Soziale Netzwerke sind eine große Sache. Ich bin mir sicher, dass wir bis heute noch nicht verstanden haben, wie stark sie unser Leben verändert haben. Vor allen Dingen haben sie Prozesse und Erscheinungen sichtbar gemacht, die bisher nur für Spezialisten aufgrund spezieller Untersuchungen sichtbar waren. Wie zum Beispiel das Phänomen der sogenannten „25 Prozent“, das heißt der Leute, die für sich entschieden haben, dass sie bessere Ukrainer sind als die sogenannten „73 Prozent“.[Dabei handelt es sich um die Wahlergebnisse im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen von 2019. A.d.R.] Wenn es keine sozialen Netzwerke gäbe, wären wir nicht einmal auf die Idee gekommen, dass etwas Derartiges existiert. Obwohl ich mich ausgezeichnet an die 90er Jahre erinnere, als im Umfeld von sogenannten nationalbewussten Aktivisten ein Gefühl von Überlegenheit gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung herrschte, die „statt der Sprache die [sowjetische] Wurst“ bevorzugte – aber das blieb von der breiten Allgemeinheit unbemerkt.
Nun möchte ich über den „neuen“ ukrainischen Patriotismus sprechen, als spezifische Erscheinung des letzten Jahrzehnts. Denn genau im letzten Jahrzehnt ist es modern geworden, ukrainischer Patriot zu sein. Genauer gesagt, es ist zur gesellschaftlich akzeptierten Norm geworden. Eine Folge davon ist, dass Tausende Menschen mit tiefgreifenden psychischen Komplexen darauf verfallen sind, Selbstbestätigung in ihrem Patriotismus zu finden. Und ich sage nicht einmal, dass sie lügen, sie können sogar vollständig daran glauben, dass sie aufrichtige Patrioten sind. Zum Beispiel eine meiner Bekannten: Eine durch und durch russischsprachige Kyjiwerin, die durch halb Russland getrampt ist und sich ständig, wenn nicht in Moskau, dann in St. Petersburg herumtrieb. Kürzlich stellte ich mit Verwunderung fest, dass sie mich aus ihren Facebookfreunden entfernt hatte. Ich ging auf ihre Seite und… Sagen wir, ich war sehr erstaunt. Überall Poroschenko, Armee, Sprache, Glaube [Wahlslogan von Poroschenko 2019, A.d.Ü.], Reden über das undankbare arme Bauernvolk, das war alles. Die Auflösung ist einfach: Meine Bekannte ist ein Familienmensch geworden, hat den Kontakt mit ihrem früheren Kommunikationsumfeld beendet und ein neues Umfeld aus patriotischen jungen Müttern für sich gefunden, wo alle einander unterstützen. Die Liebe zu Poroschenko und das Bekenntnis zu nationalistischen Idealen ist in diesem Umfeld unbedingt erforderlich, um „Zugehörige“ und „Fremde“ zu erkennen. Sie ist also vollkommen aufrichtig eine „Zugehörige“ geworden. Für sie lohnt sich das. Genau so kommen Menschen in religiöse Sekten und fangen plötzlich intensiv an, an einen Gott zu glauben, dessen Existenz sie bis dahin gar nicht in Erwägung gezogen hatten.
Es gab tausendfache Verbreitungen von absolut gedankenlosen pseudohistorischen Posts auf Facebook über einige Tausend Ukrainerinnen, die 1950 in den Sümpfen auf der Kolyma [von Zwangsarbeitern gebaute Straße im Norden von Sibirien, A.d.R.] ertränkt wurden, oder darüber, dass die Krim 1954 gegen das Randgebiet Taganrog eingetauscht wurde. [Tatsächlich wurde Taganrog bereits bereits 30 Jahre vor der Krim im Oktober 1924 der Russischen Sozialistischen Föderativen Republik zugeschlagen. A.d.R.] Oder die an den Haaren herbeigezogene „Neuigkeit“ über Tausende bewaffnete Burjaten im belarussischen Teil der Tschornobyl-Zone, von einem meiner Bekannten.
