Auf dem Weg nach Schtschastja – im Frontgebiet
„Wenn eine GRAD-Rakete (Grad russisch für Hagel) abgefeuert wird, lässt man sich am besten auf den Boden fallen und hält still“, sagen die Kämpfer, „mit dem Gesicht auf dem Boden, völlig unbeweglich. Liegen und beten. In solchen Sekunden kannst du nichts mehr beeinflussen.“ Die Menschen an der Kampflinie scherzen über die GRADs: das ist nur Regen. Stahlregen. Tödlicher Regen. Aber manchmal hört der Regen auf.
Unweit von der Zufahrt nach Stanyzja Luhanska, einem kleinen Städtchen bei Luhansk, gibt es einen Kontrollpunkt, dem man ansieht, dass hier noch vor kurzem gekämpft wurde. Vom Artilleriefeuer abgeholzter Wald, die Baumwipfel abgeschnitten wie mit der Schere, eine Armee von Bäumen ohne Kronen, nur noch Stämme. Reste von Technik, manche in kleinste Trümmer zerschlagen. Ein völlig ausgebrannter Panzer. Ein Stück weiter ein paar zerstörte Gebäude und eine verlassene Tankstelle. Der Kontrollpunkt ist weiterhin in Betrieb. Im Vorbeifahren wenden wir uns den ukrainischen Streitkräften zu. Auf den Munitionskisten, die jetzt als Befestigung dienen, sitzt ein Plüschtier.
In Stanyzja Luhanska selbst halten wir bei einer vollkommen zerstörten Werkstatt. Drinnen ein Haufen verkohlter Trümmer, geschmolzenes Glas, als hätte das jemand verteilt wie Konfetti. Hunderte oder sogar tausende von Löchern, durch die das Licht hereindringt. Licht gibt es hier viel, es fällt von oben durch die Reste des Daches, wird von Aluminiumplatten zurückgeworfen, dringt durch die Einschusslöcher, so dass man die Augen schließen muss. Wir finden einen kleinen verkohlten Schlüssel, an der Tür ein halb verbranntes Schild: „Geöffnet“. Dabei graut es einem besonders. Ob der, der die Tür aufgeschlossen hat, noch am Leben ist?
Ein Stück weiter ein ganz und gar zerstörtes Geschäft. Die oberen Metallträger sind durchgebogen. Unter Feuereinwirkung nimmt Metall pflanzenähnliche Formen an. Wir sprechen mit Laryssa, einer Bewohnerin des Ortes. Ihr Haus steht nicht weit von dem zerstörten Geschäft. Ihre Schwiegereltern sind umgekommen. Eine Granate flog genau ins Haus, sie hat sie einfach in Stücke gerissen. Aber Laryssa und ihre Familie ziehen nicht weg. Niemand von ihren Nachbarn geht weg. Sie halten an ihren Häusern fest, als seien sie ein Teil von ihnen. Der Tag geht zu Ende. Rundum ist es still und leise. Die Sonne geht unter, vergoldet Häuser und Bäume, auf einmal ist es unglaublich schön. Man kann nicht fassen, dass in dieser wunderschönen Gegend Krieg herrscht.
Reise 1.3
Durch diese Orte an der Front fahren wir zusammen mit Volontären von „Wostok-SOS“. Junge Männer und Frauen, viele von ihnen stammen selbst von hier, aus dem Donbass. Ihren kleinen blauen Bus mit Trysub-Emblem (Dreizack, eigentlich Dreizahn das kleine ukrainische Staatswappen, A.d.Ü.) nennen sie ATObus (ATO – Antiterroristische Operation). Unsere Gefährten sind Jewhen Wassyljew, Julja Peljusowa, Milan Sajzew, Anton Holoborodko und Maksym Mojsejenko.
Wostok-SOS entstand aus zwei Menschenrechtsorganisationen: dem Luhansker „Postup“ („Schritt vorwärts“) und dem Zentrum für Menschenrechte „Dejstvije“(Handlung) von der Krim. Als der Krieg begann, richtete man zunächst eine Hotline ein und half, Leute aus dem Kriegsgebiet herauszubringen. Die Menschen fuhren ins Ungewisse und brauchten eine allererste Hilfe, bei der Suche nach einer Bleibe und der Versorgung mit dem Nötigsten.
Im August 2014 merkten die Volontäre, dass das noch zu wenig war. Dass es nötig war, in die Gebiete nahe der Front zu fahren. In Städtchen und Dörfer, die oft abgeschnitten sind vom normalen Leben, wo keine Lebensmittel ankommen und keine Medikamente vorhanden sind. Damit beschäftigte sich zu dieser Zeit sonst noch niemand.
