Die Donbassisierung der Ukraine: Eine feudale Bombe unter unsere Staatlichkeit



Betrachtungen über die Besonderheiten des Donbass führen zum Gedanken, dass die dortige antistaatliche Rebellion das Resultat der Entwicklung der historischen Umstände ist. So kann der Rest der Ukrainer ruhig schlafen, ohne Angst haben zu müssen, von den Bürgern der nicht anerkannten „Republik“ aufgeweckt zu werden. Aber in der Tat droht ein Donbass-Szenario vielen Regionen, und zwar nicht nur im Osten und Süden.

Um das wahre Ausmaß der Bedrohung beurteilen zu können, ist es nötig, eine Zeit in der Position Moskaus zu verweilen und sich die ukrainische Regierung anzuschauen, und zwar insbesondere, wie die zentralisierte Verwaltung des Landes organisiert ist. Es ist kein Geheimnis, dass die Ukraine die heutigen Verwaltungsmechanismen als Erbe der UdSSR erhielt. Zunächst einmal kommt es zu einer Überregulierung, einem übermäßigen Zentralismus und Bürokratie, kurz gesagt, zu all den Dingen, die die Befürworter der Dezentralisierung beklagen.

Mit ihrer Kritik haben sie recht – die bestehenden Verwaltungsmechanismen erlauben den Regionen nicht, sich zu entwickeln, und überlasten das Zentrum mit lokalen Problemen. Eine Konzentration der Macht in der Hauptstadt bietet eine Reihe von Möglichkeiten des Missbrauchs und der Usurpation der Macht. Aber das ist nur die formale Seite. In der Tat ist die Ukraine nicht einfach dezentralisiert, sondern aufgeteilt in feudale Fürstentümer, die in dem Ausmaße dem Zentrum untergeordnet sind, dass die Interessen der lokalen Barone dem nicht entgegengesetzt sind.

Ein gutes Beispiel eines solchen Fürstentums ist der Donbass vor dem Krieg. In den Jahren der Unabhängigkeit kristallisierte sich hier sehr schnell eine starke lokale Elite heraus – die sogenannten „Donezker“. Sie konzentrierten in ihren Händen die ganze politische Macht sowie die wirtschaftlichen Ressourcen der Region. Dabei war der Einfluss Kyjiws auf den Donbass äußerst gering – die Versuche von Wiktor Juschtschenko, loyale Gouverneure zu einzusetzen, scheiterten.

Was die Regierung der „Donezker“ ist, sah die Ukraine zu Zeiten Janukowytschs, als sie begannen, „Fremde“ systematisch aus allen Bereichen der staatlichen Verwaltung zu verdrängen, die Finanzströme „auszupressen“ und sich die Geschäfte anzueignen. Die Spiele mit dem Separatismus sind nur ein besonderer Ausdruck der Selbstsicherheit der Donezker Fürsten, die es nicht nur wagten, sich der zentralen Regierung zu widersetzen, sondern sogar ein unabhängiges außenpolitisches Spiel zu führen. Dass der Kreml sie für seine eigenen geopolitischen Zwecke verwendet, ist nur eine sekundäre Wende des Ganzen.

Die Niederlage des Donezker Clans entfernte nicht das Problem, sondern stellte es nur klar. Schauen wir uns zum Beispiel das „Bernstein-Klondike“ Wolhyniens an [illegale Bernsteinsuche in den Waldgebieten Wolhyniens im Nordwesten des Landes; Anm.d.Ü.]. Trotz der harten Posts des Präsidenten auf Facebook kann der Raubbau nicht beseitigt werden. Vor kurzem wendete sich der Leiter der Oblastverwaltung an den Leiter des Innenministeriums mit der Bitte, ein Kontingent der Nationalgarde in die Oblast zu führen, um die Tyrannei der Räuber zu stoppen. Diese jedoch zögerten nicht, sich der Polizei zu widersetzen, und zwar bewaffnet. In etwa mit solchen Aufrufen wendeten sich Luhansker und Donezker Euromaidan-Aktivisten im Frühling 2014 an Kyjiw, als die Macht der Regionen in die Hände von Rebellen überging.

In diesem Fall geht es nicht um dreiste Verbrecher, sondern um die Unfähigkeit Kyjiws, noch eine Region zu kontrollieren. Wie sich herausstellte, funktionieren dort die Regierungsorgane nicht, und die Macht bleibt in den Händen der lokalen Fürsten. Es gelingt auch nicht, die Schmuggler in Transkarpatien zu bändigen. Dort richten lokale Fürsten sogar private Grenzübergangspunkte unter die Bewachung kleiner privater Armeen.

Dies sind jedoch nur die ungeheuerlichsten Beispiele für die Machtergreifung in den Regionen. In der Tat ist fast das ganze Land zwischen den lokalen Baronen aufgeteilt. Diese können auch finanziell-politische Gruppen genannt werden, oligarchische Clans oder was auch immer Sie mögen – das Wesen bleibt gleich. Für die lokale Bevölkerung bedeutet dies eine Usurpation von Macht und Ressourcen in den Händen einer begrenzten Anzahl von Leuten und für den Staat eine Schwächung der zentralen Macht sowie den Verlust der Kontrolle über das Land.

Hinsichtlich der quasifeudalen Zentralregierung ist dies ein Derivat des Konsens zwischen der Führung eines Landes und den lokalen Baronen. Im Übrigen muss jeder nächste Präsident das Abkommen neu verhandeln, indem er den Baronen Immunität garantiert. So zum Beispiel handelte Wiktor Juschtschenko, als er sich der separatistischen Erpressung der „Donezker“ unterwarf und mit ihnen einen informellen Nichtangriffspakt abschloss.

Nach dem Erfolg des Euromaidans erhielten die „Donezker“ die gewünschten Garantien nicht und griffen erneut zum Mittel der Erpressung, was für sie tödlich endete. Die Gefahr von Kyjiw witternd, begannen auch andere Barone, Widerstand zu leisten. Die zivilisierteren führen den Kampf in den Wänden der Werchowna Rada [des Parlaments; Anm.d.Ü.], und die weniger zivilisierteren verlassen sich auf ihre bewaffneten Gefolgsleute. Zurzeit ist Kyjiw konzentriert darauf, die Probleme des Donbass zu lösen und nicht besonders in die Probleme anderer Regionen einzugreifen. Aber die Konflikte mit den Baronen ist nur eine Frage der Zeit.

Im Falle einer Verschärfung des Kampfes zwischen dem Zentrum und den lokalen Baronen erwarten die Ukraine mögliche große Erschütterungen. Der Separatismus ist nur ein Sonderfall des radikalen Widerstands der lokalen Eliten gegen Kyjiw. Offensichtlich hat jeder Baron seine eigene Strategie zum Schutz ihrer Rechte: Die Donezker erpressen auf dreiste und brutale Art und Weise, die Vertreter der Transkarpaten sitzen still den Präsidenten aus, die Dnipopretrowsker legen säuberlich die Eier in verschiedene Körbe [Anspielung an den Geschäftsmann Kolomojskyj, der Abgeordnete in allen Fraktionen kontrolliert; Anm.d.Ü.].

Es ist offensichtlich, dass ein solches System von Beziehungen zwischen der Hauptstadt und den Regionen äußerst unzuverlässig ist und das ganze Land ständig der Gefahr einer „Donbassisierung“ läuft. Der Appetit der lokalen Eliten wächst, und die äußeren Kräfte sind bereit, diesen für ihre geopolitische Sabotage auszunutzen. Ganz zu schweigen davon, dass in einigen Regionen der natürliche Verbündete der Barone die lokale Bevölkerung ist, die in kriminellen Bereichen tätig ist, besonders in Wolhynien und den Transkarpaten.

Die derzeitige Regierung erbte dieses System aus den Zeiten Krawtschuks und Kutschmas, wird es wahrscheinlich als Erbe an die nächste Regierung weitergegeben und dabei die aktuellen Widersprüche bremsend. Früher oder später jedoch wird Kyjiw einen Krieg mit den örtlichen Baronen führen, da ihre absolute Macht jegliche Reform des Systems blockiert. Und dann kommt die Ukraine in die nächste Zone der Turbulenz – vielleicht sogar eine ernstere als den „Russischen Frühling“.

4. April 2016 // Maksym Wichrow

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Wiebke Pahl  — Wörter: 1025

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.