Gaskrise in Europa, Nord Stream 2 und Krieg im Donbass


Eine der in Europa und der Ukraine populärsten Erklärungen, warum Russland sich nicht beeilt, die Gaslieferungen in die EU über die abgeschlossenen Verträge hinaus zu erhöhen (um das Gasdefizit zu decken, das sich aufgrund der Umorientierung der weltweiten Lieferanten auf den asiatischen Markt und aufgrund der außer Betrieb genommenen Kohlekraftwerke ergeben hat), ist, dass Putin auf diese Weise Europa zu einer schnelleren Inbetriebnahme von Nord Stream 2 drängen will. Denn er will sozusagen absichtlich den Gastransit über die Ukraine nicht erhöhen.

Doch tatsächlich, wenn man die Äußerungen der russischen Seite analysiert, ist ihr Ziel ein etwas anderes. Nämlich die Zustimmung der Europäer zu einer Erhöhung der Gaslieferungen über langfristige Verträge zu bringen.

Und man kann Gasprom verstehen: Warum sollten sie jetzt ein Feuer auf dem Markt für kurzfristige Verträge (Spotlieferungen) löschen, wenn sich in einem halben bis ganzen Jahr die Aufregung legt und Europa sich erneut auf Gaskäufe von Amerikanern, Katarern und anderen konzentriert.

Doch wenn eine Erhöhung der Mengen in langfristigen Verträgen (nach dem Prinzip Take-or-Pay) festgeschrieben wird, dann garantiert das Gasprom stabile Einkünfte und einen Absatzmarkt unabhängig von der Weltkonjunktur.

Eben darum geht gerade der „Nervenkrieg“.

Und wie paradox es auch ist, stimmen in diesem Fall die Interessen der Ukraine und Russlands überein.

Die Ukraine verlangt gerade von den Europäern, dass diese Druck auf Gasprom mit dem Ziel der Verlängerung des Transitvertrages ausüben. Doch tatsächlich muss etwas anderes gefordert werden: dass die Europäer die Gaskäufe bei Russland mittels langfristigen Verträgen erhöhen. Gerade eben das wird die Beibehaltung des Gastransits über unser Land in langfristiger Perspektive sichern.

Einfache Arithmetik. Der Schätzung Putins nach beläuft sich das Gasdefizit auf dem europäischen Markt in den nächsten Jahren auf 70 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Jahr. Die Kapazität von Nord Stream 2 liegt bei 55 Milliarden Kubikmeter. Das heißt, sogar nach dessen vollständiger Inbetriebnahme wird nicht das komplette Defizit gedeckt. Und das bedeutet, dass wenn Europa per langfristigen Verträgen mit Gasprom seine Gaskäufe um 55 Milliarden Kubikmeter erhöht, dann bleibt der Gastransit über die Ukraine auf dem derzeitigen Niveau (oder er verringert sich etwas wegen Turkish Stream). Doch wenn sie um 70 Milliarden Kubikmeter steigen, dann könnte er sich auch erhöhen.[Bis Ende 2024 ist Gasprom nach dem laufenden Transitvertragverpflichtet jährlich 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas über die Ukraine nach Westen zu liefern oder zu zahlen. A.d.Ü.]

Und sobald Europa der Erhöhung der vertraglichen langfristigen Lieferungen zustimmt, wird auch die Frage der Verlängerung des Gastransits über die Ukraine (gewährleistet durch diese Verträge) sehr schnell entschieden werden. Und die zusätzlichen Gasmengen können durch unser Gastransportsystem bereits vor dem Start von Nord Stream 2 fließen. Zumal wenn man den Rabatt von 50 Prozent vom geltenden Tarif berücksichtigt, den [Präsident Wladimir] Selenski bereits unvorsichtigerweise versprach.

Eben von dieser Logik sollte sich die ukrainische Regierung leiten lassen, wenn sie von den nationalen Interessen ausgeht.

Doch jetzt ist die Logik eine andere. Selenski & Co. wenden enorme Kräfte dafür auf, dass Nord Stream 2 überhaupt nicht in Betrieb geht (was natürlich unrealistisch ist, sie wird früher oder später in jedem Fall in Betrieb genommen werden).

Dazu gehört auch der Einsatz „harter“ Methoden.

In diesem Kontext muss man die derzeitige Verschärfung im Donbass sehen. Die Streitkräfte der Ukraine haben gestern zum ersten Mal eine Bayraktar-Kampfdrohne eingesetzt. Was direkt von dem Waffenstillstandsabkommen vom Juli 2020 verboten ist. Der Waffenstillstand wurde natürlich auch bereits vorher gebrochen. Doch jetzt wurde er nicht nur einfach gebrochen, sondern der Verstoß wurde auch offiziell durch eine Mitteilung des Generalstabs zugegeben.

Das wahrscheinliche Ziel des Vorgehens ist es den Gegner zu einer harten Antwort zu provozieren, aus diesem Anlass Lärm zu schlagen und damit zu versuchen den Start von Nord Stream 2 zu torpedieren. Aber die Inbetriebnahme wird trotzdem nicht verhindert werden. Zumal Russland keine Verschärfung im Donbass brauchen kann, zumindest bis die Zertifizierung von Nord Stream 2 abgeschlossen ist.

Wegen dieser abenteuerlichen Spiele könnten aber leider recht viele Menschen umkommen.

27. Oktober 2021 // Igor Guschwa, Chefredakteur der in der Ukraine verbotenen Seite Strana.ua. Lebt seit 2018 im österreichischen Exil.

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 671

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