Nun ist es schon ihre dreizehnte Fahrt, oder, wie sie es sagen: Reise 1.3. Jede dieser Fahrten kann eine Woche oder auch mehrere Wochen dauern. Die Volontäre besuchen einige Siedlungen am Tag und geben vorbereitete Hilfspakete aus, in denen Reis, Buchweizen, Zucker, Kondensmilch, Nudeln, je zwei Dosen Eintopf, Pastete und Fischkonserven sind. Außerdem fahren sie medizinische Ausrüstung für Krankenhäuser, Medikamente oder andere lebenswichtige Dinge, um die jemand persönlich gebeten hat.
Zu Anfang sammelten sie Spenden von Mitmenschen ein, inzwischen kann sich Wostok-SOS auch auf finanzielle Hilfe von internationalen Organisationen und anderen Ländern verlassen: von der EU, vom Fond „Widrodschennja“ (Wiedergeburt) sowie von einzelnen EU-Ländern. Auf die Reise 1.3 begeben wir uns mit Unterstützung aus Estland.
In vielen Dörfern entlang der Front sind keine Lebensmittelgeschäfte mehr in Betrieb. Sie sind nur da geöffnet, wo es Straßen und Verkehrsverbindungen gibt. Wo keine Verkehrsanbindung vorhanden ist, sind die Menschen ohne Lebensmittel und Medikamente, sie versorgen sich selbst, ziehen Gemüse und Obst. Jetzt ist Erdbeersaison, aber es ist kompliziert, die Erdbeeren irgendwohin zu transportieren. Die Ortsansässigen geben ihre Erdbeeren für 10-15 Hrywnja das Kilo her, wobei sie in Luhansk 100-140 Hrywnja das Kilo kosten können. Auf dem Weg nach Luhansk muss man entweder einen Fluss überqueren und fürs Übersetzen bezahlen oder durch Kontrollpunkte fahren, wo man pro Kontrollpunkt und Kiste 10 Hrywnja zahlt.
Renten werden ausgezahlt, aber um sie zu bekommen, kann es erforderlich sein, in einen anderen Ort zu fahren. Und man hat wieder das Transportproblem: manchmal muss man sich eine Mitfahrgelegenheit für 100 Hrywnja suchen.
Junge Leute gibt es hier fast nicht. Größtenteils sind Rentner geblieben oder ältere Leute, die sich mit letzter Hoffnung an ihre Häuser klammern.
Erdbeeren an der Frontlinie
Olena Sachariwna ist 76. Sie trägt ein altes lila Kleid mit rotem Blumenmuster und ein weißes Kopftuch über den grauen Haaren. Sie stützt sich auf einen selbst gemachten Stock, ihre Beine sind schwer und geschwollen. Sie hat Osteoporose: ihr Rücken ist steif, sie geht schwer und gebeugt. Wir treffen sie in Peredilske, direkt an der Front, einige Kilometer entfernt von Schtschastja. Nach Luhansk sind es etwa 30 Kilometer. Sie hat zwei Stunden in der Schlange für die Hilfsgüter angestanden. Ganz bis nach Hause kann sie ohne Hilfe nicht gehen. „Heute haben sie die ganze Nacht geschossen, die Fenster haben geklirrt, ich wusste nicht, wo ich mich hinlegen sollte, damit kein Glas auf mich fällt“, erzählt sie, „Gut, wenn sie einen sofort töten, aber was, wenn sie einen als Krüppel hinterlassen?“
Ihren Mann hat Olena Sachariwna vor sechs Jahren begraben. Sie hat drei Kinder, zwei leben in Luhansk. Ihr Sohn lebt in einem großen Wohnblock, wo von ehemals 36 Parteien nur noch sechs wohnen geblieben sind, alle anderen sind weggezogen. Per Telefon hält sie Verbindung zu ihren Kindern, aber jeden Tag anrufen kann sie nicht – zwischen ihnen verläuft die Front. Ihr älterer Enkel hat schon einen Pass der „LNR“ („Luhansker Volksrepublik“). Was er damit soll, ist nicht klar: in die Ukraine lässt man ihn damit nicht, nach Russland auch nicht. Der Zorn von Olena Sachariwna richtet sich gegen die „LNR“: „Warum zum Teufel wollten die sich abspalten, wenn sie überhaupt nichts können?“ Sie bleibt stehen und fängt an, mit ihrem Stock ein imaginäres Schema der Luhansker Infrastruktur in den Sand zu malen: woher der Strom kommt, woher das Wasser, woher die Lebensmittel. Aber auch die ukrainische Regierung kommt bei ihr nicht gut weg. Als Gouverneur Moskal der LNR das Wasser abdrehte, bedeutete das für sie nur eines: dass ihre Kinder und Enkel ohne Wasser waren.
