„Ich habe eine sehr einfache Frage: Herr Präsident, warum sind wir bisher noch nicht in der Nato?“, diese Replik Selenskis [Wolodymyr Selenskyj], im Gespräch mit dem Journalisten von HBO verlautbart und warum-auch-immer an den neuen amerikanischen Führer adressiert, bleibt lange in Erinnerung.
Obgleich es in eben jenem Gespräch an anderen charakteristischen Entgegnungen nicht mangelte: „Die Ukraine ist kein gleichberechtigtes Mitglied der Europäischen Union“ [eigentlich: „Die Ukraine ist kein gleichberechtigtes Mitglied der Europäischen Union und der Welt“, was jedoch aus der offiziellen Übersetzung des Interviews verschwand. A.d.Ü.], „Wir gehören nicht zu den priorisierten Ländern der Welt, welche Impfstoff sofort erhalten“, „Das ist sehr unangenehm zu fühlen, dass du mit ausgestreckter Hand dastehst.“ und so weiter.
Das frische Interview von Se[lenski] kann man als bizarre geopolitische Beichte betrachten. Doch bei all ihrer Unkenntnis, Infantilität und Plumpheit spiegeln die Wehklagen des Präsidenten die Stimmung wider, die in unserer Gesellschaft nicht erst ein Jahr präsent ist.
Einerseits verspürt die ganze progressive Ukraine ihre Einheit mit der westlichen Zivilisation, distanziert sich vom Moskauer Barbarentum, fiebert mit Biden und sorgt sich um das Schicksal Europas.
Die Ereignisse der vergangenen Woche – der Rausschmiss von Dubinski [gemeint ist der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Präsidentenpartei Sluha narodu, Olexander Dubinskyj, der nach US-Sanktionen wegen angeblicher Einmischung in die US-Wahlen, sprich öffentlich die Korruption um den ukrainischen Gaskonzern Burisma mit der feinen Familie Biden in Verbindung gebracht zu haben, aus der Fraktion ausgeschlossen wurde. A.d.Ü.] und die Blockade der kremltreuen Fernsehsender [Die ukrainischen Fernsehsender ZIK, NewsOne und 112 wurden offiziell wegen angeblich russischer Finanzierung geschlossen. Eigentlich allerdings wegen der ständigen Kritik von Selenskyj und den guten Umfragewerten für die von den Sendern unterstützte prorussische Partei „Oppositionsplattform für das Leben“ des Putin-Freundes Wiktor Medwedtschuk. A.d.Ü.]
Wenn Selenski 2024 zu einer zweiten Amtszeit antritt, dann wird er sich eher wohl als eifriger Verfechter der westlichen Werte positionieren.
Doch ist die zivilisatorische Grenze, die uns von der westlichen Welt trennt, wie gehabt unüberwindbar: dabei wurde diese Barriere in letzter Zeit noch greifbarer und körperlicher.
Die Ukraine steht nicht nur außerhalb der Nato, außerhalb der EU, vor dem Hintergrund der sich fortsetzenden Pandemie auch außerhalb des freien Zugangs zum Schengenraum – dazu bisher sogar abseits der Impfungen gegen das Coronavirus, mit denen die Europäische Union und die Vereinigten Staaten noch im Dezember vergangenen Jahres begonnen haben.
Wir sind bereits mit dem Westen, doch noch außerhalb der Grenzen des Westens. Und dieser grenznahe Zustand erinnert an die Geschichte, die einst von Millionen Suchern nach dem neuen und besseren Leben durchlebt wurde.
Ellis Island in der Bucht von New-York – das ist ein Ort, der für viele Mitbürger von Joe Biden und für die gesamte Welt bedeutsam ist. Mehr als ein halbes Jahrhundert, von 1892 bis 1954 befand sich dort das erste föderale Einwanderungszentrum.
Tor der Hoffnung, ein Durchgangspunkt in eine neue Realität, durch den eine Masse an Wanderern ging. Die Mehrzahl von ihnen verbrachte auf Ellis Island einige Stunden, doch wurde etwa jeder Fünfte festgehalten.
Die einen wurden für schwachsinnig gehalten (diese wurden mit dem mit Kreide gekritzelten Buchstaben „X“ gekennzeichnet), bei anderen entdeckte man eine Augenkrankheit (Buchstabe „E“), bei dritten dann einen Gehfehler (Buchstabe „L“); jemandem fand man „politisch unerwünscht“ oder „potenziell belastend“; und jemand wurde in ein Hospital gesteckt oder aufgrund einer möglichen Infektion in Quarantäne gehalten …
Die nicht dem Standard entsprechenden Immigranten mussten die Entscheidung über ihr Schicksal abwarten. Es kam vor, dass ein Neuankömmling auf Ellis Island Monate zubrachte – ähnlich dem legendären amerikanischen Kinohelden.
Es schien, als ob das Schwierigste hinter einem lag. Der schicksalsträchtige Weg über den Ozean bereits getan. Am Horizont zeichnet sich die Freiheitsstatue ab und bis Manhattan ist es ein Katzensprung. Und dennoch ist die neue Welt bisher genauso unerreichbar, wie nah. Die ukrainische Gesellschaft erweist sich als in einer ähnlichen Lage.
Die derzeitige Ukraine ist ein zivilisatorischer Immigrant, der auf einem fiktiven Ellis Island feststeckt.
Aus der Einflusssphäre des Kremls ist man scheinbar weggefahren. Unsere Eingliederung in den Westen wird als vollendete Entscheidung betrachtet.
Doch bisher halten wir uns in der Grenzzone auf, das Warten hat sich auf eine unbestimmte Zeit hingezogen und das gebiert entsprechende Emotionen.
Erstens ist ein Gefühl der Unterschätzung der eigenen Bemühungen vorhanden. Dem Immigranten scheint es, dass er das Recht auf ein neues Leben bereits damit verdient hat, indem er auf das alte verzichtete.
Er hat mit der Vergangenheit gebrochen, er hat vieles durchlebt und vieles geopfert: doch das wird warum-auch-immer nicht geschätzt, indem in den Vordergrund andere, bodenständigere Forderungen gestellt werden.
In unserer Gesellschaft ist die Meinung vorherrschend, dass die Ukraine für das Recht ein Teil der westlichen Welt zu werden bezahlt hat – bezahlt mit zwei Revolutionen, dem Krieg mit dem Kreml und dem Verlust von Territorium.
Außerdem wurde in den Jahren der Präsidentschaft Poroschenkos der Gedanke durchgesetzt, dass unser Land die Zivilisation vor den Putin’schen Horden schützt und der Westen in unserer Schuld steht.
Wenn Präsident Selenski bald in die Fußstapfen seines Vorgängers tritt, dann wird dieses Thema mit neuer Kraft ertönen: die Ukrainer davon überzeugend, dass die westlichen Schikanen unbegründet sind.
Zweitens gibt es das Gefühl des Neides gegenüber denen, die mehr erreicht haben. Für den festgehaltenen Immigranten ist es ärgerlich zu sehen, wie der aus einer Gegend stammende mit ihm von einem Schiff kommende, bereits ins neue Leben gelassen wurde.
Anfänglich versuchte die Ukraine, sich mit den ehemaligen Genossen aus dem sozialistischen Lager zu vergleichen: Polen, Tschechien, Ungarn. Danach verfolgte sie die ehemaligen Nachbarn aus dem sowjetischen Imperium – das Baltikum.
Danach kam die Reihe an Rumänien und Bulgarien, die man schwerlich als Referenzobjekt für Zivilisiertheit bezeichnen kann.
Und jetzt ist es an der Zeit Albanien zu beneiden, das bereits in der Nato, ein anerkannter EU-Beitrittskandidat ist und sich bereits seit einigen Wochen gegen Covid-19 impft.
Je ärmer und problematischer das nächste Land ist, das uns im zivilisatorischen Wettlauf überholt, um so bitterer der Nachgeschmack, der in der Seele der ukrainischen Beobachter bleibt.
Letztlich gibt es einen Groll gegen die unüberwindbaren Umstände, die das Erreichen des Ziels erschweren. Der Immigrant hält es für ungerecht, wenn er für Unpässlichkeiten und Mängel festgehalten wird, die ihm nicht vorgehalten werden können.
Ein bedeutender Teil der ukrainischen Gesellschaft ist geneigt, ähnlich zu urteilen. Sind denn wir daran schuld, dass wir im Unterschied zu Polen oder dem Baltikum keine vollwertige Erfahrung von Staatlichkeit im XX. Jahrhundert hatten?
Sind wir denn daran schuld, dass wir eine gemeinsame Grenze mit dem aggressiven Russland haben? Sind wir denn daran schuld, dass unser Land riesig, heterogen und daher schwer irgendwohin integrierbar ist?
Dazu werden Mantras hinzugefügt, wie „Wir haben einfach kein Glück mit der Elite“ und „Wir haben einfach kein Glück mit dem Volk“. Und diese Reihe von Kränkungen verdeckt klare Kriterien, die von jedem von uns abhängen und korrigierbar sind.
Es ist unzweifelbar, dass all diese aufgezählten Gefühle Präsident Selenski bekannt sind – dem bis vor kurzem Durchschnittsbürger, der an die Spitze der Macht emporstieg. Nichtschätzung, Neid, Kränkung entschlüpfen sogar den öffentlichen Äußerungen Wladimir Alexandrowitschs.
Die eigene politische Karriere mit dem Westen verbindend, erwartet er, dass der ukrainische Aufenthalt auf dem zivilisierten Ellis Island wenn nicht verkürzt, so doch wenigstens versüßt wird.
Pjotr Poroschenko [Petro Poroschenko] hatte die Visafreiheit. Ein erreichbares Symbol der Annäherung an die westliche Welt, das für die Massen verständlich war und gerade rechtzeitig eintraf, um die europaskeptischen Stimmungen in der Gesellschaft auszulöschen.
Wladimir Selenski blieb von der Sache her ohne funktionierende Visafreiheit. Sich der Anschuldigungen der „Regierung von außen“ und der Nutzlosigkeit des euroatlantischen Kurses zu erwehren, wird für ihn schwieriger als für den Vorgänger.
Es ist nicht gesagt, dass das Staatsoberhaupt damit fertig wird: besonders wenn er von den westlichen Partnern nicht das Gewünschte erhält. Und es ist nicht gesagt, dass die Vereinigung der Ukraine mit dem Westen, die scheinbar endgültig in dieser Woche bestätigt wurde, nicht erneut infrage gestellt wird.
Letztendlich konnte man von Ellis Island nicht nur auf das Festland gelangen, sondern auch zurückfahren.
7. Februar 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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