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Was Europa von der Ukraine lernen kann

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„Die Frage ist nicht, ob die Ukraine es wert ist, zu Europa zu gehören – sondern ob das heutige Europa den tiefsten Hoffnungen der Ukrainer gerecht werden kann.“

Da sich die europäischen Parlamentswahlen im Mai nächsten Jahres nähern, sollten wir uns die aktuellen Ereignisse in der Ukraine bewusstmachen. Die Proteste, die zum Sturz des Präsidenten Janukowytsch und seiner Gang im letzten Februar führten, wurden von der Entscheidung der Regierung ausgelöst, die guten Beziehungen zu Russland über eine mögliche Integration des Landes in die Europäische Union zu stellen.

Es war absehbar, dass viele Linke auf die Nachrichten über diese massiven Proteste auf herablassende Weise reagieren würden: „Wie verblendet müssen die sein, Europa zu idealisieren, ohne zu sehen, dass es sich im Niedergang befindet! Die verstehen nicht, dass ein Beitritt zur Europäischen Union die Ukraine zu einer wirtschaftlichen Kolonie Westeuropas machen wird – so wie Griechenland.“

Was diese Linken ignorieren, ist jedoch, dass die Ukrainer keineswegs blind gegenüber der Realität der Europäischen Union sind. Sie sind sich sehr im Klaren über die Probleme und Ungleichheiten Europas. Ihre Botschaft war einfach, dass ihre eigene Situation viel schlimmer ist. Europas Probleme – wirtschaftliche Instabilität, das unerbittliche Problem der Arbeitslosigkeit: all das sind immer noch Luxusprobleme. Wir sollten daran denken, dass trotz des griechischen Dilemmas immer noch scharenweise afrikanische Flüchtlinge dort ankommen – zum Zorn rechter Patrioten.

Eine viel wichtigere Frage ist: Wofür steht das „Europa“, auf das sich die ukrainischen Demonstranten beziehen? Europa kann nicht auf eine einzelne Vision reduziert werden: Es umfasst das ganze Spektrum von nationalistischen – und sogar faschistischen – Elementen bis hin zur Idee, die Étienne Balibar „égaliberté“ nennt, Freiheit-durch-Gleichheit, welche der einzigartige Beitrag Europas zur globalen politischen Bilderwelt ist, selbst wenn die europäischen Institutionen dieses Erbe heute mehr und mehr verraten. Zwischen diesen beiden Polen vertrauen nur die Naiven dem liberal-demokratischen Kapitalismus. Was Europa daher in den ukrainischen Protesten wiedererkennen sollte, ist seine eigene beste Seite und seine eigene schlimmste Seite.

Der Nationalismus der ukrainischen Rechten ist Teil eines neuen Populismus, der sich gegen Einwanderer richtet und auf eine neue Religiosität setzt, um sich als Bollwerk Europas zu präsentieren. Die Gefahr dieser neuen Rechten wurde schon vor einem Jahrhundert klar von G. K. Chesterton erkannt, der in seinem Werk „Orthodoxie“ die grundlegende Zwickmühle der Religionskritiker beschrieb: „Männer, die beginnen, die Kirche zugunsten von Freiheit und Menschlichkeit zu bekämpfen, neigen dazu, Freiheit und Menschlichkeit über Bord zu werfen, damit sie nur weiter gegen die Kirche kämpfen können.“

Gilt das gleiche nicht für die Verteidiger der Religion? Wie viele fanatische Anwälte der Religion begannen damit, die zeitgenössische säkulare Kultur zu bekämpfen, und verzichteten dafür auf jede bedeutsame religiöse Erfahrung? Gilt das gleiche nicht auch für die zur Zeit vermehrt in Erscheinung tretenden Verteidiger Europas gegen die Gefahr durch Einwanderung? In ihrem Eifer, Europas christliche Werte zu bewahren, sind diese Eiferer dazu bereit, das eigentliche Herz des europäischen Erbes aufzugeben.

Was sollten wir in einer solchen Situation tun? Mainstream-Liberale sagen uns, dass wir uns alle hinter der liberal-demokratischen Agenda der kulturellen Toleranz versammeln sollten, wenn die demokratischen Werte durch ethnische oder religiöse Fundamentalisten bedroht sind. Dass wir retten sollten, was zu retten ist, und unsere Träume von einer radikaleren sozialen Umgestaltung verschieben sollten.

Was ist also mit dem liberal-demokratischen kapitalistischen Traum, für den sich die ukrainischen Demonstranten so heftig eingesetzt haben? Man kann sich ja nicht sicher sein, was die Ukraine in der Europäischen Union erwartet, aber Austerität gehört sicher zu diesem Paket.

