Gaskrieg
Wie es scheint, steht den Ukrainern schon in absehbarer Zukunft eine Erhöhung der Gaspreise bevor. Die Frage besteht nur darin, wie diese ausfallen wird: moderat (um 30-40%) oder erheblich (um ein vielfaches). Letzteres scheint unausweichlich, wenn die Ukraine vor Russland weiterhin Schwäche zeigt und sich unfähig erweist, ihre einzige, wirkliche Trumpfkarte richtig auszuspielen – ihr Gasleitungssystem.
Die russischen Interessen
Die letzten Verhandlungen zwischen „Naftogas Ukraine“ und „Gasprom“ Ende November haben deutlich gezeigt, dass sich die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew von nun an auf Basis von Pragmatismus und Zweckmäßigkeit entwickeln könnten. Dabei ist nicht entscheidend, von welchen gegenseitigen politischen und diplomatischen Ehrerbietungen sie begleitet werden. Nach dem gesetzlichen Verbot einer Privatisierung des Ukrainischen Gastransportsystems (GTS) hat Moskau die Hoffnung auf einen legalen und effektiven Zugang begraben. Auch wenn dies Russland ein Exklusivrecht beim Gashandel mit Europa garantiert hätte: von der Förderung über die Lieferung zum Verkauf.
Deswegen hat sich die russische Strategie in Bezug auf die Beziehungen zur Ukraine klar in zwei Phasen geteilt. Die erste, taktische, ist auf drei bis fünf Jahre angelegt und zielt darauf, die Umstände für einen zuverlässigen und günstigen Transport von Gas durch das Territorium der Ukraine in die Länder der Europäischen Union zu schaffen. Die zweite, strategische, ist auf mindestens 15-20 Jahre angelegt. Nach dieser Periode sollte sich Russland von einer Vermittlung der Ukraine beim Transport seines Gases vollständig befreit haben und zwei alternative Routen in voller Kapazität ausschöpfen können – „Nord Stream“ und „South Stream“.
Die strategischen Aufgaben analysierend, erwiesen sich die Verhandlungsführer „Gasproms“ gegenüber ihren ukrainischen Kollegen als hartnäckiger, da sie günstige Umstände erreichen konnten, als jene, welche die beiden Premierminister der Länder auf ihrem kürzlich stattgefundenen Jaltaer Treffen vereinbart hatten. Ja, „Gasprom“ erklärte sich einverstanden, gegenüber der Ukraine keine Strafsanktionen wegen der Rückstände aus dem Jahr 2009 zu erheben und den Umfang der Gaslieferungen 2010 auf 33 Milliarden Kubikmeter zu senken (also nicht auf 27 Milliarden Kubikmeter, wie Oleg Dubina errechnet hatte), aber der Preis für den „blauen Brennstoff“ wird sich für „Naftogas“ in den nächsten Jahren stärker erhöhen, als man in Kiew gedacht hatte.
Nicht um 20 Prozent, wie Putin versprochen hatte, sondern um 28 Prozent – also auf 286 US$ für tausend Kubikmeter. Dabei erhöht sich die Transitrate für Russland ab dem 1. Januar 2010 nur minimal – um 60 Prozent, und nicht um das doppelte, wie Julia Timoschenko noch kürzlich mitgeteilt hatte.
Gleichzeitig hört Russland nicht auf, auch in strategischer Richtung aktiv zu sein und greift dabei bisweilen zu politischer Erpressung. Beinahe jeden Monat kurz vor den fälligen Zahlungen von „Naftogas“ an „Gasprom“ bringt irgendein russischer Topmanager oder Staatsmann das Gespräch auf die Unzuverlässlichkeit Kiews oder einen möglichen „Gasraub“. Es gab auch frische Motive. In Zusammenhang mit den Wahlen in der Ukraine könnten Probleme bei der Bezahlung des Gases auftauchen und deshalb droht ein neuer „Gaskrieg“. „Wenn sie für die Gaslieferungen für den Binnenbedarf der Ukraine nicht bezahlen, werden sie auch nichts erhalten. Wenn sie nichts erhalten, so wird es wahrscheinlich Abzweigungen aus der Exportpipeline geben. Wenn es zu Abzweigungen kommt, werden wir die Liefermenge herabsetzen“, teilte Wladimir Putin vor kurzem erneut mit. Darauf, dass dies Manipulation reinster Art ist, weist der Direktor des Consulting-Unternehmens East European Gas Analysis (USA), Michail Kortschemkin, hin. Von Januar 2005 bis September 2009 wurden über die Ukraine 523,5 Milliarden Kubikmeter russischen Gases nach Europa geliefert. In diesem Zeitraum sprechen die russische Führung und „Gasprom“ von ungesetzlichen Entnahmen in der Ukraine in Höhe von 86 Millionen Kubikmeter oder 0,016% des Transportumfangs. Diese Abzweigungen passierten in den ersten sechs Tagen des Jahres 2009 und umfassten bis zur vollständigen Abstellung der Gaslieferungen durch die russische Seite fünf Prozent des gesamten Transportumfangs. Dabei machen laut Expertenmeinung die technischen Aufwendungen beim Gastransport etwa sieben Prozent des Transportvolumens aus. Das heißt, dass das, was die russische Seite als „Diebstahl“ bezeichnet, mit der ungeklärten Frage zusammenhängt, wessen Gas nun für diesen technischen Aufwand verbrannt wird (was auch mit der Regulierung des Drucks in den Pipelines zu tun hat).
Nach Meinung ukrainischer Experten, gibt Russland der Ukraine auf diese Weise das Image eines unverlässlichen Partners und bereitet Europa auf die Unumgänglichkeit der Finanzierung alternativer Wege seiner Versorgung mit dem „blauen Brennstoff“ vor. Man muss sagen, dass diese Manöver Russland auf internationaler Ebene die ihm nötigen Ergebnisse bringen. So haben Schweden und Finnland am 5. November ihre Zustimmung zur Nutzung ihrer ausschließlichen Wirtschaftszonen zum Bau der Pipeline „Nord Stream“ auf dem Grund der Ostsee gegeben. Dies waren die letzten Länder, deren Zustimmung noch nötig war. Beide zögerten mit einer Antwort und Prognosen gingen von einer Absage aus.
Außerdem hat Slowenien Anfang November unterschrieben und Österreich teilte seine Absicht mit, mit Russland einen Vertrag über die Zusammenarbeit beim Bau von „South Stream“ zu unterzeichnen. Beide Pipelines sollen 2011 gestartet werden. Aber selbst wenn sich die Fristen zum Arbeitsbeginn aufgrund von Teuerungen und Projektierungsschwierigkeiten verzögern, denn die Leitung soll ja immerhin am Meeresboden verlegt werden, so kann man doch wenigstens bis 2020 mit einer vollständigen Fertigstellung des Baus rechnen.
Die ukrainischen Interessen
Zu jener Zeit riskiert die Ukraine, mit einem kaputten Pipelinesystem zurückzubleiben, das schon niemand mehr braucht. Denn die allgemeine Kapazität von „Nord Stream“ und „South Stream“ umfasst 118 Milliarden Kubikmeter im Jahr; das ukrainische Gasleitungssystem etwa 120 Milliarden im Jahr (soviel hat Russland in guten Jahren durch unsere Leitungen gepumpt). Viel eher kann man also ein Schwinden des Interesses am ukrainischen System schon für 2011 erwarten.
Sobald „Nord Stream“ mit einer Kapazität von 55 Mrd. Kubikmeter Gas gestartet werden kann, wird man das „ukrainische“ Gas auf diesen umleiten. In diesem Fall würde Kiew nicht nur die Einnahmen aus den Transitgebühren (und das sind 780 Mio. US$ im Jahr), sondern auch die Arbeitsplätze im Gastransportsystem und den benachbarten Branchen verlieren. Außerdem würde eine der Haupt-Trumpfkarten bei den Verhandlungen über den Gaspreis fehlen, welche die Energieindustrie unseres Landes ernährt.
Davon abgesehen haben wir bis jetzt ausreichend schwerwiegende Argumente, um den Prozess der „Entgasung“ anzuhalten oder wenigstens abzubremsen. An erster Stelle steht die wirtschaftlichen. „Nord Stream“ und „South Stream“ sind sehr teure und schwierige Projekte. Die Gesamtkosten belaufen sich auf 32,4 Milliarden Euro. „Gasprom“ kann nur 30 Prozent dieser Kosten aus eigenen Mitteln aufbringen, den Rest muss man in Form von Krediten heranziehen, was unter den derzeitigen Umständen der Krise aber sehr schwierig ist. Außerdem wird der Tarif zum Durchpumpen des Gases durch diese Leitungen ungefähr zweimal höher liegen als jener in der Ukraine und die Ausdehnung der Pipelines ist um mehr als ein Drittel länger. All dies macht das Projekt der neuen Routen für Russland weniger vorteilhaft und das Projekt einer Modernisierung des ukrainischen Systems, welches zwischen 4,5 und 5,5 Milliarden Euro kosten würde, immer attraktiver.
Das zweite Argument ist politischer Natur. Eine Vereinigung der Kräfte von EU und Ukraine, die beide in gleichem Maße daran interessiert sind, ihre Abhängigkeit von Russland zu mindern, könnte die Konstellation auf dem Gasmarkt an der Wurzel verändern. Man muss bemerken, dass Kiew schon bemüht war, Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Im März 2009 hat sich Premierministerin Julia Timoschenko mit der Europäischen Union auf eine gemeinsame Modernisierung unseres Gasleitungssystems ohne Einbeziehung Russlands geeinigt. Damals hatte Europa versprochen, für diese Ziele 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, verlangte aber gleichzeitig von unserem Land ernstzunehmende Reformen im Gassektor. Insbesondere eine Liberalisierung des Gaslieferungsmarkts, eine Restrukturierung von „Naftogas Ukraine“ und eine Heranführung der Preise für Gas für die Bevölkerung und Unternehmen an die Marktpreise. Allerdings hat es bis jetzt noch keine Bewegungen in diese Richtung gegeben.
Im Gegenteil. Am 18. November erschien ein Verordnung des Ministerkabinetts, nach der die Preise für Energieträger bis 2013 nicht auf ein ökonomisch motiviertes Niveau herangeführt werden.
Europa ist müde
Im Resultat ist Europa gegenüber den Problemen der Ukraine gleichgültig geworden und konzentriert sich auf die Realisierung einer eigenen Gas- und Energiestrategie: Man bemüht sich, eine Pipeline unter Umgehung Russlands zu bauen („Nabucco“), entwickelt die Beziehungen zu alternativen Gaslieferanten – Quatar und Algerien, aktiviert den Börsenhandel mit Gas. Außerdem hofft man in der EU, bei Russland eine Veränderung bei den Berechnungsformeln für den Gaspreis zu erreichen. Denn das Prinzip der Preisbildung für den „blauen Brennstoff“ – das an den Ölpreis gebunden ist – hat sich überholt: Die Nachfrage nach Gas fällt, aber das Angebot wächst. Nach Berechnungen Jonathan Sterns, Leiter der Abteilung Naturgas am Oxforder Institut für Energieforschung, kann dies zu einer Verbilligung der Preise von langfristigen Kontrakten um mindestens 30 Prozent führen.
Im Ergebnis wird Russland die Gaslieferungen nach Europa in 10-15 Jahren erheblich verringern müssen, wobei der Preis des Brennstoffes deutlich sinken wird und die Lieferung wird teurer, wenn die alternativen Routen genutzt werden. Die Ukraine ist, was ihr ökonomisches Schicksal angeht, nicht beneidenswert. Entweder verzichtet sie auf Prinzipien und entsprechende Einkünfte aus dem Transit und gibt Russland die Kontrolle über das Gasleitungsnetz oder sie verliert überhaupt den Status eines Transitlandes.
Diese auf den ersten Blick fern von den Problemen des einfachen Ukrainers stehenden Ereignisse werden einen unmittelbaren Einfluss auf ihr Leben haben. Die Gaspreise werden so oder so erhöht, sowohl für den einfachen Verbraucher als auch für die Industrie. Wenn dies stattfindet, nachdem sich die Ukraine in einer Eins-zu-Eins-Situation mit Russland wieder findet, wird es wohl nur noch schwierig sein, der Versuchung zu widerstehen, sich darüber zu freuen, dass man in Europa wenigstens keinen Profit gemacht hat.
Anastasija Sewastjanowa
Nord Stream (in Bau)
Betreiber: Nord Stream AG (Schweiz); Aktionärsanteile: Gasprom (51%), BASF/Wintershall und E.On (jeweils 20%), Gazunie (Niederlande, 9%)
Gesamtlänge: 1223km am Boden der Ostsee, zwei Leitungen für jeweils 55 Mrd. Kubikmeter Gas/Jahr
Kosten: ca. 7,4 Mrd. Euro
South Stream (Projekt)
Gesamtlänge: mehr als 3000km
Kapazität: 31-63 Mrd. Kubikmeter Gas/Jahr
Kosten: bis zu 25 Mrd. Euro
Zwei Hauptabschnitte:
1: Schwarzes Meer (902km), Investoren: Gasprom und Eni (zu jeweils 50%), Investitionsumfang: mehr 4 Mrd. Euro
2. Kosten des Abschnitts auf Land (1300km bis Österreich, 990km bis Griechenland), Investitionsumfang: 15-20 Mrd. Euro
Nabucco (Projekt)
Gesamtlänge: 3300km aus Zentralasien in Umgehung Russlands in die EU-Länder, vorwiegend nach Deutschland und Österreich
Kapazität: 26-32 Mrd. Kubikmeter Gas/Jahr
Kosten: mehr als 5,1 Mrd. Euro
Quelle: Weekly.ua