Glaube aus Angst und Liebe


Ich hatte das Glück, Bibler1 noch persönlich kennenzulernen. Zu den frühen Gorbatschow-Zeiten machte mich eine Moskauer Freundin mit einem stillen Menschen bekannt, der mir auf meine dumme Frage über die Zukunft folgendes antwortete: „Die Ideologie – das ist eine für alle. Die Moral hingegen bleibt immer etwas persönliches.“ So konnte nur ein Philosoph antworten. Ein leibhaftiger und nicht so einer, der an einer handelswirtschaftlichen Fachoberschule den Marxismus-Leninismus lehrte.

Später habe ich viel von Bibler gelesen. Ich hatte versucht, mich mit seiner Weisheit vollzustopfen, mich mit ihr zu stärken. Sie klang beispielsweise so: „Das Gefühl der eigenen Wertschätzung bringt noch keine Moral hervor, aber es ist die Voraussetzung, ohne die ein moralisches Benehmen nicht einmal im Keim entstehen kann.“ Damals, am Anfang unserer staatlichen Unabhängigkeit, hatte ich unsere Vorzeige-Patrioten von Universitäts-Chefs mehrfach versucht dazu zu überreden, Bibler nach Kiew einzuladen, zu den Studenten. Leider hatte es nie geklappt, denn der große Bibler sprach kein Ukrainisch. So wie auch all die anderen weisen Menschen, die bereit waren, ihr Wissen in die Ukraine zu bringen. Schade, hätte die Einimpfung fremder Weisheiten doch unsere provinzielle Elite ernüchtern lassen.

Vor langer, langer Zeit, noch vor Glasnost und Perestrojka und noch vor unserer Staatsgründung, im vierten Jahrhundert, sagte der Theologe Athanasius von Alexanderia: „Gott kann alles, doch er kann den Menschen nicht retten ohne den Menschen.“ Gut zweitausend Jahre später, und der Gedanke ist immer noch genauso aktuell. Mein Kollege Karl Jaspers, ein bekannter deutscher Psychiater (und ein hervorragender Philosoph noch dazu!), schrieb in der Mitte des 20. Jahrhunderts: „Gott sagt den Menschen nicht direkt, was er von ihnen möchte. Es gilt die Demut vor der Unwissenheit. Auf die Fragen Hiobs gibt es keine Antworten. Den Gipfel dieser Demut verkörpert der alte Weise Jeremia.“

Ich weiß, ich bewege mich nun auf verbotenem Terrain. Darüber wird in der Ukraine wenig gesprochen – und wenn ja, dann nie laut. Zwar entstehen Hunderte neue Kirchenhäuser, doch die Gläubigen werden immer weniger. Ob innerhalb des Priestertums oder unter den Kirchengängern. Bei mystischen, religiösen Erfahrungen ist man dazu veranlagt, zu schweigen, weil es nur dann zu einer göttlichen Verschmelzung mit dem Absoluten kommt. Beim Glauben an Götzen oder im Heidentum braucht es keine Moral. Dort genügt das reine Ritual. Dort heißt Glaube Angst. Etwas ganz anderes ist der Glaube aus der Liebe heraus. Der Glaube ist, wie die Moral, immer etwas persönliches. Demnach unterliegen moralische Anschauungen wie auch menschliche Ideale und Ziele keiner gesetzlichen Definition. Das Recht darf in die innere Freiheit nicht eindringen, denn mit juristischen Mitteln lassen sich keine Voraussetzungen für Liebe und Güte schaffen.

Die Moral ist immer etwas persönliches. Mein ältester Freund und Lehrer Iwan Aleksejewitsch Switlytschnyj2 lebte dieses Prinzip. Sogar damals im Lager, wo das Leben von ganz anderen alltäglichen Verhaltensmustern diktiert worden war. Er philosophierte nicht, sprach von keinem Absoluten, sprach keine patriotischen Banalitäten aus. So lebte er. Ich hatte wirklich Glück mit meinem Lehrer. Außerdem hatte ich das Glück, im Lager einen wirklich gläubigen Menschen kennenzulernen: den tiefsinnigen, aufrichtigen Christen Stepan Memtschur. Ja, im Lager war das. Dort, wo man schneller das Falsche erkennt.

So viele weise und aufrichtige Menschen sind uns vorausgegangen! Lernen sollten wir von ihnen, uns an sie erinnern. Doch stattdessen warten wir auf Anweisungen von Oben. Ob aus den Palästen des Absoluten oder aus der Administration des Präsidenten. Gott, das Absolute, spricht uns nie direkt an. Um etwas von seinem Wissen zu erhalten, ist Kraft notwendig – nicht nur intellektuelle, sondern auch moralische. Unser Präsident hingegen, spricht selten mit uns, denn er hat es schwer mit uns, ach, wie schwer.

In einem bin ich mir sicher: Würde Iwan Aleksejewitsch2 noch unter uns sein, wären wir irgendwie anders. Wie wären besser, aufrichtiger, oder so etwas in der Art. Bibler und all die anderen letzten Mohikaner mit russisch-europäischem Intellekt hätten bis zur Erschöpfung, bis zur Heiserkeit vor unseren Studenten gestanden. Ungeachtet dessen, dass sie kein Ukrainisch sprechen. Und siehe da, auch unsere Wahlvorlieben wären andere. Dann gäbe es solche gesetzgebenden Selbstbefriedigungen wie die von Herrn Tschetschetow nicht. Und auch keine sprachlichen Initiativen wie die von Kiwalow-Kolesnitschenko.

14. Oktober 2013 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

1 Wladimir Solomonowitsch Bibler, russischer Philospoh, lebte von 1918 bis 2000.

2 Iwan Aleksejewitsch Switlytschnyj, ukrainischer Poet, Literaturwissenschaftler, lebte von 1992 bis 1992.

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 711

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