Dreizehn Prozent, die Moskau stören
Noch vor anderthalb Jahren haben Überlegungen zu den Krimtataren für die Ukrainer bei den exotischen Motiven des Sommerurlaubs aufgehört. „Tscheburek“, „Schurpa“, „Manty“ (Namen von Gerichten der lokalen Küche auf der Krim), nationale Kopfbedeckung und Tänze und dazu noch eine wohlklingende und unverständliche Sprache. Die Assoziationskette ging fließend in „Meer“, „Sonnenbräune“, „Berge“, „Wein“ und „Urlaub“ über. Das Fließende dieser Assoziationen lag daran, dass die Krimtataren als Teil der Landschaft empfunden wurden. Keiner wollte ihre Kultur und Geschichte näher begreifen, es war allen egal, wie sie leben.
Danach kam die Annexion der Krim und das kleine Volk fand sich an der Spitze eines großen Spiels wieder. Nun sind sie in einer Position, von der aus sie von beiden Seiten aufgefordert werden, sich anzuschließen. Kiew und Moskau kämpfen um das Recht, sie Verbündete nennen zu dürfen.
Das einzige Problem daran ist, dass niemand verstehen will: Sie wollen nicht jemandes Verbündete sein, sondern selbst leben können.
Wer die Krimtataren sind
Es ist leicht, ein großes Volk mit einem eigenen Staat zu sein. Wenn du eine Hauptstadt dein Eigen nennen kannst, eine Geschichte hast und einen Kollektivmythos.
Wie ist es aber, eine Minderheit zu sein, die sich immer in ein anderes Staatsprojekt hineinfügen muss? Die Krimtataren haben exakt diese Erfahrung gemacht.
Die insgesamt ca. 250.000 Personen machen lediglich 13 Prozent der Bevölkerung der Halbinsel aus. Sie sind Sunniten, genauer gesagt Hanafiten: In der Praxis bedeutet das, dass die Krimtataren gegenüber dem Weltlichen äußerst duldend sind, eingeschlossen ihrer Einstellung gegenüber Kleidung und Kosmetik.
Um es offen zu sagen, ist der Islam für viele Vertreter des Volks ungefähr das, was für den Alltagsmenschen das Christentum darstellt: Es ist eher eine Kulturtradition, als ein religiöses Paradigma. Versuche, radikale islamische Strömungen auf der Halbinsel zu verbreiten, gab es, sie fanden aber keine nennenswerte Unterstützung.
Die Fähigkeit, in einem anderen kulturellen Umfeld zu leben, brachte ihre Früchte: Die Krimtataren waren immer kompromissbereit eingestellt. Die rituellen Schauermärchen, sie würden kommen und alle erdolchen, haben sich nicht bewahrheitet – man ist, wo man war und alle leben.
Dreiundzwanzig Jahre lang hat man den Krimtataren zum Vorwurf gemacht, sich Land angeeignet zu haben, aber nach dem letztjährigen Landraub seitens Russlands ist die Erinnerung daran irgendwie absurd. Letztlich hat die Halbinsel all die nachsowjetischen Jahre über die Achse der Instabilität getrennt, die sich vom Balkan bis zum Kaukasus erstreckte.
Dabei gab es durchaus Vorbedingungen für Konflikte: Die Krimtataren sind erst Ende der Achziger bis Anfang der Neunziger von den Deportationsorten zurückgekehrt. Gleichzeitig hatte der Staat alles Mögliche im Sinn, nur nicht die Schaffung normaler Lebensumstände für die Menschen. Es gab keinen Ort zum Leben, Arbeit gab es nicht genug, die Unterstützung für die Rückkehrer war ungenügend.
Doch das metaphorische Gewehr an der Wand, das seit 1944 dort hing, hat, entgegen allen Gesetzen der Theaterwissenschaft, keinen Schuss abgegeben. Stattdessen haben die Krimtataren sich selbst neu erschaffen – von Grund auf und unter den neuen Bedingungen.
Schnittpunkt paralleler Geraden
Dabei blieben die Trennlinien auf der postsowjetischen Krim weiterhin dieselben – die Einstellung zum Zweiten Weltkrieg.
Es haben nun wohl schon alle den Satz gebraucht, der Zweite Weltkrieg sei für Russland zu einer Gesellschaftsreligion geworden, die Krimtataren aber sahen diese Realität all die Jahre über an sich angewandt. Marginale warfen ihnen oft vor, dass ein Teil der Krimtataren im Krieg aufseiten der Wehrmacht gekämpft hat.
Dabei erinnerten sich diese Marginalen nicht daran, dass auch Russen aufseiten der Wehrmacht kämpften. Wenn man sich aber daran erinnerte, begann ein Zahlenspiel, das den Prozentsatz an Kollaborateuren „bei denen“ als höher darstellte.
Die Logik hinkte, denn Kollaborateure konnte es nur dort geben, wohin die deutsche Wehrmacht gelangt war, deshalb wären Kollaborateure auch weder in Tomsk noch in Wladiwostok möglich gewesen. Wenn man darum überhaupt mit dem Taschenrechner heranginge, müsste man nicht die gesamte russische Bevölkerung in den Nenner stellen, sondern nur denjenigen ihren Teil, der auf den besetzten Gebieten lebte. Doch eine Logik der simplen Vereinfachungen war zu verführend, um sie nicht zu nutzen und den Krimtataren wurde diese Anschuldigung jedes Mal, ob mit Grund oder ohne, unter die Nase gerieben.
Das sah dumm aus. Zumindest deshalb, weil die Krimtataren keine alternative Deutung der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs schufen, wie das etwa in den baltischen Ländern geschah. Sie brachten keine Blumen an die Denkmäler für die Gefallenen und bauten keine Denkmäler für die, die aufseiten der Wehrmacht gekämpft hatten. Einer der größten Helden des Volks ist nach wie vor Amet-Han Sultan, der zweifach den Titel des Helden der UdSSR trug, ein verdienter Testpilot und der Protagonist des von den Krimtataren selbst gedrehten Films „Haytarma“ war.
Grundsätzlich wäre eine solche Einstellung zum Thema des Zweiten Weltkriegs ein wunderbarer Startpunkt für die Verbesserung der Beziehungen gewesen. Doch stattdessen wurde den Krimtataren nur wenige Monate vor den Ereignissen des „Krim-Frühlings“ vom Generalkonsul der Russischen Föderation auf der Krim Wladimir Andrejew Verrat und Kollaboration mit der Wehrmacht vorgeworfen.
Es war auch von Bedeutung, dass die Krimtataren die in der Mehrheit der Krim-Bevölkerung populären sowjetophilen Stimmungen nicht teilten. Es konnte auch nicht anders sein, denn sie waren es, die 1944 von der UdSSR ihrer Heimat beraubt wurden, indem sie nach Zentralasien deportiert wurden. Deshalb waren die Krimtataren vor dem Hintergrund der Sowjetophilie ausgesprochen postsowjetisch geprägt.
Eine Sache für sich
Bereits diese Prägung alleine hob die Krimtataren von der Restbevölkerung der Krim hervor.
Denn auch die Einwohner der Krim, die sich in der Volkszählung als „Ukrainer“ eintrugen, sahen die eigene Ethnie oft nur als kulturellen, aber nicht als politischen Standpunkt. Auch in dem Milieu der Krim-Ukrainer gab es dabei Stimmungen der Sowjet-Nostalgie. Nicht umsonst unterstützten die Krimtataren in den Wahlen immer und diszipliniert die politischen Kräfte in Kiew, die nicht auf dem Thema einer Rückkehr in die Sowjetunion herumritten.
Dabei blieben sie eine Sache für sich. Denn ein Ukrainer kann nach Cherson umziehen, die Russen in die Region Krasnodar, die Krimtataren aber haben keine andere Heimat als die Krim.
Deshalb blieben Sie nach der Annexion in einer Situation, in der die Unannehmlichkeit der neuen Realität mit der Unmöglichkeit kombiniert ist, dieser zu entfliehen.
Die letzten dreiundzwanzig Jahre hinweg wurde den Krimtataren vorgeworfen, sich in das Umfeld der Krim nicht integrieren zu wollen. Vorwürfe, sie würden sich an der eigenen Segregation aufhängen, ein eigenes ethnisches Parlament zu haben, den Kurultaj (Qırımtatar Milliy Qurultayı), und eine Regierung, den Medschlis (Qırımtatar Milliy Meclisi). Doch in einem gewissen Sinne war all das gesetzmäßig, denn außer den Unterschieden der Mentalität hatten die Krimtataren nichts, in das sie sich hätten integrieren können.
Die 90-er und 2000-er waren ein Zeitraum des oligarchischen Darwinismus. Und der hat nicht auf die Ethnie derer geschaut, die zwischen seine Zähne kamen.
Abwesenheit von Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, Auspressen des Kleingewerbes, Raubzüge der Beamten – auf der Krim, wie auch in der Ukraine insgesamt gab es gar keine übergeordneten Vorstellungen und Ideen. Die Krim war verschlossen in der Sackgasse der eigenen Weltempfindung und sich in ein solches System integrieren will niemand. Vor diesem Hintergrund sah aber die östlich-muslimische Tradition der gegenseitigen Hilfe wie eine Überlebensgarantie aus. Es gibt nichts Erstaunliches darin, dass es nur dann Sinn macht, sich zu integrieren, wenn die neuen Eigenschaften attraktiver scheinen, als die alten.
Der Maidan brachte der Ukraine eine Chance, das Land nach neuen Regeln wiederaufzubauen, doch die Krimtataren hatten keine Gelegenheit, diese Chance zu nutzen. Der „Krim-Frühling“ nahm ihnen die Revolution und bescherte sie mit einer Konterrevolution. Nun fanden sie sich am Scheideweg wieder.
„Zwang zum Dialog“
Die Integration der Krimtataren ist für Moskau eine Frage des Prinzips. Denn nur sie stören gerade die Statistik über die nordkoreanisch anmutende Einheit in der Unterstützung der neuen Staatszugehörigkeit der Halbinsel.
Wenn deren politische Führer den „Krim-Frühling“ unterstützt hätten, könnte man über eine Einheit sprechen, die es auf der Krim gäbe. Doch bisher erinnert alles an die alte Wahrheit, „eine ehrliche Person hindert manchmal die ganze Gemeinschaft, sich als rechtschaffene Menschen zu fühlen“.
Deshalb zog Moskau es vor, sich der Krimtatarischen politischen Führer zu entledigen, indem es Mustafa Dschemilew (Mustafa Abdülcemil Cemilev) und Refat Tschubarow (Refat Abdurahman oğlu Çubarov) verbat, auf die Krim einzureisen. Danach versuchte man, neue moralische Autoritätspersonen für die Krimtataren ins Amt zu setzen. Die Wahl fiel auf Remsi Iljasow, den ehemaligen Vize-Chef des Medschlis, dem man dafür mit dem Posten des Vize-Sprechers in der Regierung der Krim ausstattete.
Auch verschiedene marginale Bewegungen des Krimtataren-Milieus versuchten, die Situation auszunutzen und ihre Loyalität gegenüber Moskau gegen Sitze und Mandate einzutauschen.
Doch für den Kreml gibt es in der gesamten Geschichte mit den Krimtataren ein wichtiges Detail: Dort ist es eine Sache des Prinzips, das Volk zu den eigenen Bedingungen zu „integrieren“. Im russischen System gibt es nur ein Einflusszentrum, das ist der Staat. Außersystemische Spieler sind den Spielregeln nach nicht möglich.
Und der jüngste Besuch der polizeilichen Exekutive bei dem einzigen krimtatarischen Fernsehsender ATR, der es sich vorbehielt, außerhalb des Rahmens der „einstimmigen Befürwortung“ zu bleiben, ist ebenjene Politik zum Raub des Subjektstatus eines Volks. Denn, wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Halbtöne existieren nicht.
Wenn die Krimtataren nun die neue Realität anerkennen, wenn sie sich bereiterklären, in das System zu den Bedingungen des Systems eingebaut zu werden, werden sie dem Modus des demonstrativen Wohlwollens ausgesetzt.
Es werden dann Posten und Dienstausweise verteilt werden und die Türen der Kabinette offen stehen. Dafür muss man nur eine Kleinigkeit erfüllen: Ramsan Kadyrow in der öffentlichen Rhetorik ähnlich sein.
Und glauben Sie, es ist nicht die leichteste Wahl, vor allem, wenn man bedenkt, dass nicht nur die positive Antwort, sondern auch eine Absage Folgen haben wird.
30. Januar 2015 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda
Übersetzung aus dem Russischen: Trajectus