"Ich habe nie wieder an der Decke getanzt": Zehn Momente des irdischen und außerirdischen Lebens von Leonid Kadenjuk
Am 31. Januar ist Leonid Kadenjuk, der erste Raumfahrer der unabhängigen Ukraine, gestorben. Genauer gesagt war er der Erste und bislang noch der Einzige mit ukrainischem Pass, der nach 1991 ins Weltall geflogen ist. Er hat im Alter von 67 Jahren beim morgendlichen Joggen in einem Kyjiwer Park einen Herzanfall erlitten.
Die Webseite „Strana“ sammelte die wesentlichsten Momente in seinem Lebenslauf und die prägnantesten Zitate des Kosmonauten.
1. „Nach der Nachricht über den Raumflug von Gagarin habe ich entschieden, dass ich Kosmonaut werde. Damals war ich in der dritten Klasse“
Leonid Kadenjuk entschied noch in der Kindheit, Kosmonaut zu werden. Eigentlich war es am 12. April 1961, als über den Flug von Jurij Gagarin informiert wurde. „Damals war ich in der dritten Klasse“, erinnerte sich Leonid Kostjantynowytsch in einem Interview mit „Fakty“.
Der Traum vom Weltall half ihm, gute Leistungen in allen Fächern zu haben, die Schule hatte er übrigens mit der Silbermedaille absolviert. Außerdem regte dieser Traum ihn zum Sporttreiben an: Kadenjuk war Kapitän der Schulmannschaft im Handball, Volleyball, Basketball. Nach dem Abschluss der Höheren Militärfliegerschule in Tschernihiw diente er als Instrukteur, wobei er auf die folgende Aufnahme zum Verband der Kosmonauten wartete.
Interessant, dass die Wahlkommission aus 254 Kandidaten aus der ganzen Sowjetunion zum Kosmonauten nur neun einschließlich Kadenjuk auswählte.
„Die Kommission ist 1976 zu unserer Einheit gekommen. Aus vielen Interessenten wurden dann zwei Leute ausgewählt – ich und noch ein Offizier. Wir wurden nach Moskau geschickt, wo der Reihe nach 254 Flieger aus der ganzen Union komplex medizinisch untersucht wurden. Das dauerte zwei Monate. Nach den Ergebnissen der Untersuchung wurden nur neun, darunter ich, ausgewählt“, erinnerte sich Leonid Kostjantynowytsch.
2. “Mein irdisches Leben hat keinen Bezug zum Kosmos“
Zu Zeiten der Sowjetunion behinderten oft die Familienverhältnisse den Weg ins All. So wurde Kadenjuk im Frühling 1983 aus dem Kosmonautenverband wegen seiner Ehescheidung entfernt. Gerade damals sagte er die Worte, die zu geflügelten geworden sind: „Mein irdisches Leben hat keinen Bezug zum Kosmos.“ Danach arbeitete er als Testflieger und 1988 wurde er erneut in den Kosmonautenverband aufgenommen.
Spannend, dass zu jener Zeit aufgrund von Scheidungen auch andere Kosmonauten nicht geschont wurden. So wurde nach der Scheidung von Walentina Tereschkowa der Kosmonat Nr. 3 Andrijan Nikolajew aus dem Kosmonautenverband ausgeschlossen, doch blieb er bei dem Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum als Verwaltungsleiter tätig. Auch der Kosmonaut Nr. 4, der General Pawel Popowitsch wurde 1989 nach seiner Scheidung aus dem Sternenstädtchen in die Agrar-Industrie verbannt.
3. Zuerst die russische Staatsangehörigkeit, danach die ukrainische
Nach dem Zerfall der Sowjetunion nahm Leonid Kadenjuk die russische Staatsangehörigkeit an und diente bei den Luftstreitkräften der Russischen Föderation. In das Weltall flog er nicht.
Doch bereits 1995 machte Kadenjuk eine scharfe Karrierewendung: Er kündigte bei den russischen Luftstreitkräften im Rang eines Oberst, verließ das Sternenstädtchen, kehrte heim in die Ukraine und nahm die ukrainische Staatsangehörigkeit an.
Nach der Rückkehr in die Ukraine entschied er, am Auswahlprogramm des ersten Fluges eines ukrainischen Kosmonauten mit einem amerikanischen Space Shuttle teilzunehmen. Danach wurde er in die Kosmonautengruppe der Staatlichen Raumfahrtagentur der Ukraine aufgenommen.
„Wahrscheinlich klingt das trivial, aber ich bin eine Person mit patriotischen Überzeugungen. Hätte es nach dem Zerfall der Sowjetunion die Hoffnung auf den Flug eines Kosmonauten aus der Ukraine gegeben, wäre ich ohne Zögerung sofort heimgekehrt. Und als ich von der Vorbereitung der Shuttle-Expedition mit der Teilnahme eines Ukrainers erfahren habe, machte ich es auch so. Würden die Russen mir jetzt zumindest ein paar Weltallflüge vorschlagen, würde ich nicht einwilligen“, erinnerte sich Leonid Kadenjuk in einem der Interviews im Jahre 2000.
Kadenjuk war der erste ukrainische Kosmonaut in der Mannschaft eines amerikanischen Shuttles. Im November 1997 absolvierte er einen 16-tägigen Flug an Bord der amerikanischen Raumfähre „Columbia“ und ging für immer in die Geschichte der Erschließung des Weltraums ein.
4. Kadenjuk hätte um ein Haar den Start ins All verschlafen
Kadenjuk gab zu, dass er vor dem Start eingeschlummert war, während die Bodendienste die letzten Prüfungen des Shuttle-Systems durchführten. Das nahm einige Stunden in Anspruch. Kadenjuk merkte sogar nicht, wie er im Raumfährensessel eingeschlafen ist.
„Zwei Stunden vor dem Start habe ich Platz in der Raumfähre genommen, habe etwas aufgeschrieben und… bin eingeschlummert! Ich habe ungefähr eine halbe Stunde lang geschlafen. Mich hat die Stimme in Kopfhörer geweckt, die mitteilte, dass bis zum Start zehn Minuten verblieben sind!“, lachte Leonid Kostjantynowytsch, als er sich an diesen Augenblick erinnerte.
5. Präsident Kutschma erhielt erst nach einer medizinischen Untersuchung die Erlaubnis zum Treffen mit dem Kosmonauten
In den Erinnerungen an diesen historischen Flug erzählte Kadenjuk, dass eine Woche vor dem Start des Shuttles keine Fremden zur Besatzung gelassen wurden. Auf die Art werden die Kosmonauten vor Infektion bewahrt. Aber dem in der Zeit sich für einen Besuch in die USA aufhaltenden Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, wurde das erlaubt, jedoch nur nach einer medizinischen Untersuchung.
Nach einigen Tagen kommunizierten sie wieder mithilfe von Verbindungsmitteln: der Präsident aus seinem Arbeitszimmer in Kyjiw, Kadenjuk – an Bord der „Columbia“ im Weltall. Nebenbei sei erwähnt, dass Kadenjuk nach seiner Rückkehr zur Erde zum Berater von Präsident Kutschma wurde.
6. Tänze an der Decke in der Schwerelosigkeit
In der Zeit des Fluges von Kadenjuk, das heißt vom 19. November bis zum 5. Dezember, feierten die Amerikaner Thanksgiving. „Obwohl ich auch kein Amerikaner bin (in der Besatzung aus sechs Personen gab es außer mir noch einen Ausländer – Japaner), schloss ich mich mit großem Vergnügen der Feier an! Wir haben sogar ein traditionelles Festtagsgericht mitgenommen – einen Truthahn. Vom Morgen an haben wir einander gratuliert, Saft getrunken, den Truthahn gegessen. Und die einzige Frau an Bord Kalpana Chawla (sie starb einige Jahre später bei einer Weltraummission) überredete alle, sich an den Händen zu fassen und einen Reigen durch die ganze Raumfähre zu tanzen: Fußboden, Wand, Decke, wieder Fußboden… Es war wirklich lustig! Danach habe ich nie wieder an der Decke getanzt“, erzählte Leonid Kadenjuk.
7. “Ich weckte die Amerikaner mit der ukrainischen Hymne“
Kadenjuk erzählte, dass ihm gegen die psychische Müdigkeit an Bord Musik half. Der ukrainische Kosmonaut erinnerte sich: „Jedem wurde die Möglichkeit gegeben, Audiokassetten mit Lieblingsmelodien mitzunehmen. Ich habe die Werke der Sänger gewählt, mit denen ich gewachsen bin: Lieder von Anatolij Solowjanenko, der mir persönlich sein Musikalbum vor dem Flug geschenkt hatte, Dmytro Hnatjuk, Sofija Rotaru und andere. Und wissen Sie, die amerikanischen Kollegen haben sie mit Vergnügen gehört! Zweimal erklang im Weltall unsere ukrainische Hymne. Ich habe sie als Melodie zum Aufwachen gewählt. So wurde die Amerikaner zweimal mit den Worten „Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben…“ Und die Kosmonauten haben in der Zeit Haltung angenommen!“
8. “Ohne „Gemüsegarten“ an Bord ist es schwer auszukommen“
Leonid Kadenjuk beschäftigte sich an Bord mit Untersuchungen der Pflanzenzüchtung im Zustand der Schwerelosigkeit. Er führte biologische Experimente mit drei Arten von Pflanzen durch – mit Rüben, Soja und Moos. Er sagte, dass diese Ausarbeitungen für den bemannten Marsflug, der in den nächsten zwanzig Jahren geplant sei, notwendig sind. Wie wir dennoch sehen, geschah das nach 20 Jahren noch nicht.
Kadenjuk erzählte im Interview mit „Fakty“: „Für die zukünftige Arbeit im Bereich der Kosmobiologie ist das von Bedeutung, denn bemannte Flüge zu anderen Planeten nehmen Jahre in Anspruch, und ohne „Gemüsegarten“ an Bord wird es äußerst problematisch auszukommen. Und mit der Pflanzenzüchtung im Zustand der Schwerelosigkeit bestehen noch Probleme. Es ist wichtig, sie möglichst schnell zu lösen. In den kommenden zwanzig Jahren hat ja die Weltgesellschaft den bemannten Flug zum Mars durchzuführen. Dieser Flug wird ungefähr anderthalb Jahre dauern.“
9. Gegen Verlegung des Tages der Kosmonauten
Am 12. April feiert die ganze Welt den Tag der Luftfahrt und Kosmonautik, den Gedenktag an den ersten Flug eines Menschen ins Weltall. Aber vor kurzem wurde von Vize-Ministerpräsident Wjatscheslaw Kyrylenko vorgeschlagen, den Tag der Kosmonauten auf ein anderes Datum zu verlegen, z. B. auf den 19. November, als der erste Flug von Leonid Kadenjuk stattgefunden hatte.
Aber Leonid Kadenjuk unterstützte die Idee der Verlegung der Feier des Tages der Kosmonautik vom 12. April nicht. Er kommentierte das so: „Gagarin ist von niemandem zu ersetzen. In der Tat hat eben am 12. April die neue Epoche in der Geschichte der Menschheit begonnen. Das ist ein weltweiter Festtag. Und daran, dass Jurij Gagarin, ein Mensch aus der Sowjetunion, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, geflogen ist, kommt man nicht vorbei.“ Und er bestand darauf, dass wir seiner Meinung nach den Tag der Kosmonautik nicht zu seinem Flug ins All in Beziehung setzen sollten.
10. Aus dem All in die Politik
Nach dem Flug mit dem amerikanischen Shuttl ging es mit der Karriere von Kadenjuk in der Ukraine aufwärts. Er wurde nicht nur der erste Kosmonaut der unabhängigen Ukraine, sondern auch zum Berater von Präsident Kutschma in Fragen der Luftfahrt und des Weltalls. Außerdem stand er der Verwaltung der Luftverteidigungsstreitkräfte vor.
Das neue Millennium begann Kadenjuk schon als politische Persönlichkeit. Im Jahre 2002 wurde er Parlamentsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses in Fragen der nationalen Sicherheit und Verteidigung und im Januar 2011 – Berater von Ministerpräsident Mykola Asarow in Fragen des Flugwesens und der Kosmonautik.
Kadenjuk war eine angesehene und populäre Person, obwohl er zugab, dass der Ruhm ihn in Verlegenheit brachte. „Die Popularität ist häufig lästig. Ich bemühe mich, mich weniger an belebten Orten zu zeigen. Einmal ging ich wählen, die Leute haben mich erkannt und begannen Fragen zu stellen, um Autogramme zu bitten. Offen gestanden, verwirrt mich eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ich bin bei der ersten Gelegenheit aus dem Wahllokal entwischt“, erinnerte sich Leonid Kostjantynowytsch.
Auch nach dem Ende der Vorbereitungen auf Weltraumflüge trieb Kadenjuk aktiv Sport. In den Jahren der Trainings gewöhnte er sich an, drei- oder viermal die Woche zehn Kilometer Cross zu laufen. Dafür stand er schon um 5:45 Uhr auf. Der Kosmonaut turnte am Reck und Barren. Er führte eine gesunde Lebensweise und rauchte nicht. Heute starb er während seines Morgenlaufs.
31. Januar 2018 // Anastassija Towt
Quelle: Strana