Meine Mutter hatte eine Freundin, die wie sie eine Internistin war. Sie war oft bei uns. In den meisten Fällen unerwartet, da meine Eltern zum damaligen Zeitpunkt noch kein Telefon hatten. Dennoch freuten sie sich immer über ihren Besuch.
Manchmal, sehr selten erzählte sie von ihrer Vergangenheit. Über ihre schreckliche Vergangenheit. Sie schaffte es gerade die medizinische Universität zu beenden, da wurde sie schon in die Armee eingezogen, in den Krieg. Wie hunderttausende andere Soldaten und Offiziere landete sie im Herbst 1941 in deutscher Gefangenschaft. Als Jüdin war sie dem Tode geweiht. Ihre Rettung war ein mit ihr dienender Offizier, er riet ihr, sich als Moldawierin auszugeben und ihren äußerst jüdischen Namen zu ändern. Da hatte er schon diejenigen Gefangenen, die sie hätten verraten können, überredet. Er kannte seine Soldaten gut, daher sagte er knapp und deutlich zu denjenigen, die zum Verrat neigten: „Wenn du die Ärztin verrätst, schneiden wir dir nachts die Kehle durch. Behalte das in Erinnerung!“ Schon da hatte dieser beherzte Mann in der Gefangenschaft eine Widerstandsgruppe zusammengestellt.
Die Deutschen glaubten es, wahrten ihr Leben. Danach kamen Lager, schwere Arbeit und das ständige Warten auf den Tod. Am Ende des Krieges befreiten die Alliierten der UdSSR, die Amerikaner, das Arbeitslager auf polnischem Terrain (sic!). Es bestand die Möglichkeit in den Westen zu gehen, nicht zurückzukehren zum grausamen Stalin. Sie kehrte zurück. Und wurde fast sofort vom SMERSch (Sondereinheiten des sowjetischen Geheimdienstes während des Zweiten Weltkrieges, um feindliche Agenten zu finden, A.d.R.) herausgezogen. Als Frage gab es für sie nur eine: Wie konnte sie, eine Jüdin, eine attraktive Brünette, in Gefangenschaft überleben? Hatte sie mit der Gestapo zusammengearbeitet?
Sie erzählte ihre ganze kurze Wahrheit. Sie glaubten ihr nicht. Der Ermittlungsbeamte setzte seine eigene Wahrheit durch: „Wann und wo wurdest du angeworben?“ Sie hatte nur eine Möglichkeit dies zu widerlegen: Sie musste den Offizier finden, der ihr den weisen Rat gegeben hatte. Die Behörden fanden ihn, zu dieser Zeit wurde er, als Führer einer antifaschistischen Widerstandsbewegung im Todeslager, zum Helden ernannt, bekam Orden und so weiter und so fort. Die Behörden verhörten ihn. Er, ein wahrhafter Held im deutschen KZ, berichtete, dass er solch eine Ärztin nicht kenne. Er hatte Angst… Stalin war für ihn schlimmer als Hitler. Durch das Gerichtsverfahren gaben sie ihr 25 Jahre Lager für die „Zusammenarbeit mit nationalsozialistischen Spezialeinheiten“. Erneut Lager, diesmal das sowjetische. Sie überlebte dort. Kam nach dem Tod Stalins frei. Danach galt sie offiziell als rehabilitiert. Sie arbeitete als Ärztin. Ihre ganze nicht ausgelebte weibliche Liebe floss in ihre Nichte. Eine hübsche, erhabene, intelligente Frau, die viel las und ohne Illusionen gegenüber der Realität der UdSSR war.
Und derweil – wurde ich erwachsen, schloss die Schule ab, wurde Student. Ich lernte Wiktor Platonowitsch Nekrassow und Leonid Pljuschtsch kennen. Ich wurde ständiger Leser des Samisdat (selbst herausgegebene Untergrundliteratur in der Sowjetunion, A.d.R.). 1972 war ich Häftling im internen Gefängnis des KGB. Sogleich, mit dem ersten Tag meines Arrests, begannen Durchsuchungen bei meinen Freunden und Bekannten. Viele riefen sie zum KGB zum Verhör. Sie riefen auch sie, anscheinend registrierten sie ihre häufigen Besuche in unserem Haus. Sie drohten ihr nicht mit dem Gefängnis. Denn alte Lagerinsassen brauchen keine Mahnung, sie erinnern sich auch von alleine sehr genau an ihre Vergangenheit. Sie kapitulierte. Mit der Unterschrift unter dem Protokoll des Verhörs meldete sie, dass ich es war, der ihr den Samisdat zum Lesen gab. Soweit ich mich erinnere, war es die Nobelpreisrede des berühmten Albert Camus. Das Protokoll ist im Archiv des SBU verfügbar, aber es widerstrebt mir schon sehr in diese sowjetische Welt der Angst und des Verrats zurückzukehren.
Nach zehn Jahren kehrte ich nach Kiew zurück. In das traurige sowjetische Kiew. Ich traf mich mit ihr. Ich unterhielt mich warmherzig, verstand vieles. Ich stellte ihr keine schmerzhaften Fragen. Ich fragte sie nicht das Wichtigste: Ob sie das Haus meiner Eltern besucht hatte, nachdem sie das Protokoll beim KGB unterzeichnet hatte? Ich wollte nicht fragen. Warum schreibe ich das alles? Warum erinnere ich an diese sehr lang zurückliegende Geschichte menschlicher Schwäche? Was haben sie damit zu tun, die jungen Ukrainer, mit diesen seltsamen und schrecklichen Tagen… Sie leben in einem völlig anderen Land, haben ein Recht auf vieles. Ich schreibe mit nur einem einzigen Ziel: Die Folgen der Angst aufzuzeigen, die uns ständig zwingt, Schurken und Ganoven an der Macht zu halten. Es stimmt, wir mögen sie nicht, wir wissen vieles über sie… Aber ständig halten wir sie an der Macht.
Und noch etwas äußerst Wichtiges. Wir müssen lernen zu verzeihen. Sogar dem Feind. Er, dein Feind oder der Mensch, der dich verrät, wurde nicht zum Dreckskerl geboren. Das System hat ihn zu einem gemacht. Dem System aber dürfen wir niemals verzeihen. Und das ist meine ganze gestutzte Weisheit. Der Banalität sehr ähnlich.
26. Februar 2018 // Semjon Glusman
Quelle: Lewyj Bereg
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