Der bequeme Nachbar


Zwanzig Jahre lang massive, ununterbrochene Gaunerei. Sie bildet das Hintergrundgeräusch zu den faszinierenden Wörtern über die ukrainische Geschichte, den Patriotismus und die Rechtsstaatlichkeit. Abgeordnete, Präsidenten, Minister – sie alle haben gestohlen.

Das Ergebnis: ein System, in dem man sich an den Rechten ungezügelt bedienen darf, in dem eine gewaltige Schattenwirtschaft herrscht und ein absolut korrupter Staat. Ein bedürftiger Staat mit leerer Staatskasse, der noch rechtzeitig ein Dutzend Dollar-Milliardäre hervorgebracht hat und eine Drogenmafia, die davon überzeugt ist, dass eine stabile Zukunft vor ihr liegt. Zwanzig Jahre lang Diebstahl, Geschwätz, weder Sozial- noch Steuerreform führen ins unausweichliche – in einen todkranken jungen Staat. Ein Staat, der vermehrt seine inneren Truppen stärkt und faktisch keine kampfbereite Armee besitzt.

Und dann – die Besetzung der Krim. Die Schwelle zum Krieg. Einem echten, mit einem starken, aggressiven und knallharten Nachbarn. Der sich an der Schwelle zum Staatsbankrott befindet, ein passender Moment also, um den Schwächeren anzugreifen. Wir sind die schwächeren – ob ökonomisch, politisch oder hinsichtlich des Intellekts. Letzteres ist anhand der Wahlergebnisse – aller Wahlergebnisse – gut zu erkennen. Und wir sind willenlos, “syndromum apathicoabulicum” – so lautet unsere Diagnose.

Bald werden unsere parlamentarischen “Mitmenschen” – die heute etwas geknickt sind, aus Angst um sich selbst –, ihre Köpfe heben und eine eigene Stimme finden. Sie werden ihre Schultern zurecht rücken, und mit Blumen und Applaus den russischen Befreier-Soldaten empfangen. Einige werden es ehrlich meinen, andere, weil sie gewohnheitsmäßig Angst vor dem Stärkeren haben. Zu verraten, an fremder Milch zu nuckeln – das ist ihr Handwerk. Ihnen folgen werden die Herren Oligarchen, denen es recht gleichgültig ist, welche Flaggen-Farbe auf der Straße weht. Auch der bevorstehende Staatsbankrott kann ihnen nichts anhaben, weil sie ihr Geld wohlbedacht in den leisen und ruhigen schweizerischen und österreichischen Banken geparkt haben – dort, wo es keine Revolution gibt, keine Okkupation, keinen Staatsbankrott. Dort, wo die Politiker überhaupt kein Interesse daran haben, sich mit dem Herrn Putin über ein Land zu streiten, das es nicht gelernt hat, ein selbstständiger Staat zu werden.

Traurige Zeiten erwarten uns. Sogar ängstlich-beklommene Zeiten. Voller Tränen, Reue und dem nach wie vor ungefährlichen Studium der sumerisch proto-ukrainischen Kultur.

Herr Putin braucht den Krieg unbedingt. Ist doch der Krieg der Verbündete aller Tyrannen. Wenn es keinen äußeren Krieg gibt, dann übernehmen innere Aggressoren unterschiedlicher Ausprägung seine Funktion. Ihr Ziel ist es, ununterbrochen den Zustand der Gefahr zu simulieren – ob mit Hilfe von künstlich geschaffenen Mitteln oder imaginären Feinden. Wir sind für solch einen Krieg ein optimales Objekt – ein schwaches, ungefährliches und mit dem Gedanken der “fünften Kolonne” infiltriert. Es ist sehr einfach, uns zu besiegen. Sklaven stellen sich nur selten äußeren Feinden zur Wehr. Sie glauben immer daran, dass der neue Herr besser, gutmütiger ist. Sie, die Sklaven, wollen immer die öffentliche Hinrichtung des vorigen Tyrannen sehen, an ihr teilnehmen.

Aber was werde ich in dieser Situation machen? Ich, der es nicht gelernt hat und es sich auch nicht wünscht, schießen zu können, Waffen mit irgendwelchem brennbaren Gemisch zu werfen, und der es immer noch nicht erlernt hat, zu hassen. Ich werde meine eigenen “Briefe an den russischen Freund” schreiben, analog zu den “Briefen…” von Albert Camus, die er während der Okkupation Frankreichs durch die Nationalsozialisten verfasst hatte. Die Geschichte – sie wiederholt sich.

17. März 2014 // Semjon Glusman

Quelle: LB.ua

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 554

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