Zur Frage eines ukrainischen "Faschismus der nationalen Befreiung"


In Fortsetzung der Debatte um den Vortrag von Grzegorz Rossolinski-Liebe hat nun ein führender ukrainischer Historiker einen sehr guten Artikel unter dem Titel: „Gab es einen ukrainischen Nationalbefreiungsfaschismus?“ veröffentlicht. In seinem Artikel ist es Saizew gelungen, diese Diskussion auf ein qualitativ neues Niveau zu heben, indem er zwei grundlegende Thesen äußert:

These 1: Es existiert kein Faschismus der nationalen Befreiung.

1. „Die OUN hatte am Ende der 1930er Jahre tatsächlich viel gemein mit faschistischen Bewegungen. Damit hat auch der Ansatz, dass die Ideologie und Praxis der OUN ihrem Wesen nach faschistisch waren, seine Existenzberechtigung. Allerdings schafft dieser Ansatz mehr Probleme, als er zu lösen vermag – besonders indem er die fundamentalen Unterschiede zwischen nationalistischen Bewegungen staatenloser und staatsbildender Nationen ignoriert. Dieser Logik folgend müsste man im Rahmen des Oberbegriffs Faschismus die Unterkategorie ‘Nationalbefreiungsfaschismus’ konstruieren, was jedoch einen begrifflichen Widerspruch in sich [Oxymoron] bedeuten würde.“

These 2: Der „Ustaschismus“ [kann stattdessen] als Oberbegriff [dienen].

2. „Zielführender ist es, die OUN im Kontext ultra-revolutionärer Bewegungen staatenloser Nationen zu betrachten, wie zum Beispiel der kroatischen ‘Ustascha’ oder der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation. Der Kürze halber nennen wir diese Art von Bewegungen Ustaschismus. Diese Bewegungen hatte viel mit dem Faschismus gemein (Ultranationalismus, ein Setzen auf gewaltsame Mittel und ähnliches), aber sie haben nicht versucht, einen bereits existierenden Staat auf totalitärer Grundlage zu reorganisieren, sondern wollten stattdessen einen neuen Staat unter Einsatz aller verfügbaren Mittel, einschließlich des Terrorismus, schaffen.“

Die erste These ist für mich die wichtigere und ich möchte mich im folgenden Kommentar ausschließlich auf sie beziehen.

Derzeit ist in weiten Forscherkreisen folgende Definition von Faschismus Konsens:

“Faschismus ist der Genus einer politischer Ideologie, deren mythischer Kern in seinen verschiedenen Ausprägungen eine palingenetische Form von populistischem Ultranationalismus darstellt” (Roger Griffin: The Nature of Fascism. London 1993, S. 26).

Eine Kurzdefinition von Faschismus wäre demnach “palingenetischer Ultranationalismus”, wobei hier “Palingenese” eine Neugeburt der Nation meint, und zwar im Kontext eines nichtliberalen und nichtkommunistischen Verständnisses von Nation.

2007 stellte Griffin in seinem Buch „Modernismus und Faschismus“ eine vergleichbare Definition von Faschismus vor, indem er ihn mit der politischen Moderne in Verbindung brachte:

„Faschismus ist eine revolutionäre Form der politischen Moderne, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand und deren Mission in einem Kampf gegen die angeblich degenerativen Kräfte der Zeitgeschichte (Dekadenz) mittels Schaffung einer alternativen Moderne und Zeitlichkeit (einer ‘neuen Ordnung’ und ‘neuen Ära’), auf einer Wiedergeburt bzw. Palingenese der Nation basierend, besteht.“

Umgangssprachlich ausgedrückt, gibt es zwei Nationalismen, einen guten und einen schlechten. Der „gute Nationalismus“ besteht darin, dass sich eine mehr oder minder homogene ethnische Gruppe in einem oder mehreren Staaten bewusst wird, dass sie eine zusammengehörige Nation verkörpert und den (intellektuellen und/oder bewaffneten) Kampf für die Erschaffung eines unabhängigen Nationalstaates beginnt. „Schlechter Nationalismus“ bedeutet hingegen, dass entweder eine ethnische Mehrheit in diesem oder jenem Staat ethnische Minderheiten diskriminiert oder dass ein Staat eine ethnische Gruppen außerhalb seines Staatsgebietes attackiert.

Peter Alter, Autor der klassischen Studie „Nationalismus“, nennt den ersten, „guten“ Typ „Nationalismus der Wiedergeburt“. Den zweiten Typ nennt er „Integralen Nationalismus“. Zum letzten Typ zählt Alter den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus (Nazismus). (Den sogenannten zivilen Nationalismus bezieht Alter nicht in seine Betrachtungen ein. Geht man von einer Gleichsetzung von zivilem Nationalismus mit Verfassungspatriotismus aus, erscheint dies gerechtfertigt.)

Oberflächlich betrachtet, müsste man den Nationalismus der OUN sofort dem „guten“ Typ zuordnen. In den 1930er Jahren lebte das ukrainische Volk, dass sich seit Ende des 19. Jahrhunderts, wenn nicht früher, als einheitliche Nation wahrnahm, auf polnischem, sowjetischem und rumänischem Territorium. Die Mitglieder der OUN führten als selbsternannte Repräsentanten des ukrainischen Volkes einen Kampf zur Gründung eines unabhängigen Nationalstaates. Weiterhin müssten sämtliche Äußerungen über die „neue Nation“ und den „neuen Typ des Ukrainers“, wie sie sowohl Donzow als auch den Ideologen der OUN eigen waren, nicht im Rahmen eines palingenetischen Diskurses, sondern als Indikatoren eines „Risorgimento“ (Ital.: Wiedergeburt, Erneuerung) betrachtet werden. Letztlich wäre damit die Gewalt der OUN gegenüber Polen und Russen als gewalttätiger Widerstand gegen Repräsentanten von Unterdrücker-Staaten zu betrachten. Zu letzterer Kategorie könnten unter Vorbehalt auch Juden (als „jüdische Bolschewiki“), die mit der Sowjetmacht assoziiert wurden, gezählt werden. Nach dieser Betrachtung könnte man einen Schlussstrich ziehen und ruhigen Gewissens das Buch „Nationalismus und Nationalbewegung“ von Oleh Bahan lesen.

Wenn wir dies tun, begehen wir jedoch zwei Fehler: (1) Wir exkludieren den Kampf der OUN aus seinem politischen, historischen, sozialen und kulturellen Kontext und ignorieren den enormen Korpus ideologischer Texte der OUN. Weiterhin gestehen wir (2) der „Nationalen Befreiung“ den Status einer eigenen Ideologie zu bzw. weisen ihr Elemente liberaler Ideologien zu.

In seinem Kommentar auf Zaxid.net sowie in dem wichtigen wissenschaftlichen Artikel „Der ukrainische Nationalismus und Faschismus: Die 1920-1930er Jahre”, der in den Zeitschriften „Ukrainski warianty“ und „Ji” publiziert wurde, stellt sich Oleksandr Saizew den ideologischen Schlussfolgerungen von Bahan entschieden entgegen und vermeidet somit den ersten Fehler. Indem er jedoch behauptet, dass der Begriff “Nationalbefreiungsfaschismus” einen terminologischen Widerspruch in sich trägt, weist Oleksandr Saizew der „Nationalen Befreiung“ Charaktereigenschaften zu, die sie in einem spezifischen Kontext haben kann, die ihr aber in einem anderen wiederum fehlen.

Die Schlüsselfrage lautet nämlich: Ist nationaler Befreiungskampf stets liberal? Das Vorhandensein der Wurzel „liber“ wie im Ausdruck „national liberation“ so auch im Wort „liberalism“ reicht nicht zur einer umstandslosen Bejahung dieser Frage. Der „nationale Befreiungskampf“ ist seiner Natur nach nicht ideologisch, sondern lediglich ein (erfolgreicher oder erfolgloser) Prozess der Erringung eines Nationalstaates. Der Begriff „nationale Befreiung“ an sich verrät jedoch noch nichts über das ideologische System des angestrebten Staates. Die Geschichte zeigt, dass sowohl Liberale als auch Kommunisten oder Islamisten nationale Befreiungskämpfe geführt haben. Welchen Grund haben wir, Faschisten das Recht auf die Führung eines eigenen nationalen Befreiungskampfes abzusprechen?

Im Gegensatz zu „nationaler Befreiung“ ist der Faschismus tatsächlich eine Ideologie. In dieser Qualität existiert er auf drei Ebenen: der intellektuellen Ebene (Ideologien und elitäre Kreise), auf der Ebene der Bewegung und der der Regimes. Im Europa der Zwischenkriegszeit war der Faschismus eine von drei dominierenden Ideologien und existierte auf allen drei genannten Ebenen. Umfassend konnte er sich – in Form politischer Regimes – nur in zwei Staaten durchsetzen, Italien und Deutschland. Das faschistische Regime der „Eisernen Garde“ in Rumänien konnte nur für einen kurzen Zeitraum errichtet werden, Österreich kann man nach dem Anschluss an das Deutsche Reich nicht als unabhängigen Staat betrachten und das Regime der “Ustaschi” in Kroatien war ein Marionettenregime.

Stimmt man damit überein, dass Faschismus nur dann möglich ist, wenn er nach Oleksandr Saizew die Bestrebung zur „Reorganisation eines bereits existierenden Staates auf totalitärer Basis“ in sich trägt, setzen wir den Status des Faschismus als einer politischen Ideologie automatisch Zweifeln aus. Mehr noch, in diesem Falle setzen wir Staat und Nation gleich, während das Objekt der faschistischen Palingenese nicht der Staat, sondern die Nation (oder Rasse) ist, die sowohl eine Staatsnation als auch staatenlos sein kann.

14. März 2012 // Anton Schechowzow

Quelle: Anton Shechowzows Blog

Redaktion: Andreas Umland

Übersetzer:   Alexander Hering  — Wörter: 1158

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