Ich verfolgte heute auf Facebook eine Diskussion über Sinn und Unsinn der Militärparade zum 25. Unabhängigkeitstag der Ukraine, die deutscher nicht sein konnte. Ein Pazifist schreibt dort unter anderem, die Parade sei „Symbolpolitik“ und Ersatz für nicht erfolgte Reformen; die Ukraine sei Russland sowieso militärisch unterlegen und mache sich daher nur angreifbar, wenn sie ihre Waffen herzeige. Es sei sehr einfach für die ukrainische Regierung, statt Reformen durchzuführen, junge Menschen, die geistig nicht in der Lage seien, die Lage zu erfassen, „in den Tod zu schicken statt Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, gerade dies zu verhindern. Ja, das ist ein Vorwurf. An die ukrainische Regierung und an die internationalen Politakteure“, denen der Verfasser dann allerdings, etwas widersprüchlich zwar, aber vernünftig, fehlende Härte gegenüber Russland vorwirft.
Und dann geht es weiter: „Damit“, – mit dem Entsenden von Wehrpflichtigen an die Front, „macht sich ein Staat zum Mörder. Und alle Staaten, die Hilfe verweigern, machen sich zum Mittäter.“ Und überhaupt: der ganze „Mainstream-Patriotismus“ in der Ukraine, der Auftragsjournalismus, die Manipulation der Massen.
Wer mich kennt, weiß, dass ich eine scharfe Kritikerin patriotischer Identitätspolitik und vaterländischer Geschichtsmanipulationen bin, und dass ich jedwede Volkspädagogik ablehne, die den Leuten das selbständige Denken austreiben will – sei es auch mit den besten Absichten, und sei es in Kiew, Berlin oder Moskau.
Aber in diesem Fall, am Vorabend des 25. Geburtstages des ersten unabhängigen ukrainischen Staates der Moderne, der zum dritten Mal im bitteren Krieg und unter Tränen gefeiert wird, da fällt mir spontan der genial-verschmitzte jüdische Reisende Tuvia Tenenbaum ein. Der meinte vor kurzem sinngemäß mit Bezug auf die Ukraine, wahrscheinlich wollten die Europäer -insbesondere die Deutschen, jene mit den besten Absichten – aus den störrischen, schlitzohrigen, stolzen, nationalistischen, machistischen Ukrainern echte Grüne machen: mit Friedenserziehung, gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft, Fahrradwegen und Anti-Atom-Programm. Ich bin geneigt, Herrn Tenenbaum zuzustimmen.
In einer der beiden ukrainischen Landessprachen sagt man in diesem Falle не учите нас жить, belehrt uns nicht, wie wir leben sollen. Militärparaden gehören in allen möglichen Ländern außer Deutschland zum Nationalfeiertag wie die scharfe Sauce auf den Berliner Döner; es sollten sich daher eher die Deutschen fragen, ob vielleicht mit ihnen etwas nicht stimmt, wenn sie, die erfolgreichen Waffen-Exporteure in so gut wie alle Länder außer der Ukraine, ihre Armee am Nationalfeiertag immer in der Garage lassen.
Wir Deutschen schulden übrigens aus, sagen wir, militärischen Gründen der Ukraine eine Menge – eigentlich müssten wir dafür, was Deutsche im letzten Krieg in der Ukraine angerichtet haben, so viel Entschädigung zahlen, dass man den ukrainischen Staatshaushalt für die nächsten 25 Jahre durchfinanzieren könnte. Die Deutschen, insbesondere jene mit dem Durchblick dafür, was gut für die Ukraine sei, z.B „Mäßigung“ im Konflikt mit Russland, sollten sich diese Tatsache jeden verdammten Tag vor Augen führen. Sie sollten sich ferner nicht unterstehen, ihren Stil – das Labern, Ermahnen und Feiertags-Steinmeiern – den anderen beizubringen. Die Welt würde so kein besserer Ort und bestimmt kein friedlicherer. Und ein schönerer auch nicht.
Ob’s uns passt oder nicht: wenn die Ukrainer am Feiertag dem russischen Goliath ihre Steinschleuder zeigen wollen – sollen sie es tun! Sollen sie sich und ihren verzweifelten, wenn auch nicht mehr dilettantischen Widerstand wenigstens an diesem Tag feiern – der Alltag ist grau und schrecklich genug. Und alle anderen Vorwürfe – sicherlich in bester pazifistischer Absicht geäußert – wegen der im Dreck verreckenden jungen ukrainischen Soldaten bitte nicht in Kiew einreichen, sondern unter folgender Adresse: Rossijskaja Federacija, Moskva, Kreml. Denn diese Soldaten sterben auf ukrainischem Boden durch russische Kugeln und Geschosse. Bevor wir Kiew vorwerfen, dass es sich mit unzureichenden Mitteln verteidigt, sollten wir zuerst immer die Frage beantworten, warum es sich überhaupt verteidigen muss.
Diejenigen Soldaten, die nicht sterben, sondern kämpfen, die brauchen die Gewissheit, dass diese altmodischen Konstrukte wie die „Nation“ und die „Heimat“ sie ehren und sie nicht vergessen. Auch diesem Zweck dient die Militärparade. Ja, so ist das im Krieg – „viel ist hingegangen uns zur Trauer / Und das Schönste war von kleinster Dauer“, dichtete der Österreicher Heimito von Doderer nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen und Österreicher zum ersten Mal auf ukrainischem Boden Unheil angerichtet hatten. Wir trauern um die hingegangene Friedens-Ukraine, die wir nie geschätzt und unterstützt haben, als es sie noch gab.
Aber die real existierende Ukraine ist heute gezwungen, zu kämpfen, mit ihren Mitteln und Menschen, so wie sie vorhanden sind – mangels Mitteln aus anderer Quelle. Ja, es ist eine real existierende und keine schöne Ukraine, die aber existiert, nicht vegetiert. Eine unfertige Nation, die aber nicht fertigzumachen ist, ein Sobor v ryštuvanni, wie das ein ukrainischer Intellektueller mit Bezug auf einen Roman von Oles Hončar einmal gesagt hat, die „eingerüstete Kathedrale“ im Sanierungselend, eine bikulturelle Nation, die aber nicht gespalten ist, ein Volk, das nicht handsam ist, aber unbeugsam. Die Ukrainer lieben ihre arme, schmuddelige, korruptionsgeplagte, problembeladene Heimat so wie sie ist, und sie müssen sie mit dem, was sie haben, auf die Beine bringen, mit dem Feind im Lande und ohne ein betreuendes und bevormundendes Anschlussmutterland, das Kapital, Reform, Gesetze und Beamte schickt. So ist das in diesem Land zwischen den grünen Karpaten und dem grauen Meer, zwischen Sumpf und Steppe, zwischen Barock und Plattenbau, zwischen Pferdefuhrwerk und Kernkraftwerk.
Das größte Problem im Umfeld des ukrainischen Feiertags ist nicht die Symbolik der Militärparade in Kiew, sondern die direkte Aussage des russischen Super-Aufmarsches an den ukrainischen Grenzen und in den besetzten Gebieten, der offenbar als Putins Geburtstagsgeschenk für die kleine Schwester gedacht ist. Und auch wenn es den deutschen Ukraine-Pädagogen schwer fällt: lasst die Ukrainer inmitten dieser Misere ihren 24. August feiern, wie es ihnen passt. Ab morgen müssen sie wieder kämpfen, fasten und weinen, auf sich gestellt.
Anna Veronika Wendland
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