Sie hat ein Haus aus weißen Ziegeln, einen Ziehbrunnen, aus dem sie ihr Wasser holt, einen akkurat geweißten Ofen, der ihr als Herd dient. Stühle und Geschirr sind alt, aber sauber und ordentlich. Drinnen riecht es angenehm frisch nach ukrainischem Bauernhaus.
Olena Sachariwna ist zum „Referendum“ gegangen. Man versprach den Leuten dort irgendwelche Karten. „Sie haben gesagt, ohne diese Kärtchen könnten wir gar nicht leben, zu nichts würde man Zugang haben. Da sind alle hingegangen, Kranke und Arme, alle haben stundenlang Schlange gestanden wegen dieser Kärtchen“, erzählt sie. Als sie an die Reihe kam, stieß ein junger Wachmann sie zurück. Er sagte, die Karte bekäme sie beim Exekutivkomitee. Aber für die Karte hat sie tatsächlich überhaupt nichts bekommen.
Wegziehen wird sie nicht. Sie könnte nirgends hin. „Ich habe kein Geld in der Tasche und keine Verwandten in irgendeiner Stadt. Und wie könnte ich all das hier hinwerfen? Das habe ich doch alles mit eigenen Händen aufgebaut. Die Leute hier wollen nur eins: dass es endlich aufhört, dass nicht mehr geschossen wird.“
Sie lässt uns nicht weg, ohne uns mit Erdbeeren beköstigt zu haben. Erdbeeren wachsen hier weiterhin, auf diesen sonnengegerbten Feldern, auf diesem sandigen Grund, unter diesen Granaten, die einem täglich über den Kopf hinweg fliegen. Süß sind die Erdbeeren, die süßesten der Welt.
Die leckersten Erdbeeren unseres Lebens haben wir hier gegessen, direkt an der Front.
Geschärftes Gerechtigkeitsempfinden
„Hier wird Ihnen niemand irgendwas erzählen“, sagt ein Mann mit dunkler Brille in Peredilske, „Hier ist der Grundsatz der meisten: nicht auffallen. Die Leute sind stiller als Wasser und niedriger als das Gras. Sie wissen alle, dass nur die Mitte überlebt.“
Manche, die in Peredilske oder in Schtschastja in der Warteschlange stehen, wollen nicht mit uns sprechen. Sie haben Angst vor Journalisten. „Jeder, der mit Journalisten geredet hat, hatte hinterher Probleme“, meinen sie, und dass sie verfolgt werden, auch, wenn wir das Diktiergerät gar nicht einschalten.
Aber die Mehrheit redet offen, über den Beschuss, über ihre Kriegsmüdigkeit.
Leonid Mykolajowytsch ist Rentner. Er sagt, er würde gern nach Luhansk fahren, wo er in der Fabrik gearbeitet hat, um eine Bescheinigung zu bekommen. Zurzeit bekommt er die minimale Rente, 949 Hrywnja, eigentlich sollten es etwa 2000 sein. Aber dafür braucht er Papiere, die in Luhansk sind, wohin er nicht durchkommt. Andere erzählen, wie schwierig es ist, die Erdbeeren zu verkaufen, dass man keinen Zugang zu Märkten hat, dass man sie denen überlassen muss, die sie schwarz auf dem Gebiet der LNR verkaufen.
Geschossen wird hier hauptsächlich nachts. Entweder, weil man dann seine Position besser verbergen kann, oder, weil dann die OSZE-Beobachter nicht im Einsatz sind. Aber es kommt auch vor, dass am Tage geschossen wird. Nach und nach gewöhnen sich die Leute schon an die Geräusche der Granaten, die über sie hinweg fliegen. „Die schießen und wir pflanzen Blümchen“, sagt eine unserer Gesprächspartnerinnen.
„Zum Referendum bin ich gegangen. Alle sind hingegangen. Alle haben für die Unabhängigkeit der LNR gestimmt. Warum? Keiner wollte Unannehmlichkeiten“, sagt uns Wiktor. Seine Schwester ist vor einem Jahr umgekommen, im August 2014. „Eine Granate hat sie zerrissen. Wir sind in die Leichenhalle gekommen, haben sie aus Teilen zusammengeflickt.“ Zwei Kinder hat sie hinterlassen. „Ich weiß nicht, wer Schuld hat, ich kann niemandem die Schuld geben. Das ist nicht das Volk, das da kämpft. Das Volk ist bei der Arbeit, in den Gärten. Die da kämpfen, das sind andre Leute.“
Viele hier geben der Ukraine die Schuld am Krieg. Viele auch Russland und den Separatisten. Aber die Mehrheit vermeidet es, darauf direkt zu antworten und wünscht sich, dass beide Seiten einfach das Feuer einstellen.
Wir wenden uns wieder dem geheimnisvollen Mann mit der dunklen Brille zu. Er hat, so sagt er, ein geschärftes Gerechtigkeitsempfinden. Er ist 77, obwohl er wie 60 aussieht. Er hat als Schiffsmechaniker gearbeitet, war schon auf dem Stillen Ozean, am Äquator und vor Kamtschatka. Nach seiner Rückkehr konnte er sich lange nicht einfinden. „Ich bin in den Mais bei mir hinterm Haus gegangen, damit mich keiner sieht, und habe geweint.“ Er hat seine eigene Sicht auf die Ereignisse. „Putin hat das alles angezettelt, und weiß selbst nicht, wie er sich da wieder raus winden soll“, sagt er und prognostiziert Russland das Schicksal der UdSSR nach Afghanistan. „Sehen Sie sich mal diese Kosaken in Stanyzja Luhanska an“, sagt er ironisch, „das war immer bloß Maskerade, man hat eher gedacht, die sind verkleidet. Und jetzt haben die automatische Gewehre und sind ernstzunehmende Leute.“
„Die Sowjetunion war auf Lügen gebaut“, sagt Oleksandr, ehemaliger Soldat. Seine Frau stammt gebürtig aus Lwiw. „Sie haben mir was von Bandera-Verehrern und Faschisten erzählt, und ich hab ihnen gesagt, dass das nicht stimmt, dass ich Leute aus Lwiw kenne und dass sie wunderbare Leute sind.“ Er spricht Russisch, zitiert Puschkin aus dem Kopf: „Wozu den Herden das Geschenk der Freiheit geben?/ Sie soll man schlachten oder scheren/ Ihr Los von einer Generation zur anderen/ Sind ein Joch mit Glöckchen und die Peitsche.“ Dieses Gedicht hält er auch für die Diagnose des gegenwärtigen Russlands. „Mein Land ist die Ukraine“, sagt er.
Schtschastja gehört zur Ukraine
Als wir Peredilske Richtung Schtschastja verlassen, kommt uns eine junge Frau auf dem Fahrrad entgegen. Sie fährt freihändig und hält im Fahren Arme und Hals in die grelle Sonne. Es scheint, als würde sie über nichts mehr nachdenken. Direkt hinter ihr fährt ein riesiger Militärlaster.
Rechterhand im Flüsschen stehen weiße Reiher, majestätisch und schweigsam, beruhigend und unbeweglich im Sonnenlicht, wie chinesische Porzellanstatuetten. Frieden und Krieg sind näher, als es auf den ersten Blick erscheint.
Am Kontrollpunkt neben den Eisenbahnschienen ragt eine Grad-Raketenhülse aus dem Boden wie ein großer Zeiger. Ein weiteres drei Meter langes Projektil von einer Grad sehen wir in Schtschastja, neben einem Geschäft. Auf die Wand darüber ist ein großer Vogel gemalt und es scheint, als säße er auf diesem todbringenden Stück Rohr wie auf der Stange.
Ins benachbarte Café ist im Februar eine Granate eingeschlagen: alle vier Mitarbeiterinnen, die darin waren, sind umgekommen. In den Häusern fehlt verschiedentlich das Glas in den Fenstern: sie sind mit Sperrholzbrettern vernagelt. Ein paar Balkone fehlen. Auf der Tür des Geschäftes ein Aufkleber mit der Aufschrift „Schtschastja gehört zur Ukraine!“ Wir fragen die Verkäuferin: „Haben Sie Angst?“ Sie arbeitet hier unter Beschuss, in einem Geschäft, wo jeden Tag eine Granate einschlagen könnte. „Ja, habe ich“, sagt sie, „aber wir Frauen sind ein starkes Volk.“ Auf ihre Hose ist mit Perlen ein Schmetterling gestickt.
Neue Grenze
Aus Stanyzja Luhanska kehren wir in der Dämmerung zurück. Die Militärs erinnern uns daran, dass ab neun Uhr mit Beschuss zu rechnen ist.
An einem der Kontrollpunkte lesen wir einen Jungen auf, Mykola. Er ist allein und geht zu Fuß. Er sagt, dass seine Mutter in Luhansk gestorben ist und er wollte aus Artemiwsk zu Fuß zur Beerdigung kommen. Er versuchte, die Kontrollpunkte zu überqueren, aber man ließ ihn nicht durch. Nun geht er zurück. Auch zu Fuß.
