Die gestohlene Zukunft
Wir trafen uns in all den Jahren nicht oft. Ab und zu, aber sehr selten, schrieben wir uns kurze Briefe. Wenn er sich dienstlich in Kiew aufhielt, hatte er nicht die Möglichkeit, sich mal eine Stunde abzuzwacken, mal loszureißen vom offiziellen Ablaufplan. Er – ein Spitzenarzt, der in seinem Land eine unabsehbare politische Karriere gemacht hatte: als Mitglied des Parlaments, als Minister und dann als Mitglied des Europäischen Parlaments. Es gab eine Periode, in der er in seinem Parlament für uns “verantwortlich” war, für uns, die gerade damit anfingen, in einer selbstständigen Ukraine zu leben.
Wir haben uns zufällig in Washington kennengelernt. Ich wurde damals auf einen Kongress in die USA eingeladen, wo man von mir einen Bericht über die Menschenrechtssituation in der Ukraine erwartete. Er war dort als europäischer Experte anwesend. Eine amerikanische, öffentliche Organisation, die mir meinen Besuch in Washington bezahlt hatte, war sehr daran interessiert, mich eine spezifische These vortragen zu lassen: dass es in der Ukraine nach wie vor einen blühenden, staatlichen Antisemitismus gäbe. Ich habe es natürlich abgelehnt, zu lügen, woraufhin man mich sofort bestrafte, in dem man mich nicht mehr übersetzte und ich gezwungen war, in meinem ärmlichen Englisch aufzutreten.
Danach kam er zu mir, stellte sich vor. Und lotste mich in ein naheliegendes Restaurant, in dem wir etwa drei Stunden verbrachten. Wir sprachen größtenteils über die Ukraine. Er war über unser Leben dort gut informiert. Seine genauen Beobachtungen beeindruckten mich damals sehr bei unserem ersten Treffen. Er sagte Folgendes: “Faktisch waren es die Ukrainer, die die größte ethnische Gruppe in den sowjetischen Politlagern ausmachten. Viele von ihnen wurden Berufspolitiker. Das Einhalten der individuellen Rechte des Menschen kam für sie damals erst an zweiter Stelle. Vergleichen Sie das mal mit Russland, dort herrscht ein etwas anderes Bild. Dort wollen die ehemaligen sowjetischen Dissidenten ihr Engagement unter den Bedingungen der Freiheit weiter fortsetzen.” Das war die Wahrheit. Jene Wahrheit, die ich damals nicht von selbst erkannt hatte.
Einige Jahre später trafen wir uns in London, wo ich dienstlich im Rahmen meiner Psychiatertätigkeit zu tun hatte. Mein guter Freund (damals war er schon mein Freund) riss sich für mich zweimal von seinen wichtigen Regierungsangelegenheiten los. Natürlich sprachen wir wieder über die Ukraine. Er zeigte erneut ein tiefes Wissen und vollstes Verständnis für uns und unser tölpelhaftes inneres wie äußeres Leben. Sehr deutlich sprach er – und ich unterstützte ihn darin aufrichtig – von dem Unvermögen und rücksichtslosen Politisieren der Institution des ukrainischen Bürgerbeauftragten. Er, mein Freund, kannte sogar beschämende Details, die mir bis dato fremd waren.
Kürzlich sprachen wir in Kiew erneut über die Ukraine. Er äußerte sich dabei klar und deutlich. Er, der bekannte westliche Experte und Politologe, der in einem gewissen Maße die Beziehung seiner Regierung zu unserer Lage mitbestimmt, sagte: “Ihr habt euch eure europäische Zukunft selbst gestohlen. Ihr habt einen total korrupten Staat. Und ich verstehe nicht, was für Forderungen an eure aktuelle Bürgerbeauftragte überhaupt gestellt werden können, wenn diese doch im Grunde keine ernstzunehmenden Befugnisse hat, und wenn euer gesamtes System aus Richtern und Staatsanwälten von Korruption befallen ist. Vor dem Hintergrund eures Verfassungsgerichts sehen Frau Lutkowskaja und ihre Mannschaft alle aus wie Engel des Rechtsschutzes. Ja, ich weiß, dass sich über ihr dunkle Wolken zusammenbrauen. Denn einige eurer Politiker wollen an ihrer Stelle einen für sie bequemeren Menschen sehen. Im Endefekt ist das auch ihr Recht – ein Bürgerbeauftragter ist ein Repräsentant des Parlaments und nicht des ukrainischen Volkes. Wir in Brüssel und auch andere Staaten behalten die Anzeichen der Degradierung eures Staates jedoch im Auge, und die Anzeichen machen uns Angst.” Außerdem sagte er noch: “Du bist doch nun wirklich nicht mehr der Jüngste. Warum willst du denn auch jetzt nicht die Ukraine verlassen? Verstehst du es denn nicht: Dein Land hat keine europäische Zukunft!”
Noch am selben Tag, gen Abend, sollte er sich im Rahmen einer Delegation mit dem Präsidenten Poroschenko treffen.
22. Juni 2015 // Semjon Glusman
Quelle: Lewyj Bereg