Gegen alle Hoffnung hoffe ich
Allgemein hören wir die Stimmen politisierter gesellschaftlicher Organisationen. Sie geben der Regierung Ratschläge oder kritisieren sie scharf oder unterstützen rechtzeitig irgendein beliebiges ihrer Vorhaben. Es gibt bei uns auch völlig militarisierte gesellschaftliche Organisationen, gut ausgestattet und intransparent bezahlt.
In zivilisierten Gesellschaften zeigt sich ein völlig anderes Bild. Dort hält man sozial orientierte Gesellschaften in Ehren, die mit der Bevölkerung arbeiten und nicht mit den Machthabern. Genauso arbeiten auch einige gesellschaftliche Organisationen in der Ukraine. Aber ihrer sind wenige, sie sind Vorbilder, aber nicht typisch. Und am häufigsten bemerkt der ukrainische Staat sie nicht. Danke, dass er sie nicht bekämpft. Die einzige Ausnahme stellte, bitteschön, das Ministerium für Sozialpolitik während der Zeit des bei Journalisten unbeliebten Andrej Rewa [Andrij Rewa] dar, das leise und konsequent die Möglichkeit vorbereitete, die gesunden, ehrenhaften und effektiven gesellschaftlichen Organisationen mit sozialer Orientierung finanziell zu stimulieren. Aber ich rede über das Vergangene. Vor zwanzig Jahren wurde in Kiew auf Initiative einer gleichnamigen britischen Organisation die Nichtregierungsorganisation „Turbota pro litnich“ [ungefähr Sorge um die Älteren/Altenpflege] registriert. Zwanzig Jahre intensiver täglicher Arbeit ohne irgendeine Hilfe des ukrainischen Staates. Die ständige Chefin Galina Poljakowa [Halyna Poljakowa] ist durch ihre Tätigkeit in vielen Ländern berühmt geworden. Aber nicht bei uns, so sind, leider Gottes, die Gegebenheiten. Uns interessieren mehr die Enthüllungen über Minister Milowanow als die tatsächliche, erfolgreiche Tätigkeit von Frau Poljakowa. Die sich ohne weiteres der Nahrung, Hygiene und den Pampers in den Altersheimen außerhalb der Grenzen der freien ukrainischen Zone des Donbass zugewandt hat. Übrigens ohne irgendwelche Hilfe des Fonds von Rinat Achmetow.
Heute setzt „Turbota pro litnich“ seine Tätigkeit proaktiv fort. Am 21.Oktober fand in Kiew eine Konferenz zu einem in der Ukraine sehr aktuellen Thema statt: Demenz und die angrenzenden Probleme: Wer löst sie? Kein einziger der sogenannten ukrainischen Politiker war dort. Am Runden Tisch saßen Freiwillige der Organisation „Turbota pro litnich“, die extra aus verschiedenen Städten angereist waren, Sozialarbeiter, Direktoren von Altersheimen, Ärzte, Mitarbeiter des Ministeriums für Sozialpolitik, Abgeordnete der Werchowna Rada (beide von der Partei „Diener des Volkes“). Wie zu erwarten war, war aus dem Gesundheitsministerium nicht einmal ein stiller Beobachter gekommen… und übrigens, es gab auch keine Journalisten. Denen ist langweilig ohne Skandale.
Es gab eine Diskussion, ernsthaft, aufrichtig und emotional. Man diskutierte das tiefe Vakuum in der ukrainischen Rechtsprechung, die traditionelle Nichtbeachtung dieses Problems durch das Gesundheitsministerium, über die Schwierigkeiten der Polizei im Zusammenhang mit den Alten, die sich krankheitsbedingt mit Klagen an sie wenden, dass sie von den Nächsten und Nachbarn ausgeräubert werden. Frau Poljakowa führte eine bis heute andauernde Situation an, wo eine an Demenz leidende ältere Dame sich mit der Klage an die Polizei wendet, dass der Nachbar ihr Sachen aus der Wohnung stehle. Der Nachbar, der vor zwanzig Jahren verstorben ist…
Ich, ein Teilnehmer dieses Runden Tisches, fühlte Scham. Viel hätte man bei diesem Problem entscheiden können. Wenn denn der politische Wille vorhanden gewesen wäre. Das äußerlich kultivierte Land Ukraine ist in den letzten Jahren in eine augenfällige Kulturlosigkeit abgedriftet. Durch die Anstrengungen vor allem der Führung des Gesundheitsministeriums wurde das Institut der medizinischen Statistik faktisch zerstört, liquidiert wurde der sehr wichtige systematische Aufbau eines Instituts der führenden Spezialisten, man ist bereit zur Liquidierung der psychiatrischen Beratungsstellen das heißt der außerklinischen psychiatrischen Dienste….
Ja, so ist es. Als ob nicht schreckliche, mittelalterliche Zeiten bevorstünden mit Tausenden von erregten und hungrigen psychisch kranken Menschen auf den Straßen. Mir war es wirklich peinlich.
Ich erinnerte mich an die Ergebnisse unserer ukrainisch-amerikanischen Forschung des Jahres 2000, die gezeigt hatte, dass sich 20 Prozent der klar unter psychischen Störungen leidenden unserer Bürger nicht an einen Arzt wenden, um Hilfe zu suchen. Die Ergebnisse dieser Forschung wurden in den weltweit prestigeträchtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Doch in der Ukraine wurden sie bis heute nicht für interessant erachtet.
Wir werden länger leben. So sind die Gegebenheiten für die Ukrainer. Es werden die länger leben, die für Selenski gestimmt haben, und die, die Poroschenko unterstützt haben. Viele von uns werden im Zustand der Demenz verlöschen. Es ist unabdingbar, sich heute darauf vorzubereiten. „Turbota pro litnich“ kann dieses Problem nicht lösen. Allein kann es auch das Ministerium für Sozialpolitik nicht. Ich hoffe sehr, dass der Präsident, wenn er diese meine Kolumne gelesen hat, auch Scham verspürt. Denn es geht doch nicht um Geld, sondern um politischen Willen. Ich decke ein wichtiges Staatsgeheimnis auf: Wladimir Alexandrowitsch [Selenski; Wolodymyr Olexandrowytsch Selenskyj] schaut sich die Seite von LB.ua. an.
Ich hoffe. Wie bei Lesja Ukrainka [Lesja Ukrajinka, ukrainische Dichterin, zu deren bekanntesten Werken das Gedicht „Contra spem spero“ gehört, Anmerkung der Übersetzerin]: Ohne Hoffnung hoffe ich.
28. Oktober 2019 // Semjon Glusman, Dissident und Psychiater
Quelle: LB. ua