Glaube und Realität


Am 26. Dezember 1989 kaufte ich am Zeitungskiosk eine Ausgabe der rumänischen zentralen Zeitung „Skynteja” (Der Funke. A.d.Ü.), die mit der letzten Post aus Budapest gekommen war. Geschmückt war die erste Spalte mit Orden und den gewöhnlichen Aufrufen an die Proletarier aller Länder sich zu vereinigen.

In der Ausgabe stand nichts Außergewöhnliches: eine Rede des rumänischen Präsidenten und des Generalsekretärs der kommunistischen Partei Nicolae Ceaușescu an die Arbeiter des Landes, eine Mitteilung über die Rückkehr des Präsidenten aus dem Iran (an der Landebahn erwartete ihn Vize-Premier und Mitglied des Politischen Exekutivkommitees der Rumänischen Kommunistischen Partei Elena Ceaușescu), Artikel über die Arbeitsamen in der Schwerindustrie und die nicht leichte Arbeit der Bauern etc. Das Paradoxe an der Sache bestand darin, dass die internationale Post damals lange brauchte. Der Stapel „Skynteja” wurde am 21. Dezember in Bukarest losgeschickt. Und bereits am 22. flüchteten Nicolae und Elena Ceaușescu aus der Stadt und wurden bald darauf erschossen.

„Skynteja” wurde nicht mehr herausgebracht – es war ihre letzte Auflage der Geschichte. Und rumänische Zeitungen erreichten uns auch nicht mehr – das war die letzte Zustellung.

Ich erinnere lediglich daran, um mir eine Frage stellen zu können: wenn man nämlich am 20. Dezember, den Mitarbeitern der zentralen rumänischen Zeitung , die an der aktuellen Ausgabe arbeiteten, gesagt hätte, dass alles endlich ist, dass weder ihre Zeitung weiter existieren wird, noch die Kommunistische Partei, noch Ceaușescu, dass schon in wenigen Jahren der von ihnen längst vergessene Ion Iliescu Präsident sein würde, welcher die letzten Jahre sozusagen unter Hausarrest verbrachte – hätten sie dies geglaubt? Im Leben nicht! Natürlich gingen sie auch auf die Straßen Bukarests und sahen, dass die Leute schlechter und schlechter lebten und die Wut gegen die Macht beständig wuchs. Aber sie glaubten nicht an die Fähigkeit dieser Leute zum Massenprotest, zum Widerstand gegen die repressive Propagandamaschine. Und außerdem waren sie überzeugt, dass der Präsident der Republik auf jeden Fall einen Ausweg aus der Situation finden werde. Nicolae Ceaușescu – das muss man ihm lassen – war wirklich ein erfahrener, rigider, schlauer und wendiger Politiker. Aber zum Zeitpunkt seines Scheiterns hatte er vollends die Orientierung darüber verloren, was um ihn vor sich ging.

Wenn man sich in einem außer Kontrolle geratenen Auto befindet, das sich geradewegs auf einen Abgrund zubewegt, möchte man natürlich an das Beste glauben. Daran, dass das Auto eigentlich gelenkt wird, denn es kann ja nicht nicht gelenkt werden, der Fahrer befindet sich schließlich am Steuer! Daran, dass sich vor einem nicht ein Abgrund befindet, sondern die schöne Zukunft. Daran, dass nicht dein ganzes Leben in diesem alten Auto ohne Bremsen verlaufen kann – das wäre einfach nicht gerecht! Und dieser Glaube ans Gute hindert uns daran, nüchtern die Situation einzuschätzen, in die wir infolge der zwei Amtsjahre des Präsidenten Wiktor Janukowitsch und seines Umfelds geraten sind.

Ich bin mir sicher, dass jetzt ein Teil der Leser empört mit den Achseln zuckt: warum alle Schuld auf Janukowitsch abwälzen? War es mit Juschtschenko etwa besser?

Und Kutschma? Hat sich dieser Staat etwa während der letzten zwei Jahre wesentlich geändert? Wir saßen auch früher in diesem ungesteuerten Auto, nur die Fahrer haben gewechselt.

Aber das ist nicht so. Juschtschenko war sehr schädlich – schwach, selbstverliebt und inkonsequent – der Präsident eines oligarchischen Staates, der neue Demokratie spielte. Kutschma war wirklich kein schlechter Bauherr desselben oligarchischen Staates. Aber zwischen einem oligarchischen Staat und einem kriminalisierten Regime gibt es einen großen Unterschied. Der oligarchische Staat ist zur Evolution in der Lage – in Richtung Demokratie oder Diktatur. Ein kriminelles Regime kann nur scheitern.

Wovon wurden wir in all den Jahren zuvor Zeugen? Augenscheinlich von Bereicherungen der Machthabenden – mitunter auch durch den Ausbau des Kräftegleichgewichts, wofür staatliche Institute einfach unabdingbar sind, auch wenn sie lediglich dekorative Funktion haben. Und wovon wurden wir in letzter Zeit Zeugen? Davon, dass man sich dort oben sinnlos die Taschen mit allem füllt, was nicht niet- und nagelfest ist, sich von Zeit zu Zeit umblickt und denen, die sich in nächster Nähe befinden, zuflüstert, dass bald alles zuende sein wird und man sich schnell eindecken müsse.

Natürlich, unter ihnen finden sich auch Wahnsinnige, die glauben, dass das ewig so weiter gehen kann, Schlauköpfe, die meinen, dass sie in den trüben Wassern eines großen Stromes schwimmen und einfach überzeugte Konjunkturritter, die sich sicher sind, dass dies die staatliche Richtung sei. Aber der wesentliche Grund ist immer noch derselbe – die Menschen sterben fürs Gold! (Anspielung auf Gounods Faust-Oper. A.d.Ü.)

Es gibt kein Kräftegleichgewicht, keinen Respekt, in keiner Richtung irgendwelche politischen Erfolge, keine Idee davon, wie man aus der wirtschaftlichen Sackgasse wieder herauskäme, nichts dergleichen, überhaupt nichts! Es werden irgendwelche unsinnigen verzweifelten Handlungen unternommen, die in keiner Weise vernünftig sind und über kein realistisches Ziel verfügen.

Und dazu diese Woche: die Stippvisite des Präsidenten in Moskau – obwohl klar ist, dass die Beziehungen, die durch zweijähriges verächtliches Ignorieren der realen Voraussetzungen der Zusammenarbeit mit Putin erarbeitet wurden, nicht mehr zu beeinflussen sind.

Und die provozierende Absage des Treffens ukrainischer Vertreter des Kirchenrates mit europäischen Führungskräften, obwohl klar ist, dass dies Brüssels Geduld nur weiter aufs Spiel setzt. Und jetzt sehen wir mal, was die Gesellschaft wirklich interessiert, welche Themen sie in Rage versetzen. Nicht einmal die Renten, Gehälter oder Steuern. Nikolajew!

Und dabei sind die Menschen irgendwie instinktiv überzeugt, dass für solche Handlungen nur „die” in der Lage sind, die Leute, die irgendwie zur Macht gehören, obwohl klar ist, dass es Gewaltverbrecher und Mörder keineswegs nur in der Organisation „Junge Regionen” gibt. Losinskij (erschoss einen einfachen Dorfbewohner, bekam 15 Jahre Gefängnis) war Mitglied der Fraktion BJuT – aber das wird man in einigen Monaten für immer vergessen haben.

Dies sind die Symptome akuten Hasses vor dem Hintergrund völliger Unkontrollierbarkeit. Die Tatsache, dass die politische Elite – von der Regierung bis zur Opposition – fortfährt nach alten Regeln zu spielen – zeigt ein weiteres Mal, wie weit man von der Realität entfernt ist. Die „Regionalen” sind damit beschäftigt, die Mehrheit im Parlament aufrecht zu erhalten, die Opposition damit, irgendwie eine Einheit zu schaffen.

Liebe Freunde, 1989 hatte die Rumänische Kommunistische Partei hundert Prozent der Plätze im Parlament des Landes. Und überhaupt hat in allen autoritären Ländern die „Partei an der Macht” im Normalfall die Mehrheit und die Opposition ist in der Minderheit. Aber das hat nur in einem effektiven Staat eine Bedeutung. Kann ein autoritärer Staat effektiv sein? Für die Anhänger der Demokratie bedauerlicherweise: er kann, eine Zeit lang. Nur auf kriminelle Regime des „familiären Typs” trifft dies nicht zu.

Das rumänische Regime starb – im Unterschied zu Regimen anderer sozialistischer Länder – insbesondere deshalb gemeinsam mit dem Staatsoberhaupt, weil Ceaușescu das klassisch autoritäre Land, das er vom ersten Parteiführer der rumänischen Kommunisten Gheorghe Gheorghiu-Dej als Erbe übernommen hatte, in ein Familienunternehmen verwandelte, in dem es keinen Platz für staatliche Institute gab, nicht einmal dekorativer Art.

Der letzte Präsident der sozialistischen Tschechoslowakei Gustáv Husák, der mit in die sowjetische Okkupation des Landes verwickelt gewesen ist, blieb bis zum Ende seines Mandates – und dann wählte dasselbe kommunistische Parlament als seinen Nachfolger – ja-ja, Václav Havel. Polnische Kommunisten, die nicht lange zuvor den Kriegszustand im Land ausgerufen hatten, setzten sich mit Oppositionsmitgliedern der „Solidarność” am runden Tisch zusammen und teilten mit ihnen die Macht – was den realistischsten unter ihnen die Möglichkeit gab, sich umzugruppieren und bereits bei den demokratischen Wahlen an die Macht zurückzukehren. Ceaușescu und seine Frau starben, die Partei wurde verboten, das Parlament entlassen, sogar die Redaktion der „Skynteja” – auch die wurde geschlossen. Aber hätte es anders verlaufen können?

Genau deshalb übernehme ich keine ukrainischen Zukunftsprognosen. Ich weiß nicht, wo der Abgrund zuende ist – niemand weiß das. Aber im Unterschied zu den Journalisten der Bukarester Parteizeitung sah ich wenigstens den Zusammenbruch ihrer Welt voraus – der Welt, die es nur auf den Seiten der letzten Ausgabe der „Skynteja” noch gab und die ihren Bewohnern beständig, unerschütterlich und unendlich hoffnungslos erschienen war.

23.03.2012 // Witalij Portnikow, Chefredakteur und Moderator des Senders TVi

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Wenke Lewandowski  — Wörter: 1343

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.