Wir alle kennen den bekannten Witz aus dem letzten Jahrzehnt der Sowjetunion über Rabinowitsch, einen Juden, der auswandern will. Der Bürokrat im Auswanderungsbüro fragt ihn, warum, und Rabinowitsch antwortet: „Es gibt zwei Gründe. Der erste ist, dass ich mich davor fürchte, dass in der Sowjetunion die Kommunisten die Macht verlieren werden, und die neuen Machthaber die Verantwortung für die kommunistischen Verbrechen auf uns, die Juden, schieben und es neue anti-jüdische Pogrome geben wird…“ „Aber,“ unterbricht ihn der Bürokrat, „das ist doch kompletter Unsinn, nichts kann sich in der Sowjetunion verändern, die Macht der Kommunisten wird ewig andauern!“ Worauf Rabinowitsch ruhig antwortet: „Das ist der zweite Grund.“

Wir können uns leicht eine ähnliche Unterhaltung zwischen einem kritischen Ukrainer und einem Finanzverwalter der Europäischen Union vorstellen. Der Ukrainer beschwert sich: „Es gibt zwei Gründe, warum wir in der Ukraine in Panik sind. Erstens fürchten wir uns davor, dass die EU einfach dem russischen Druck nachgeben wird, und unsere Wirtschaft kollabieren lässt…“ – Worauf der EU-Verwalter ihn unterbricht: „Aber Sie können uns vertrauen, wir werden euch nicht im Stich lassen, wir werden euch eng kontrollieren und euch sagen, was ihr zu tun habt!“ „Ja,“ antwortet der Ukrainer ruhig, „das ist mein zweiter Grund.“

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Daher, ja, die Demonstranten auf dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz waren Helden, aber der echte Kampf beginnt jetzt: Der Kampf darum, was die Ukraine sein wird. Und dieser Kampf wird viel härter als der Kampf gegen die Putin’sche Intervention. Die Frage ist nicht, ob die Ukraine es wert ist, zu Europa zu gehören – sondern ob das heutige Europa den tiefsten Hoffnungen der Ukrainer gerecht werden kann.

Wenn die Ukraine als Mischung aus ethnischem Fundamentalismus und liberalem Kapitalismus endet, mit Oligarchen als Strippenzieher – dann wird sie so europäisch sein, wie Russland (oder Ungarn) heute ist. Politische Kommentatoren schrieben, dass die EU die Ukraine nicht genug in ihrem Konflikt mit Russland unterstützt hat, und dass die Antwort der EU auf die russische Besatzung und Annexion der Krim nur halbherzig war. Aber es gibt noch eine andere Unterstützung, die viel eher fehlte: Der Ukraine wurde niemals eine machbare Strategie angeboten, wie sie aus ihrer sozialen und ökonomischen Blockade herauskommen könne. Um das zu tun, sollte sich Europa erst selbst verwandeln und das eigene Engagement für den emanzipatorischen Kern seines eigenen Erbes wiederentdecken.

In seinen „Notizen im Hinblick auf eine Definition der Kultur“ bemerkte der große Konservative T. S. Eliot, dass es Momente gibt, in denen es lediglich die Wahl zwischen Sektierertum und Unglauben gibt, in denen der einzige Weg, eine Religion am Leben zu erhalten ist, einen „sektiererische Abtrennung“ von ihrem Hauptkörper vorzunehmen. Das ist unsere heutige Chance: Nur mit Hilfe einer „sektiererischen Abtrennung“ vom verfaulenden Körper des alten Europas können wir das europäische Erbe der „égaliberté“ am Leben erhalten.

Diese Abtrennung sollte die Grundprämissen problematisieren, die wir als unser Schicksal akzeptiert haben, als unausweichlicher Beweis unserer Zwickmühle: Das Phänomen, das man üblicherweise die globale Neue Weltordnung nennt, und die Notwendigkeit, uns an sie durch „Modernisierung“ anzupassen. Grob gesagt: Wenn die entstehende Neue Weltordnung für uns ein alternativloses Schicksal ist, dann ist Europa verloren.

Deshalb ist die einzige Lösung für Europa, das Risiko auf sich zunehmen und den Zauberspruch dieses Schicksals zu brechen. Nur in so einem neuen Europa könnte die Ukraine ihren Ort finden. Es sind nicht die Ukrainer, die von Europa lernen sollten, sondern Europa selbst muss lernen, sich den Traum, der die Maidandemonstranten antrieb, einzuverleiben.

April 2014 // Slavoj Žižek

Quelle: In these times

Übersetzung: Thomas R. Wendekind

Slavoj Žižek ist ein aus Slowenien stammender Philosoph, Kulturkritiker und Theoretiker der Psychoanalyse.

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