Fünf pathologische Merkmale des ukrainischen Patriotismus
Egal was die Skeptiker meinen, aber es gibt ihn, den ukrainischen Patriotismus. Die ukrainische Gesellschaft weist patriotische Gefühle auf, die zu beachten sind.
Ungeachtet ideologischer Vorurteile, erweist sich der Patriotismus als ein Anreiz sich selber mit dem eigenen Vaterland, das heißt mit der Gesellschaft (der Nation), dem Staat oder dem Territorium (der Heimat) identifizieren zu wollen. Ein solcher Anreiz ist vor allem für die Individuen selber (für den „durchschnittlichen Ukrainer“) vorteilhaft , weil sie sich dadurch mit der Tatsache der Existenz anderer Menschen, Polizei und Staatsdiener inbegriffen, anfreunden können. Sowohl die Bürokratie als auch der Staatsapparat sind für den Patrioten legitim, da sie als Inbegriffe seines Vaterlandes fungieren. Dabei neigt jeder anständige Patriot gelegentlich dazu, sein Vaterland dem Boden gleichmachen zu wollen, aber jedes Mal lediglich in dem Glauben, an seiner Stelle ein besseres Vaterland errichten zu können. So gesehen ist das Gefühl des Patriotismus nicht nur angenehm, sondern auch nützlich. Dieses Gefühl wird von den Führungseliten gepflegt, die sich über seine Bedeutung sehr gut im Klaren sind. Der patriotische Diskurs wird im Auftrag politischer Eliten von den Intellektuellen eingeleitet. Anschließend werden gelungene Konzepte unter einem minimalen administrativen Beistand in der Gesellschaft verbreitet. Dabei entsteht unter den breiten Massen der Gesellschaft ein unerschütterlicher Glaube daran, dass diese Ideen ein Erbe ihrer Vorfahren sei.
Diesbezüglich sind die Ukrainer keine Ausnahme. Zu der Zeit, als die Unabhängigkeit unserem freiheitsliebenden Volk in den Schoß fiel, war es notwendig ein neues Modell des Patriotismus kreieren zu müssen, das sich von dem sowjetischen Modell unterscheiden sollte. Ziemlich überstürzt und schablonenhaft wurde das neue Modell geschaffen, dem es aber an Funktionsfähigkeit mangelte. Allmählich machte sich die Spaltung innerhalb der Regierungsschicht bemerkbar. Nachdem eine wirtschaftliche und territoriale Aufteilung bereits im Gange war, machten sich politische Gruppen des Landes an die Aufteilung des ideologischen Raumes heran. Dies hatte zur Folge, dass erstens eine Weiterentwicklung des Konzeptes des ukrainischen Patriotismus verlangsamt wurde und zweitens eine innere Differenzierung des Wortes zustande kam: im östlichen gelegenen Luhansk weist das Wort „Patriotismus“ eine ganz andere Bedeutung auf als im westlichen Lwiw. Fakt ist, dass es in der Ukraine unterschiedliche einander hart bekämpfende Ausprägungen des Patriotismus gibt, die weder gegenseitige Anerkennung anstreben noch zu Kompromissen bereit sind. Infolgedessen büßt das Konzept sein Anreizpotenzial ein.
Die „ukrainische“ (bzw. „proukrainische“) Version des Patriotismus weist ein einziges Manko auf, sie ist unfähig die ganze Gesellschaft anzusprechen. Dabei besitzt das Modell alle dafür benötigten Dinge: einschlägige Texte, ein Heldenpantheon, Rituale und eine eigene Anhängerschaft (Intellektuelle, Künstler, Aktivisten aus der Gesellschaft). Darüber hinaus besitzt dieses Konzept auch eine innere Logik. Dennoch reicht sein Wirkungsradius kaum über den Dnipro (Dnjepr) hinaus.
Diese bedauernswerte Lage ist auf fünf Ursachen zurückzuführen. Die erste Ursache liegt in einer Verabsolutierung der Rolle der Sprache. „Die Sprache lädt zu einem Zusammenschluss ein, zwingt aber nicht dazu“, schrieb seinerzeit Ernest Renan und er hatte recht. Die sprachliche Einheit hat weder die englisch-irische noch die britisch-amerikanische Feindschaft verhindern können. Man redet auch nicht von einem Verwandtschaftsgefühl zwischen den Spaniern und den Mexikanern. Dabei kann eine hart verfolgte sprachliche Assimilierungspolitik jeden gegen jeden aufbringen. Insbesondere gilt dies für die Ukraine, wo ein ziemlich großes Territorium kompakt von russisch sprechenden Einwohnern besiedelt ist. Einzelne Menschen lassen sich schnell assimilieren, während größere Gruppen bis zuletzt dagegen ankämpfen werden. Die Einwohner Galiziens, die einst unter dem polnischen repressiven Assimilierungsdruck lebten (und überlebten!) wissen dies nur zu gut.
Die Lage wird zusätzlich dadurch verschlimmert, dass der „proukrainische“ Patriotismus zu stark an die Vergangenheit gerichtet ist. Ein „bewusster Ukrainer“ muss ständig alles an der Vergangenheit messen bzw. messen lassen. Was würde Bandera1 dazu gesagt haben? Für wen kämpften eure Vorfahren in der Schlacht von Konotop?2 Wer von euch sind die Nachkommen von bösen Eindringlingen? Allmählich geht das patriotische Denken in ein mythologisches Denken über, wobei diese Mythen sehr oft verdreht werden. Die bewegende Kraft der Geschichte wurde schon in unendlich vielen Büchern beschrieben. Aber die Geschichte selber ist ein ziemlich bedingtes Phänomen. Deswegen ist es sehr verlockend neue alternative nationale Mythen ins Leben zu rufen, um somit das eigene politische Kapital aufstocken zu können.
Dennoch kann nicht mal ein bestens kreierter historischer Mythos einen Erfolg bescheren, weil ein Durchschnittsmensch hinreichend vernünftig ist, um seine eigenen Interessen nicht mit den Zielen der Helden aus der Vergangenheit gleichzusetzen. Es darf auch auf keinen Fall die Tatsache missbraucht werden, dass jeder Teil des Landes sein eigenes historisches Schicksal hat. Sobald wir uns konsequent an den historischen Wurzeln festhalten würden, würden wir viele vorwiegend unangenehme Überraschungen erleben müssen. In Luhansk müsste man dann doch ein Denkmal für Katharina II errichten. Zugegeben, sie hatte die Saporoger Sitsch3 vernichten lassen, aber sie leitete eine industrielle Entwicklung in dieser Region ein. Die Galizier würden einem unangenehmen Klärungsbedarf mit den Polen gegenüberstehen, während die Einwohner der Krim ähnliche Gespräche mit den Russen und Tataren durchführen müssten. Sobald die Vergangenheit für den Patrioten als eine Messlatte dient, bringt er sich in eine schwierige Lage.
Ein weiteres Problem dabei ist, dass der „ukrainische“ Patriotismus geopolitisch geprägt ist. Nach der Meinung eines „bewussten Ukrainer“ sind Patriotismus und die so genannte „europäische Wahl“ des Landes zwei Dinge, die sich gegenseitig bedingen und somit unzertrennlich sind. Dabei ist eine solche Symbiose äußerst schädlich, weil der Patriotismus dadurch der politischen Konjunktur unterworfen sein wird, was seine Ausbreitung auf die ganze Gesellschaft verhindern würde. So gesehen ist jegliches Argument gegen die „europäische Wahl“ ein Argument gegen das „ukrainische“ Modell des Patriotismus, da die Alternativen entweder als eine Rückkehr unter die moskowitsche Herrschaft, oder als historischer Verrat oder ähnliches anzusehen sind. Dass dabei die Kontrollmacht Brüssels übersehen wird, interessiert kaum jemanden.
Das nächste Problem dabei ist das Chutorjanstwo4. Das Erbe der sowjetischen Kultur, in der „die Massen des arbeitenden Volkes“ glorifiziert wurden, ist immer noch stark bei uns vorhanden. Dieses Erbe ist sehr organisch mit der modernen Nachfrage nach einer Reethnisierung verbunden. Das literarische Experiment von Iwan Kotljarewskyj5 hat zu einer Tragödie geführt, da sich die ironische Art seines Poems „Enejida“ (Aeneis) mit der Zeit zu einer nationalen Selbstdarstellungsart entwickelte. Sogar den großen Philosophen Hryhorij Skoworoda6 stuften wir zu einem Dorfspaßmacher runter. Der moderne ethnographische Patriotismus ist eine Variation zum Thema des „amüsanten Chochols“7, eines exotischen, gutmütigen Wesens, das aber immer die zweite Klasse ist.
Aber am meisten ist der ukrainische Patriotismus von einem Infantilismus bedroht. Sogar unser Nationalismus ist verträumt (die Nationalisten selber nennen ihn idealistisch). Die Kunst die Realität ignorieren zu können beherrschen wir mittlerweile so gut, dass wir nun gegen jegliche Kritik immun sind. „Teilt die Hälfte der Ukrainer unser Modell des Patriotismus nicht? Dann sind sie keine Ukrainer!“, sagt der Patriot, woraufhin diese Menschen unverzüglich gebrandmarkt werden. Die Patrioten versuchen sehr fleißig jegliche Gespräche über Wirtschaft, Finanzen, Produktion und andere Bereiche zu vermeiden, wo das bloße Zurückgreifen auf den Kobsar8 nicht möglich ist.
Das Problem liegt nicht darin, dass alle diesen Besonderheiten der Patriotismusdebatte umstritten oder unbegründet sind. Das Problem dabei ist, dass einer auf diese Weise konstruierte patriotische Diskurs seine direkte Funktion verfehlt, die darin besteht die Ukrainer mit ihrem Land, dem Staat und einander versöhnen zu können. Jegliche Versuche einen solchen Patriotismus der ganzen Gesellschaft einzuimpfen, führen bestenfalls zu Widerstand und im schlimmsten Fall zur Entstehung paralleler Gesellschaften im Rahmen eines Staates („ihr habt eure Helden und wir haben unsere eigenen Helden“). Zugegeben, Staaten und Gesellschaften zerfallen gelegentlich. Aber es wäre sehr schade, wenn dies infolge der Treue zu einer beinahe zufälligen Mischung inhaltlich bedingter Prinzipien und Ideale zustande kommen würde.
25. April 2013 // Maxim Wichrow
Quelle: Zaxid.net
1 Stepan Bandera war ein ukrainischer nationalistischer Politiker im 20 Jh.
2 Eine der bedeutenden Schlachten im russisch-ukrainischen Krieg 1658-1659
3 Verwaltungs- und Militärzentrum der Saporoger Kosaken
4 Mit diesem Wort wird die ukrainische Mentalität umschrieben, die unter anderem in der Meidung unnötiger Risiken, Initiativhandlungen und Verantwortung besteht. Des Weiteres zählt dazu auch ein Hass gegenüber der Vorgesetzten bzw. der Regierung, der aber lediglich hinter verschlossener Tür geäußert wird.
5 Ein ukrainischer Dichter im 18-19 Jh.
6 Ein bekannter ukrainischer Dichter und Philosoph im 18 Jh.
7 Ein abwertender Begriff für Ukrainer
8 Gedichtsammlung des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko