist – es ist so, und alle konsolidierenden Konzepte sollten unter Umgehung dieses Axioms ausgearbeitet werden.
Drittens: Die Rotation der heimatlichen Eliten, auf die so große Hoffnungen gesetzt wurden, läuft tatsächlich, aber das führt leider nicht zum gewünschten Ergebnis. Eher im Gegenteil.
Man fühlt sich unfreiwillig an die legendäre Greisin von Syrakus erinnert, die für die Gesundheit des verhassten Tyrannen betete, weil die langjährige Erfahrung sie gelehrt hatte, dass sich jeder neue Anführer nur schlimmer erweisen würde als der vorherige.
Man kann sich lange über die Gründe dieser Erscheinung streiten, aber Fakt bleibt, dass der Generationenwechsel sich in eine Degradierung des Staatsmanagements verwandelt hat.
Zweifellos waren die sowjetische Nomenklatura und die roten Direktoren a la Krawtschuk, Masol oder Kutschma weit vom Ideal entfernt. Jedoch erwiesen sich seine Nachfolger – die self-made men und self-made women des Hochwassers der neunziger Jahre – als noch ungebildeter und egoistischer.
Was erwartet unser Land, wenn die dritte Generation ans Ruder kommt – die selbstverliebten Emporkömmlinge der 2000er? Eine rhetorische Frage.
Die Realität ist derart, dass die ukrainische Gesellschaft mit jedem Jahr weniger auf den guten Willen der Führungselite zählen kann und sich immer mehr auf die eigenen Stärken verlassen sollte.
Die Degradierung der Eliten erlaubt es unseren Bürgern immer weniger, nur passiver Beobachter zu sein, der auf das liebe Väterchen Zar hofft.
Die Gesellschaft muss sich in eine neue Rolle – in die des verantwortungsvollen Arbeitgebers und Kontrolleurs, der seine besondere Aufmerksamkeit den Kaderfragen zukommen lässt – fügen. Einen anderen Ausweg gibt es für uns einfach nicht.
Viertens: Unabhängigkeit ist nicht nur ein Wunsch, sondern auch die Fähigkeit, das eigene Schicksal zu gestalten.
Inkompetenz führt zum Bankrott und die Verwaltung der Folgen des Bankrotts geht automatisch an andere Menschen über. Wirkliche staatliche Souveränität ist ohne wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht denkbar und heute droht der Ukraine eine äußere Verwaltung unter der Ägide des Hauptkreditgebers (IWF) und des einzigen Lieferanten von Energieträgern (Russland).
Man sollte nicht alle Schuld Janukowitsch zuschieben. Janukowitschs Team unterschreibt die Kapitulationsurkunde, aber die eigentliche Schlacht um die ökonomische Souveränität wurde schon sehr viel früher verloren – als durch die gemeinsamen Anstrengungen von Orangenen und Blau-Weißen die Chance auf eine Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft vergeben wurde.
Und so paradox es ist, die entscheidende Rolle in diesem Fiasko spielte ein aufrichtiger Patriot, der die Ukraine aus vollem Herzen liebt und ihr Gedeihen wünscht – Viktor Andrejewitsch Juschtschenko.
Es gibt kritische und unkritische Faktoren für das Überleben eines Staates. Beamtenpatriotismus ist wünschenswert, aber nicht unabdingbar. Aufrichtige Liebe zum Vaterland kann durch die Gewissenhaftigkeit des Lohnmanagers, Ambitioniertheit oder den banalen Selbsterhaltungssinn ersetzt werden.
Allerdings kann das Fehlen der nötigen, professionellen Qualitäten nicht mit patriotischem Eifer kompensiert werden.
Das Hauptproblem der neuen Machthaber ist nicht die Gleichgültigkeit gegenüber der ukrainischen Sprache oder die aufrührerischen Aussagen über den Golodomor, welche die Nationalpatrioten zur Weißglut treiben.
Das Hauptelend für Janukowitsch und Co. ist ihr Mangel an Professionalität, über welche die Gefährten des Präsidenten so gerne sprechen.
Die Zusammensetzung der Führungsmannschaft lässt zu wünschen übrig und das aufdringliche Mantra „Wir verstehen es, zu arbeiten!“ gibt den Regionalen noch lange kein Reformtalent. Die strategische Impotenz stellt eine weit größere Bedrohung der ukrainischen Unabhängigkeit dar als die Russophilität des Bankowaja…
Die aufgezählten Schlussfolgerungen erscheinen schwerlich optimistisch oder hoffnungsvoll, aber so ist die Realität, mit der man rechnen muss. Natürlich garantiert eine zuverlässige Diagnose noch keine Genesung.
Aber wenn wir nicht in der Lage sind, die Natur unserer Krankheit zu erfassen, gehen die Chancen auf eine Heilung gen Null.
20. August 2010 Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda