Der eigene Hurensohn



Der ukrainische Präsident nennt die Landeskirche „ein absolut notwendiges Attribut eines unabhängigen Staates“ und viele von uns sind damit einverstanden.

Die Autokephalie gilt als natürliche Fortsetzung der nationalen Emanzipation, die 2014 begann.

Eigenes Land – eigene Kirche. Eigenes Land – eigene Institutionen, Regeln und Gesetze. Eigenes Land – eigene Geschichte, Kultur, Symbolik, Nationalhelden. Es ist sehr interessant und angenehm darüber nachzudenken, zu reden und zu schreiben.

Aber jede Emanzipation hat eine andere, weniger attraktive Seite.

Eigenes Land – sind ebenso eigene Ganoven, eigene Idioten, eigene Verbrecher. Eigenes Übel, welches du nicht mehr mit jemand anderem, als mit dir selbst assoziierst. „Ja, dass ist unser Hurensohn“ – mit dieser aufrichtigen Anerkennung beginnt eine echte Unabhängigkeit und Zivilisationsreife.

Damit klappt es jedoch in der unabhängigen Ukraine noch nicht.

Eine kritische Haltung gegenüber der ukrainischen Realität, die für unsere Gesellschaft charakteristisch ist, entspricht nicht der Selbstkritik. In der Regel befinden sich Menschen und Phänomene, die wirklich zu unser eigen geworden sind, jenseits der Kritik.

Und die ganze Kritik wird mit etwas Fremdem identifiziert und der Ukraine und den Ukrainern aufgezwungen – mit dem „volksfeindlichem Regime“, „Oligarchen“, „Sowjetgewohnheiten“, „der russischen Welt“ und so weiter.

Entweder ist das nicht unser Hurensohn, oder er ist kein Hurensohn. Entweder unser #Sieg, oder der #Verrat eines anderen.

Dieser Ansatz ist überall üblich. Egal, um was es sich handelt.

Petro Poroschenko ist ein mutiger, ehrlicher und erfolgreicher Staatsmann. Oder auch „Verräter“, „Feind“ und „Walzmann“ (von Poroschenkos Gegnern gestreutes Gerücht, über die angebliche Namensänderung von Poroschenkos Vater vom jüdisch klingenden Walzmann zu Poroschenko, A.d.R), das heißt, ein fremdes Element, dessen Interessen den Interessen des kämpfenden Landes völlig widersprechen.

Nadija Sawtschenko ist eine emotionale, aufrichtige und furchtlose Nationalheldin. Oder eine niederträchtige russische Sabotageagentin, die von Putin angeworben wurde.

Kämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) sind Ritter ohne Furcht und Tadel, nicht imstande, unschuldiges Blut zu vergießen. Oder eben verkleidete NKWD-Leute, die Zivilisten mit einem provokativen Ziel töteten. (Spielt auf die in Patriotenkreisen beliebten Legenden an, dass Gräueltaten an der Zivilbevölkerung im Partisanenkrieg der 1940er Jahre nicht von den Nationalisten der OUN/UPA, sondern von verkleideten Sowjetgeheimdienstlern vorgenommen wurden, um den nationalistischen Widerstand zu diskreditieren. A.d.R.)

Ukrainische Rückständigkeit, Analphabetismus und Ineffizienz – eine bösartige Verleumdung unseres Land. Oder ein schweres totalitäres Erbe, das in keiner Weise mit der freien Ukraine verbunden ist …

Hinter dieser Entschiedenheit verbergen sich offensichtlich unsere inneren Komplexe.

Für die meisten Patrioten bleibt die unabhängige Ukraine immer noch etwas Umstrittenes und erfordert eine schöne Argumentation.

Der Kreml stellt unser Recht auf ein unabhängiges Leben infrage – und wir zweifeln unwillkürlich mit ihm. Es scheint uns, dass jedes Negative die Idee der ukrainischen Souveränität kompromittieren wird.

Jedes Problem inneren Ursprungs wird vom Unvermögen des ukrainischen Projektes zeugen.

Jeder Hurensohn, als der eigene erkannt, diskreditiert die ukrainische Unabhängigkeit. In unseren Augen sollte alles, was durch die nationale Ukraine erzeugt wird, ideal aussehen.

Das Gefühl der Verwundbarkeit und des Selbstzweifels verwandelt sich in schmerzhaft aggressiven Perfektionismus.

Indes ist jeder reife Staat von solchen Komplexen befreit.

Ernsthafte Probleme oder ihr Fehlen gelten nicht als Argument gegen die Souveränität oder zu ihren Gunsten. Wenn Brasilien durch Korruptionsskandale erschüttert wird, kommt niemandem auf die Idee, dass die brasilianische Unabhängigkeit sich nicht gerechtfertigt hat, und es zur Herrschaft der Portugiesen zurückkehren muss.

Wenn Griechenland in einer Wirtschaftskrise steckt, denkt niemand an die Wiederherstellung des Osmanischen Reiches innerhalb der Grenzen von 1820.

Wenn Kroatien sich für die Verbrechen der Ustascha während des Zweiten Weltkrieges entschuldigen muss, betrachtet dies niemand als Grund für die Wiederherstellung Jugoslawiens.

Wenn es in Malta oder in der Slowakei aufgrund des Mordes an Journalisten zu einem Aufruhr kommt, glaubt niemand, dass die Malteser nicht in der Lage sind ohne britische Vormundschaft zu leben und die Slowaken – ohne Ungarn oder Tschechien.

Und für die Ukraine ist es sehr wichtig zu einer solchen inneren Lockerheit gelangt.

Das eigene Land ist nicht der Raum des idealen oder wünschenswerten, sondern ein Raum des realen und möglichen.

Die Logik deutet darauf hin, dass selbst in der günstigsten Entwicklung der Ereignisse, der Prozentsatz der Idioten und Schufte in der unabhängigen Ukraine nicht geringer als im unabhängigen Polen, Irland, Kolumbien, Rumänien oder einem anderen Staat sein wird.

Das ist natürlich kein Argument gegen die ukrainische Unabhängigkeit. Und das ist natürlich kein Grund, die nationale Dummheit und Gemeinheit zu ignorieren oder diese beschämend zu verleugnen.

Lassen Sie uns ein einfaches Beispiel geben. Gibt es ukrainische Neonazis?

Natürlich gibt es diese – wie amerikanische, italienische, ungarische, griechische oder russische. Dennoch war dieses Thema für unsere progressive Öffentlichkeit schon immer tabu.

Jugendliche mit spezifischer Rhetorik und Symbolik wurden entweder zu Kremlprovokateuren erklärt, die keinen Bezug zur Ukraine hätten (diese Ansicht herrschte vor dem Krieg); oder wurden als normale rechte Patrioten betrachtet, in deren Weltsicht nichts verwerflich ist (diese Einschätzung hat sich kürzlich durchgesetzt, und oft gehören zu den „normalen Patrioten“ diejenigen, die vor ein paar Jahren „Provokateure“ genannt wurden).

Eine ehrliche Anerkennung des Problems für viele ist gleichbedeutend mit Verrat, mit einem Zuspielen für Moskau und der Untergrabung der ukrainischen Staatlichkeit. Die zivilisatorische Reifung der Ukraine wird gerade dann erreicht werden, wenn die Moskauer Hysterie von unserem eigenen Dialog über unsere eigenen Neonazis überschattet wird. Welche eine interne ukrainische Angelegenheit waren, sind und auch immer bleiben werden.

Es ist leicht, sich ein unabhängiges Land zu nennen. Es ist schwieriger, sich wie ein unabhängiges Land zu fühlen, dessen Souveränität selbstverständlich ist.

Wo die nationale Negativität keine irrationale Leugnung verursacht („Bei uns ist alles super!“), noch die fieberhafte Verschiebung der Zeiger („An allem sind die Feinde und die Verräter schuld!“), noch ein zerknirschtes Aufgeben („Land 404“).

Wo man über Korruption, Xenophobie, Gewalt, Unfreiheit oder schwarze Seiten der Vergangenheit streiten kann, ohne dabei von einem Extrem zum anderen zu eilen.

Es gibt Situationen, die einen zwingen, sich mit dem Bösen zu versöhnen, weil es das eigene und kleinere ist. Es gibt Situationen, die einen kompromisslosen Kampf gegen das Böse erfordern, selbst wenn es das Eigene ist.

Aber auf jeden Fall ist es notwendig, sich nüchtern dem eigenen Bösen zu stellen und dann eine den Umständen angemessene Wahl zu treffen.

Die Fähigkeit, sich mit dem eigenen Hurensohn auseinanderzusetzen – ist eine nicht weniger wichtige Eigenschaft der Unabhängigkeit, als das nationale Pantheon der Helden oder eine einheitliche Landeskirche.

4. Mai 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Yuliya Komarynets  — Wörter: 1045

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