Die Regelungen für das Passieren der Grenze sind ein weiteres humanitäres Problem. Um aus der DNR oder LNR auszureisen, dauern die Formalitäten Wochen, manchmal mehr als einen Monat. Wenn man keine Genehmigung bekommt, kann man trotzdem auf illegalen Wegen hinübergelangen, z.B. mit dem Boot über den Siwerskyj Donez. Ob das Grenzschutzsystem vor Leuten schützt, die diese illegalen Wege kennen?
De facto ist das eine echte Grenze: zwischen der Ukraine und der DNR/ LNR. An jedem Kontrollpunkt stehen nicht nur Militärs oder Vertreter der inneren Streitkräfte, sondern auch Mitarbeiter des Grenzschutzes.
Aber es ist schlimmer als eine Grenze. Als wir in der Oblast Luhansk waren, waren alle Kontrollpunkte zwischen Ukraine und LNR geschlossen. Von beiden Seiten. Höchstens Vögel können rüber fliegen. Oder Grad-Raketen.
Stahlregen
An einem der Kontrollpunkte fragen uns die Soldaten, ob unter uns nicht jemand aus den Transkarpaten sei. Die hiesigen Soldaten stammen zum größten Teil aus der Westukraine und suchen Landsleute, verwandte Seelen.
An einem anderen bittet ein Soldat um Wasser. Wir geben ihm eine Flasche. Jewhen bietet ihm auch eine ukrainische Flagge an, die nimmt er freudig entgegen. An einem weiteren Punkt werden wir um Zigaretten gebeten. Und auch die haben wir dabei.
Die paar Autos, die an den Punkten vorbeikommen, sind manchmal die einzige Möglichkeit für die Soldaten, mit jemandem zu reden.
In Stanyzja Luhanska trafen wir Kämpfer der 128sten Brigade. Sie haben uns in ein Haus eingeladen. Die Bewohnerin ist vor einigen Jahren verstorben. Sie versammeln sich auf dem kleinen Hof. Von oben sind sie durch Weinreben geschützt, von den Seiten durch Tarnnetze. Ein runder Tisch, eine Büchse Sardinen, einige Metallbecher. Die meisten der Männer tragen Armeehosen und Gummisandalen. Sie machen schnell Tee und stellen einen Teller mit Keksen auf den Tisch.
Auf dem Hof steht ein kleiner Bus mit der Aufschrift „Drohne“; mit dem Humor ist hier draußen alles in Ordnung.
Sie freuen sich über Besuch, scherzen und lachen, stark und lebensfroh. Sie erinnern sich an Kämpfe.
Einer der Erfahrensten erzählt viel. Er hat eine Last auf der Seele. Alle Soldaten haben diese Last auf der Seele. Diese Leute sind gezwungen, den Tod zu bringen. Sie wollen ihn nicht. Sie sind friedliche Leute, die im Krieg gelandet sind. Bei der Ablösung ist einer von ihnen zum Priester gegangen. „Nach dem Krieg kommst du zur Beichte, tust Buße“, sagte ihm der Priester, „die Wahrheit ist auf deiner Seite.“ Diese Worte halten ihn aufrecht.
Sie wissen um die Tragödien rundum. Überall sind Minenfelder, wo Ortsansässige umkommen. Vor ein paar Tagen ging ein Mann mit seinen zwei Söhnen nach Luhansk. Er wollte einen anderen Weg finden, vorbei an den Kontrollpunkten. Im Wald sind sie an eine Landmine gestoßen. Den 14-jährigen hat es auf der Stelle zerrissen, der Vater ist auch umgekommen. Der andere 16-jährige Sohn war stehengeblieben, um sich die Schuhe zu binden, das hat ihm das Leben gerettet.
Wenn eine Grad-Rakete abgefeuert wird, lässt man sich am besten auf den Boden fallen und hält still, sagen die Kämpfer. Mit dem Gesicht auf dem Boden, völlig bewegungslos. Liegenbleiben und beten. „In solchen Sekunden kannst du nichts mehr beeinflussen. Bleib liegen und erinner dich an alle Götter, die du kennst.“
Leute an der Kampflinie scherzen über die Grads. Das ist einfach wie Regen. Stahlregen. Tödlicher Regen. Aber manchmal hört der Regen auf.
Sie glauben, dass dieser Regen aufhören wird.
6. Juli 2015 // Wolodymyr Jermolenko, Tetjana Oharkowa
Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja