Der „Golodomor“ von 1932 bis 1961
„Das war die schlimmste Hungersnot in der Geschichte der Menschheit.“
Jasper Becker
Diese Worte des englischen Autors beziehen sich nicht auf den ukrainischen Golodomor, sondern auf eine andere Tragödie – den großen Hunger der Jahre 1959 bis 1961 in China, der mehr als 30 Millionen Menschen das Leben kostete. In der Heimat des großen Vorsitzenden Mao ist dieses Thema bis heute ein Tabu geblieben: die kommunistische Partei bewahrt die militärische Ehre.
Ein solches Totschweigen droht der Katastrophe von 1932/33 schon nicht mehr. Heute wird die Tragödie des ukrainischen Dorfes von anderen Problemen überdeckt.
Wir leben in einer kranken Gesellschaft, in der die Feindseligkeit gegen Viktor Juschtschenko das Mitgefühl mit unschuldigen Opfern überwiegt, in der ideologischer Staub Fakten und Logik verdrängt und Konspiration die historische Wissenschaft ersetzt.
Der Golodomor bleibt ein Teil der Polemik zwischen den zwei Ukrainen, zwischen Westen und Osten, zwischen den Orangenen und den Blau-Weißen.
Wie kann man die tragische Seite unserer Vergangenheit von der ideologischen Last befreien?
Wie kann man die gewohnten Schablonen und primitiven Etiketten loswerden?
Wie kann man sich von den örtlichen Auseinandersetzungen lösen, durch die das Gedächtnis von Millionen Menschen gekränkt wird.
Es lohnt wahrscheinlich, sich bewusst zu werden, dass wir nicht allein stehen, dass der Golodomor von 1932/33 seine Analogien in der Weltgeschichte findet. Der Umgang mit einer fremden Tragödie hilft vielleicht, die eigene besser zu verstehen.
Erste Phase: Der Sprung
Ähnliche wirtschaftspolitische Umstände erzeugen einen ähnlichen Mechanismus des von Menschen geschaffenen Hungers. Die humanitäre Katastrophe im kommunistischen China war eine direkte Folge des „großen Sprungs nach vorn“, der im Jahr 1958 proklamiert wurde.
Auf Befehl von Mao Tse-tung wurden die chinesischen Bauern in „Volkskommunen“ getrieben und revolutionäre Methoden zogen in die landwirtschaftliche Praxis ein. Ähnlich wie Stalin hatte Genosse Mao keine Zweifel, dass die Kollektivierung zu einem beispiellosen Wachstum der Erträge führen würde. Man beabsichtigte eine enorme Steigerung der Getreideexporte, um die erwirtschafteten Gelder in die Stärkung des Militärs investieren zu können.
Man kann jedoch die Gesetze der Ökonomie nicht außer Kraft setzen, sowohl im Rätestaat als auch in der Volksrepublik. In beiden Fällen nahm man den Bauern den wirtschaftlichen Anreiz zur Arbeit und die Produktivität der Landwirtschaft brach heftig ein.
Zweite Phase: Illusionen
Der Führer hat immer Recht und wenn er sagt, dass die Erträge steigen werden, dann wird es wohl auch so sein. Die sowjetischen und chinesischen Staatsdiener lebten in einer ähnlich totalitären Realität und fällten die gleiche Entscheidung: Es ist einfacher, die Exponenten zur Erreichung der geplanten Resultate zu fälschen, als zuzugeben, dass der ambitionierte Plan gescheitert ist.
Die sowjetischen Ernteerträge des Jahres 1932 waren real um das zwei- bis dreifache niedriger, als es die verkündeten Zahlen auswiesen. In der Volksrepublik schlug man den gleichen Weg ein. Im Kreis Xinxiang der Provinz Henan berichtete man von 3,6 Millionen Tonnen Weizen, obwohl der reale Ertrag nicht einmal die Millionengrenze erreichte.
Im „Beispielbezirk“ Fuyang in der Provinz Anhui betrug die Ernte 1959 angeblich 199.000 Tonnen. In Wirklichkeit waren es nur 54.000.
Die Illusion eines nicht vorhandenen Überflusses unterstützend, veröffentlichte die chinesische Presse gefälschte Fotos: Kürbisse in der Größe von Autos, ungewöhnlich dichte Weizenaussaaten, auf denen kleine Kinder stehen konnten…
Gleichzeitig bereiteten sich die staatlichen Getreidespeicher auf die Einlagerung einer Phantomernte vor.
Dritte Phase: Die Suche
Um einen Plan zu erfüllen, der auf fiktiven Berechnungen beruhte, konfiszierte man bei den Ackerbauern den gesamten Reis, Weizen und Mais, inklusive des Saatguts. Aber es gelang irgendwie trotzdem nicht, die angestrebten Zahlen zu erreichen.
Der große Vorsitzende Mao kam zu dem gleichen Schluss, wie schon Stalin 27 Jahre zuvor: Böswillige Bauern hatten das Getreide für sich behalten! Verschwörungstheorien liegen den ideologischen Fanatikern und insofern einte die sowjetischen und chinesischen Kommunisten der tiefe Glaube an die Existenz einer verborgenen Ernte.
Der Schriftsteller Lew Kopelew, der in seiner Jugend an der Getreidebeschaffung in der Poltawschina teilgenommen hatte, erinnerte sich: „Eine Brotfront! Stalin sagte: Der Kampf um Brot ist der Kampf für den Sozialismus. Ich war überzeugt davon, dass wir Kämpfer an einer unsichtbaren Front wären und gegen die Sabotage der Kulaken um Brot kämpfen würden, das unabdingbar für das Land und den Fünfjahresplan sei.“
Und wenn die Prawda 1932 dazu aufrief, eine ganze, unterirdische „Kornstadt“ zu finden, so erklärt einer der Parteifunktionäre des Provinz Henan 1959: „Wir haben genug zu essen und das Getreide reicht aus. Das Problem besteht nur darin, dass neunzig Prozent der Bevölkerung nicht in Einklang mit der Ideologie stehen.“
Vierte Phase: Terror
Die Entschlossenheit, das Getreide um jeden Preis zu beschaffen, führte zu einem echten Krieg gegen die Bauern.
Die chinesischen Methoden unterschieden sich dabei kaum von den sowjetischen: Kommandos, bewaffnet mit metallischen Fühlern, Durchsuchungen von Bauernhäusern, Prügelei und Folter von Menschen, die des Getreidediebstahls verdächtigt wurden. Viele Ackerbauern wurden in Arbeitslager – die so genannten „Laogai“ – verschleppt.
Zeitgenossen verglichen die Aktionen gegen die Bauern mit den Kampfhandlungen gegen die Japaner in den dreißiger und vierziger Jahren.
Die Bauern waren tatsächlich gezwungen, bescheidene Vorräte für die Ernährung ihrer Familien anzulegen, und das Auffinden eines jeden Getreidebündels bestärkte die fanatischen Aktivisten darin, dass sie auf dem richtigen Weg wären.
„Schwarze Bretter“ und die Konfiszierung von Lebensmitteln waren 1932 weit verbreitet und als Bestrafung für Sabotage und Verhehlung der mystischen Ernte gedacht.
In China ging man noch weiter: Damit es den vermeintlichen Dieben nicht möglich wäre, Speisen aus dem Gestohlenen zuzubereiten, beschlagnahmte man bei den Bauern sämtliches Küchengeschirr und des Nächtens wachten aufmerksame Aktivisten darüber, dass niemand ein Feuer entfachte.
Fünfte Phase: Der Tod
Der Terror gegen die Bauern half nicht, die irrealen Pläne zu erfüllen, verursachte aber eine schreckliche Hungersnot. Ohne jegliche Lebensmittelvorräte aßen die Untergebenen Mao Tse-tungs Gras, Blätter und Baumrinde. Kannibalismus war weit verbreitet.
Gleichzeitig setzte die Volksrepublik zwischen 1959 und 1960 den Getreideexport fort. Auf dem Höhepunkt der Hungersnot wurden Millionen von Dollar in die Entwicklung von Atomwaffen gesteckt. Ein vertrautes Bild, oder nicht?
Die administrativen Maßstäbe verstärkten die Katastrophe nur: Die Machthaber konnten nicht zulassen, dass die Bauern vor dem Hunger flüchteten, die Volkskommunen zurücklassend und damit die Autorität der unfehlbaren Partei und Genossen Maos untergrabend. Die Straßen wurden von Milizeinheiten und Soldaten gesperrt.
Ähnlich den Ereignissen der Jahre 1932-1933 hatte die Hungersnot in China eine klar definierte, regionale Färbung. Wenn in der UdSSR die Ukraine und der Kuban stärker litten als andere Regionen, so mussten in China die fruchtbaren Provinzen Henan und Anhui die schwersten Schläge einstecken, die bevölkerungsreichsten Regionen des Landes.
Die Führung betrachtete diese Regionen als Vorposten im Kampf um die Ernte und die örtlichen Kader zeigten besonderen Eifer, mit dem sie das Vertrauen von Partei und Führer rechtfertigen wollten. So beschloss man in der Provinz Anhui, „das rote Banner hochzuhalten, auch wenn dabei 99 Prozent umkommen.“
Sechste Phase: Rückzug
Wie auch Genosse Stalin tat Mao die „übertriebenen“ Berichte über den Hunger lange ab. Der Führer der VR riet seinen Untergebenen: „Lehrt die Bauern, weniger zu essen, machen Sie die Suppen und den Brei dünner!“
Erst 1961, als sie sich der kritischen Lage bewusst wurde, besann sich die chinesische Führung: Es wurde beschlossen, Getreide in Kanada und Australien aufzukaufen, und auf dem neunten Plenums des ZK’s der KP wurde eine Politik der „ökonomischen Regulierung“ beschlossen.
Wie wir wissen, wurde den Bauern der UdSSR 1933 auch Lebensmittel-, Saat- und Futterhilfe zugesprochen, woran sich die heutigen Stalinisten mit Vorliebe erinnern. Aber diese außerordentlich späten Maßnahmen brachten die Menschen nicht ins Leben zurück, die von den Machthabern getötet worden waren.
Der Golodomor in der Ukraine hat Millionen Menschenleben gekostet. Nach verschiedenen Bewertungen hat der große Hunger in China etwa zwanzig bis vierzig Millionen Opfer gefordert. Eine Jagd auf die Zahlen ist jedoch kaum angemessen.
Menschenleben sind kein Handelsgut und keine Bankbürgschaften. Man kann ihr Gewicht nicht messen, ihren Wert nicht nach arithmetischen Formeln berechnen…
Die wirklichen Hintergründe der Katastrophen von 1932/33 und 1959-1961 sind weit schwieriger und tragischer als alle konspirativen Theorien.
In beiden Fällen verflechten sich verschiedene, tödliche Faktoren.
Da ist der Wunsch der Führer, die Realität in den engen Rahmen kommunistischer Dogmen zu zwängen, und die Bereitschaft des bürokratischen Apparats, die Illusion des Erfolgs aufrechtzuerhalten.
Da ist ideologische Paranoia und das Bestreben, jeden Misserfolg mit den Intrigen des Klassenfeindes zu rechtfertigen.
Da sind kollektive Philosophie und die Geringschätzung von Menschenleben, die Bereitschaft, wirkliche Menschen im Namen des Glücks einer abstrakten und verallgemeinerten Arbeiterschaft zu opfern.
Der künstliche Charakter der sowjetischen und chinesischen Hungersnöte, die von der staatlichen Politik provoziert wurden, ruft keine Zweifel hervor. Schwieriger ist die Frage nach den Absichten: Die Führung konnte die Folgen der eigenen Initiativen, die den Massenhunger hervorriefen, nicht immer voraussehen. Aber das entlässt die despotischen Führer nicht aus der Verantwortung für den Tod von Millionen von Menschen.
Daraus folgt nur eins: Die von Stalin und Mao geschaffenen Systeme erwiesen sich als noch schlimmer und erbarmungsloser als ihre Schöpfer.
26.11.2010 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda