Irgendwie kam es dazu, dass ich im ersten Jahr meines Lagerlebens das Buch „Antike und Gegenwart“ las, das ich von Ivan Alekseevič Svitlyčnyj hatte – und in ihm den mich beeindruckenden Aufsatz des berühmten Antikeforschers Vikor Jarcho „Hatten die alten Griechen ein Gewissen?“.
Im Allgemeinen wurden Wörter wie Gewissen, Würde und ähnliche in der sowjetischen, äußerst materialistischen Sprache außerordentlich selten gebraucht. Bei den sowjetischen Ideologen standen sie unter Verdacht. Wie auch das Wort Geistigkeit. Denn dieses, Geistigkeit, ist nicht Resultat einer äußeren Notwendigkeit. Und kann folglich nur schlecht vom Staat kontrolliert werden.
Jemand hat bemerkt: Heute gibt es in der ukrainischen Gesellschaft keinen Mangel an Persönlichkeit. Die lautstarken Zerstörer der Moral aus den Reihen unserer Politiker beschäftigen unsere Aufmerksamkeit mehr als die vor gar nicht langer Zeit von uns gegangenen Ljubomyr Guzar und Miroslav Popovyč. Die ersten sind interessanter, sie füllen den Fernsehbildschirm mit Schlägereien, Fluchen und sonstigen Erscheinungsformen „offensiver Positionen“.
Zum Glück ist das nicht die ganze Wahrheit. Eine hinreichend große Zahl unserer Mitbürger vergnügt sich keineswegs an den Sentenzen Mosijčuks und Rabynovyčs. Trotz des beständigen Drucks der Fernsehkanäle. Im Land gibt es nach wie vor viele intelligente Leute, die das Gute vom Bösen und Wahrheit von Lüge unterscheiden können. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie ständig verdrängt werden von Intellektuellen, die ihnen von der Bezeichnung her nahe, vom Wesen her aber weit entfernt sind. Sie sind Vertreter von Funktionen, aber keinesfalls eines moralischen Prinzips.
Ich weiß, nichts ist der Gegenwart unverständlich. Da unsere Zukunft nicht vorhersagbar ist, wende ich mich der Vergangenheit zu. Der Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmt hat. Es gab den wandernden Weisen Grigorij Skovoroda, es gab auch den sehr weisen Sergej Averincev, einen der russischen orthodoxen Kirche verdächtigen Christen. Noch im Jahre 1973 notierte er: „Zu Zeiten der Polis pflegten die Griechen von den Untertanen des Perserreiches wie von geschlagenen Knechten zu sprechen. Die Weisheit des Ostens – das ist die Weisheit der Geschlagenen, aber es gibt Zeiten, in denen, dem Sprichwort zufolge, für einen Geschlagenen zwei Ungeschlagene gegeben werden. In den Räumen der alten östlichen Despotien wurde eine solche Erfahrung moralischen Verhaltens unter den Bedingungen einer sich verwurzelnden politischen Unfreiheit gemacht, wie es der griechisch-römischen Welt nicht im Traum erschien.“
Das spricht auch von uns. Von den geschlagenen Knechten, die nicht auf funktionierende kalte Intellektuelle hoffen, sondern auf bescheidene Intelligente, die keine Macht einfordern. Deren Zahl ist in der Ukraine nicht klein.
Lachend wird der Mensch die Angst los, und indem er sich umbringt, wird er die Hoffnung los. Schon heute ist es offensichtlich: uns wird die Ironie retten. Indem wir die Politiker-Frechdachse auslachen, mit anderen Worten, indem wir zu den scharfen Anekdoten der sowjetischen Epoche zurückkehren, schützen wir uns vor den Strömen der Lüge, die aus den Fernsehbildschirmen fließen.
Die Ironie und der Freitod – zwei Möglichkeiten, die das Privileg des Menschen ausmachen und dem Tier unzugänglich sind. So behaupteten es die antiken Menschen. In der Ukraine des 21. Jahrhunderts sind wir verpflichtet das erstere, und noch dazu sehr wichtige zu wählen: In der Zeit vor den Wahlen ziemt es sich nicht, sogenannte Parteiprogramme zu lesen. Wie bei Bulgakov: lesen Sie keine Zeitungen, meine Damen und Herren!
2. April 2018 // Semën Gluzman
Quelle: LB.ua
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