Oder das hier: Ein patriotischer Kommentator beweint die Opfer der Abschlachtungen von Baturyn [1708 im Rahmen des Nordischen Krieges von russischen Truppen nach Belagerung eroberte Stadt im heutigen Gebiet Tschernihiw, die damals die Hauptstadt des Hetmans Masepa war, der nach einem Seitenwechsel für Schweden kämpfte. A.d.R.], etwa in diesem Stil „denkt euch nur, Tausende getötete Frauen und Kinder, genauso hat es mit Moskaus Wir-sind-nicht-dort-Haltung angefangen, diese Tragödie kann sich ein gesunder Mensch nicht einmal vorstellen.“ Doch schon im nächsten Post lobt er Bandera und Schuchewytsch, obwohl weder die Organisation Ukrainischer Nationalisten unter Stepan Banderas Führung (OUN-B) noch die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) in ihren Berichten einen Hehl aus massenhaften Tötungen von Frauen und Kindern nach ethnischen Kriterien (aber nicht nur danach) gemacht haben. Wie kann so etwas sein? Nun, sehr einfach: Das hier sind unsere Frauen und Kinder, unschuldige Opfer, doch das dort sind feindliche Frauen und Kinder – sie sind ja noch nicht einmal richtige Frauen und Kinder, sondern einfach feindliche, okkupierende Unterdrücker. Sie haben das verdient!
Wenn dieser Ansatz in der Vergangenheit funktioniert hat, warum sollte er dann nicht auch in der Gegenwart funktionieren? Und so tauchen irgendwoher Bewohner des Donbass auf, vier Millionen an der Zahl, die alle sofort einmütig Putin herbeigerufen und gleichermaßen einmütig ukrainische Truppen blockiert haben. Tatsächlich sehen wir auf allen Videos von der Blockade höchstens ein paar Dutzend Blockierer, aber wen interessiert das? Sie sind aus dem Donbass, also sind sie schuldig! Der Donbass gehört zur Ukraine! Keine Widerworte!
Und die Bewohner der Krim? Ihr habt kein Wasser mehr? Das habt ihr verdient, ihr hättet ja nicht auf dem okkupierten Territorium bleiben müssen! Es ist doch ganz einfach, das eigene Haus, die Arbeit, die Freunde zu verlassen und dahin umzuziehen, wo sie dich liebend gern als Separatisten bezeichnen, der Putin gerufen hat und der höchstpersönlich die Schuld am Tod unserer Jungs trägt. Was ist da schon dabei?
Der ein oder andere mag denken, dass die Überschrift dieses Artikels unmittelbar in Bezug zu Petro Olexijowytsch Poroschenko steht. Tatsächlich nicht. Sein mediales Bild ist lediglich zum Blitzableiter für Tausende desorientierte Bürger geworden, die vom Erscheinen eines ukrainischen Anführers geträumt haben, der die Spitze einer bestimmten weltanschaulichen Hierarchie verkörpert. 25-prozentiger Patriotismus oder, anders gesagt, Ein-Viertel-Patriotismus besteht dann, wenn die zum Heimatland erklärte Liebe bedeutend geringer ist als der Wunsch, „den Zugehörigen“ zu gefallen und seinen Status im entsprechenden eigenen Umfeld zu erhöhen. Zur realen Ukraine hat das allerdings kaum einen Bezug.
Leider setzen zahlreiche politische Populisten auf diese Viertel-Patrioten, besonders auf die in den sozialen Netzwerken sichtbaren. Dazu schüren sie besonders Hass gegen die Bewohner des Donbass und der Krim, indem sie die Konstruktionsmuster der Kreml-Propaganda mit realen Inhalten füllen. Und nicht nur von Krim und Donbass – gerade jetzt lese ich viele „warmherzige“ Worte über politisch unrichtige Huzulen, die bei Wahlen nicht diejenigen unterstützt haben, die sie sollten. Das ist eine zuverlässige Propagandamethode: Wir sind die Besten, die anderen sind minderwertig. Lasst uns vereinen im Umkreis unserer Ideale und unseres Anführers, der sie verkörpert. Fälle, in denen solche Rhetorik jemandem geholfen hätte, kennt die Geschichte allerdings nicht.
31. März 2021 // Pawlo Subjuk
Quelle: Zaxid.net
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