Die Gefährlichkeit der Mythenbildung



Heutige ukrainische Kinder wissen praktisch nichts über Lenin. Lediglich 20 bis 30 Jahre sind vergangen, und die gesamte sowjetische Symbolik hat sich in der Vergangenheit aufgelöst. Das Problem ist aber: die Unsittlichkeit ist keineswegs zusammen mit Lenin verschwunden. Die groben sowjetischen Mythen werden von den nicht weniger groben postsowjetisch-ukrainischen verdrängt.

Vieles war unausweichlich. Etwa die überzeugten gedanklichen Konstrukte über die Abstammung der heutigen Ukrainer direkt von den Babyloniern und ähnliche pseudowissenschaftliche Theorien, wie sie ganz am Anfang unserer Eigenstaatlichkeit aufgetaucht sind. Damals fanden wir das überwiegend lustig. Heute ist uns allerdings nicht mehr zum Lachen zumute. Heute haben wir Krieg. Der russische Mythenschöpfer hat versucht, gestützt auf unbewiesene Theorien und totalitäre Praktiken, die Vergangenheit wiederherzustellen. Er, der nie ernst zu nehmende philosophische Bücher gelesen hat, wusste dabei ganz augenscheinlich nicht, dass die Vergangenheit – ihrer ganz eigenen Definition nach – nicht mehr existiert. Jegliche Beschreibung der Vergangenheit stellt eine Rekonstruktion dar, nichts weiter. Erst recht nicht ihre Rückkehr. Das gehört zu solchen Vorstellungen, wie sie Menschen im Mittelalter real erschienen, ebenso wie im 20. Jahrhundert uns die Mythologie Freuds, der dialektische Materialismus oder rassistische „wissenschaftliche“ Behauptungen.

Das alles betrifft nicht nur uns, die Nachfolger der judäo-christlichen Ideologie. Die Geschichte der islamischen Staaten enthält ebenso eine andere Vergangenheit, weit von dem entfernt, was religiöse Fanatiker heutzutage deklarieren und zum Leben erwecken. Der bekannteste islamische Philosoph im mittelalterlichen Spanien war Ibn Ruschd, in der christlichen Welt Averroës genannt. Der Tod dieses ruhigen, toleranten Denkers am Ende des 12. Jahrhunderts, führte in der islamischen Welt nach und nach zu einem Verschwinden der Philosophie und einer Festigung der religiösen Orthodoxie. Heute, im 21. Jahrhundert, beobachten wir die Folgen.

Mythologie ist unumgänglich, aber gleichzeitig auch gefährlich. Wenn die Vergangenheit, blutig und unmoralisch, unsere zukünftigen Handlungen bestimmt, sind wir zu ihrer Wiederholung verdammt. Diesen Weg beschreitet das derzeitige Russland. Etwas schwieriger, philosophischer ausgedrückt: Die russischen Bürger verlieren erneut die Freiheit, eigenständig über ihr Leben zu entscheiden, sowie die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Es geht verloren, was bereits im 14. Jahrhundert als Würde – als dignitas – bezeichnet wurde.

Leider sind auch wir, ist auch die Ukraine nicht weit von diesem Weg entfernt. Der einzige, aber doch sehr wesentliche Unterschied zu Russland besteht darin, dass die Mythen hier von Politikern verbreitet werden. Uns wollen sie im Dunkeln halten und sich selbst an der Macht. Das funktioniert nicht und wird nicht funktionieren. Anders sieht es in Russland aus. Dort ist der autoritäre Herrscher kein Artefakt. Seine Krönung verlief einfach und unverstellt, und war, wie es aussieht, von der Mehrheit der Russen erwünscht. Eins weiß ich aber sicher: Hier in der Ukraine wird es den Mythenschöpfern und ihren Polittechnologen nicht gelingen, ihre Absichten zu verwirklichen. Weder Poroschenko, noch sein Freund-Feind Saakaschwili können uns mit Worten verzaubern. Wir wollen etwas anderes, etwas völlig anderes. Reale Veränderungen im Land.

Die Idee eines ukrainischen Fundamentalismus, wie auch die Praxis einer grenzenlosen Demokratie (leider unsere derzeitige Realität), setzen uns nicht in Begeisterung. In der Mehrzahl sind wir Pragmatiker. Wir wollen die Freiheit, unser Leben eigenständig zu bestimmen sowie Möglichkeiten der Selbstverwirklichung.

08. Januar 2018 // Semjon Glusman

Quelle: lb.ua

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