Homo Donbassus oder was änderte der Krieg?



Wenn alle Wege früher nach Rom geführt haben, in Makejewka führen alle Wege nach Norden. Das bedeutet nicht, dass in der Stadt die Verkehrswege schlecht sind. Es ist einfach deswegen so, weil das ganze Industriepotenzial dort liegt und somit der Arbeitsweg dorthin führt. Hier befindet sich eines der örtlichen „Wunder“: Eine drei kilometerlange Betonwand mit abgebröckeltem Waschputz und Aufschriften über den unbeugsamen Donbass, die jeder Arbeiter tagtäglich ein Leben lang sieht. Ob man zum Makejewkaer Metall-Werk fährt, das sich auf fünf Kilometer erstreckt oder die Schächte und Nahrungsmittellager zu erreichen versucht, so oder so auf der rechten Seite der Marschrutka sitzend schaut man auf diese Wand. Oft wird die Landschaft von der Menschengruppe begleitet, die man untereinander leicht verwechseln konnte: müde Gesichter, einförmige abgeriebene Jeansklamotten und schwarze Jacken, gewöhnlich eine billige Plastiktüte. Unauffällig an der Haltestelle stehend, genauso stillschweigend schleppen sie sich von ihrer Arbeitsschicht, so wie die anderen zu ihrer Schicht gerade hinfahren. Das ist der Homo Donbassus – der Mensch, der dieses Land bewohnt. Irgendwie erinnert diese Landschaft an die Wand der Tschekisten, an der Menschen hingerichtet wurden. Übrigens wenn man den Kopf nach links dreht, dann sieht man zuerst eine Abraumhalde , dann – gigantische Betonpfähle, die umgefallen auf einem gleichgroßen Betonoval liegen, und dann fährt man an dem nach Kirow benannten Kulturhaus vorbei, falls man das Glück hatte auf die anliegende Fahrroute abzubiegen.

Ich habe nicht zufällig mit diesem Bild angefangen, denn ein Verständnis über die Transformation der lokalen Mentalität ohne diese Wand ist nicht möglich. Wie dem auch sein, so eine Wand gibt es in jeder Stadt, sei es Donezk oder Tores. Ein großer Teil der Bevölkerung im Donbass wird durch diese Menschen gekennzeichnet, die aus dem Pförtnerhäuschen nach der Halbtagesschicht herausstürzen. Also keine Journalisten, Schriftsteller oder die Intelligenz, die in der Mehrzahl eine pro-ukrainische Position bezogen haben. Es geht auch darum, dass mit dem Anfang des Krieges diese Wand vorrückte und vergoldet wurde, und daraus fast ein Heiligtum wurde. Donezk, in Zeiten der Ukraine mit den Liedern über die Arbeit der Bergbauarbeiter, verwandelte sich in ein durchgehendes Loblied der Müdigkeit, die ohnehin jeden Boulevard hier ausfüllte. Um zu verstehen, ob Donezk für unser Land für immer verloren geht, sollte man zuerst fragen, ob es „gefunden“ wurde, unter dem Kohlenstaub in den Zeiten, als hier noch die ukrainische Macht sichtbar war?

Es ist oft zu hören: „Bergbau gibt es auch in Lwiw“, und meint damit die ganze Region. Das stimmt auch. Jedoch dort gibt es eine direkte Verbindung zwischen dem, dass man sein Leben für dreitausend Hrywnja riskiert, und dem Menschen, der das Land regiert. In Donbass glaubt man daran nicht. Dieser „Schacht“ ist hier für die Ewigkeit, unabhängig von der Figur, die sie verkörpert. Josej Brodskijs Worte wären treffend in diesem Fall, der mit 16 Jahren im „Arsenal“-Werk gearbeitet hat, und der Zeuge einer Protestkundgebung für Ägypten und den Kampf gegen den Kapitalismus wurde, weswegen man an einem Samstag freiwillig gesellschaftlich aktiv werden musste. „Da stand ein Mann auf (das war eine ziemlich verängstigende Zeit, das Jahr 1956), ein Schlosser aus meiner Werkstatt, und sagte: „Was hab ich davon, ob mein Besitzer Kapitalist oder Kommunist ist? Alles ein Teufel, ich muss sowieso um sieben Uhr aufstehen.“ Ungefähr so denkt der Donbass. Dieser „Schlosser“ ist von hier nicht verschwunden: in 60 Jahren ist er unter die Haut gegangen, wurde durch die Gene vermittelt, mit den gleichen Gesichtszügen, an ihn glaubt man mehr als an Gott. Dieses Prinzip der tiefen Enttäuschung und Gleichgültigkeit ist das, woran man „denken muss, wenn man diese Gespräche über eine neue Gesellschaft und westliche Modelle oder weiß der Teufel worüber führt“. (Zitat von J.Brodskij). Letztendlich, ist „vernehmt den Donbass“ – eine Phrase, als Beispiel für die immergleichen Fallstricke — überhaupt keine der naiven Losungen über die Muttersprache, die wirklich Ironie verdient haben. Es ist ein Dialog zwischen einem Arbeiter, der einen Teil seines Lebens in einem Kilometer Tiefe verbringt und einem Menschen, der sein ganzes Leben ruhig ins Sonnenlicht blickte. In der Tiefe sehen die Dinger einfacher aus.

Und der Krieg hat sie noch mehr vereinfacht. Das heutige Donezk ist zweifelsohne eine andere Stadt. Aus Petersburg wurde wiedermal Leningrad. Komsomolzen, Pioniere, „Sachartschenko-Leute“, die Verpackung von Butter und Eis, dessen Design aus den 1970-ern stammt, Plakate über den Ruhm der „Republik“ und in den Werkhallen der DNR ( Donezker Volksrepublik, A.d.Ü.) hergestellte Milch. Die Haupttransformation ist aber eine andere. Wie immer ist das, was man mit den Augen sieht, ist nur der Abdruck dessen, was im Inneren vor sich geht. Ein aufmerksamer Zuschauer wird merken, dass es auf der „Republik“ – Szene nicht so viele Akteure gibt. Einige haben sich tatsächlich in „republikanische“ Helden mit Erfolg verwandelt, dabei ihre Rolle der Pionierleiter und Politoffiziere im Aufbau des „jungen Staats“ gutgläubig spielend. Mit der Mehrheit ist allerdings was anderes passiert.

Dieses „Andere“ hat die Reste der Schichten weggewaschen, die einen Menschen gewöhnlich kennzeichnen. Das Referendum in Niederlanden, der Offshore-Skandal, die Korruption der Staatsmacht – Top Themen der ukrainischen Realität werden voll und ganz mit dem Zucker aus den humanitären Hilfspaketen verschlungen. Die gelbgefärbten Zelte vom Rinat Achmetow’s Hilfsfond in der ganzen Stadt sind die Leuchttürme, die das Leben der Stadtbürger bestimmen. Wenn man eine lange Menschenschlange in Donezk sieht, dann ist sie neben solchen „Hauptquartieren“ oder Geschäftsstellen der „Republikanischen Bank“, die Menschen trotz der Artilleriesalven aus den räudigen Wohnung herauslocken. Hier macht es niemanden verlegen, dass Achmetow die „Republik“ beschimpft hat, dass dieser Zucker „faschistisch “ ist, und dass in einem bestimmten Sinne eine Bezahlung für alles ist, was dort jetzt passiert. Es macht niemanden verlegen, die dreimal verfluchte Wand, die teilweise von Achmetow gebaut wurde, und die Landschaft der Ruinen in den friedlichen Zeiten und diese Eile, mit der man die Pakete mit Mehl eifrig nimmt. Keine Politik. Keine Ideologie. Nothing personal. Nur der Mensch und das Paket.

Ziemlich umfassend charakterisiert diese Situation die Antwort eines Rentners, den ich zu diesen Sachen befragt habe: „Söhnchen, und was nun, soll man hungrig schlafen gehen?“ Hier ist alles durcheinander. Das moderne Donezk ist auf jedem Fall nicht Ukraine: bei jeglichen Erinnerung an „gelb-blau“ stößt man auf Trichter der Mörsergranaten. Aber auch vom „Republikanischen“ gibt es hier nicht viel. Im Großen und Ganzen erinnert die Stadt an einen hungrigen Kriegsgefangenen, dem ein Essenstück entweder die einen oder die anderen zuwerfen. Mit verbrannten Fingern nimmt er es und verflucht beide.

Unter diesen Flüchen marschieren heute hunderte Offiziersschüler mit den Ärmelaufnähern „MO DNR“ (Sicherheitsministerium der Donezker Volksrepublik). Diese Jungen, die in der Zukunft die ukrainische Form tragen sollten, tragen mit Stolz die „republikanische“ Form dabei tagtäglich die „republikanische“ Flagge einsaugend. Nicht das Territorium wird unersetzlich verloren. Die verlorene Zeit ist unersetzlich, in der die aufwachsen, die sich an ein Donezk ohne Krieg nicht erinnern werden. 10-15 Jahre für so einen Konflikt sind absolut real, um diese Stadt und ihre Einwohner für immer zu verlieren, was mehr Opfer bringen würde als der Krieg selbst.

Aber der Homo Donbassus fängt hier erst an. Wenn der an nichts glaubende Donezker Einwohner fortfährt mit Müh und Not sein Leben auf seinem Land zu meistern, haben die ukrainischen Patrioten, die die Stadt verlassen haben, häufig kein Heimweh. Zwei Seiten einer Medaille, ein originelles Monogramm aus dem Überlebenswunsch und Lebenswunsch ohne sich an etwas zu binden.

Und eben hier, beginnen die örtlichen Kosmopoliten wie die Pilze zu sprießen. „Nein“, sagen sie, „es ist unwichtig, wo man lebt: sei es Berdjansk, Kiew oder Schitomir. Die Stadt haben wir auch nicht gemocht – man soll sich nicht an Straßenlichter und ätzenden Smog binden.“ Dabei ist der Donbass-Kosmopolitismus ein besonderer Kosmopolitismus. Der Verwandtschaftszusammenhang zwischen dem amerikanischen Hippie und denen, die man vor kurzem noch stolz „die Donezker“ nannte, ist in seinem Wesen nichts anderes, als genau die Müdigkeit nach der Zwangsschicht in der Werkstatt, den weder Geopolitik, noch Revolution, noch der Boden unter den Füßen mehr anheben. So entsteht ein ganz unschönes Bild: Tausende vernichtete Befürworter der „russischen Welt“, mit deren Körpern der freien Donbass übersät sein wird (ist?), hunderttausende Anhänger „der Einheit“, die nicht bereit sind zurückzukehren, und der Berg einer Abraumhalde, der inmitten der befreiten Steppe einsam schwarz aufragt. Das nackte Feld, zu dem der freie und somit noch vergängliche Donbass zu werden droht, ist nur die Folge des reinen Bewusstseins, das leer ist, das sich auf nichts bezieht: weder die Region, noch die Stadt und auch nicht mal diese Sitzbank. Und tatsächlich Grünanlagen gibt es auch in Berditschew …

Möglichweise sind diese Menschen, tatsächliche Europäer, für die es genauso komfortabel ist in London, wie in Berlin oder New York zu leben. Genau ihre zentrifugale Kraft macht das heutige Europa zum zukünftigen Asien, und sie werden, wahrscheinlich, die ersten sein, die das Land verlassen, und dabei im Zweifelsfalle über die staatliche Leiche hinweggehen. Ob sie in ihren Gedanken aufrichtig sind, oder aufgrund von Kränkung und aus Angst so denken, ist eine ziemlich schwierige Frage.

Ich habe Makejewka immer gehasst – die Stadt, die für mich fast ein lebendiges Wesen wurde. Aber als ich ein Mal nach Kiew kam, wurde mir gleich klar, Makejewka ist aus mir nirgendwohin verschwunden, und es ist nicht irgendeine Abstraktion, die man mit anderen Buchstaben umkonstruieren kann. Das ist genau das gleiche graue rostige Werk, die gleiche Müdigkeit, Skeptizismus und Zynismus, und der gleiche Staub auf den Zähnen und Schuhen, der sich auch in den schönen Kaffeehäusern der Hauptstadt nicht abwaschen lässt. Kann man darüber ernsthaft sprechen, dass es sich „wiedergutmachen“ lässt, sobald man sich in einen Platzkarten-Wagon setzt? Gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen dem Menschen, der bei den Schächten von Makejewka aufgewachsen ist, und denen, die auf die Landschaften der Karpaten geschaut haben?

Bemerkenswert ist, dass die Worte „ich kehre nicht zurück“ fast genauso entschlossen klingen, wie „ich verzeihe nicht“ – beide entstammen der gleichen lexikalischen Kategorie. Ohne Kompromisse, klar und deutlich, so wie man hier gewöhnt ist zu sprechen. Und dadurch beweist der sich selbst findende Kosmopolit aus dem Donbass noch mehr seine Verbindung zu diesem Ufer, wovon er sich so sehr loszusagen versucht.

Diese Menschen kehren wahrscheinlich nicht zurück. Denn die Rückkehr wird einem Entkommen ähneln, das sie schon einmal wegen dieses Krieges durchgemacht haben: Die verkauften Wohnungen in Donezk und neu gekaufte auf dem „Festland“, Kindergarten für das Kind, Arbeit und neugestartete Karriere, letztendlich, das private Leben, das womöglich mit diesem geografischen Ort verbunden ist, wo die ukrainische Flagge immer noch weht. Erneut darauf verzichten wegen der bekannten Grünanlage, auch wenn nebenan das Maschinengewehr nicht mehr rattern wird? Wohl kaum. Und so wird die Stadt immer leerer. Auf dieser Weise bestimmt die „eigene Wahrheit“ die für alle gleiche Absurdität.

Übrigens, Donezk war reich an den Anderen, nun migrierten, ziemlich interessanten Personen. Ich erinnere mich, wie im Mai 2014, als die Prozesse des Separatismus ihren Lauf erst begannen, saß ich auf der Uferstraße mit einem, den man als „Patriot“ bezeichnen würde. Und auf die Frage „würdest du kämpfen gehen?“, sagte er mir folgendes: „Weißt du, für die Ukraine würde ich nicht kämpfen, aber für diese Uferstraße – wahrscheinlich schon.“ Der Gerechtigkeit zu liebe ist anzumerken, dass dieser Mensch nicht in den Krieg gegangen ist, weder für die Straße noch für die Sträucher – für nichts. Er ist wohlbehalten nach Süden umgezogen, in die Nähe von Odessa. Dennoch der Slogan „Ukraine über alles“ war schon damals ein Fremdkörper im örtlichen Dialekt, und klang ähnlich wie der Aufruf zum Samstags-Subbotnik für den Kampf gegen die USA. Hier hat die Bestimmtheit die Abstraktion immer verdrängt, und der leere Kühlschrank die geografischen Koordinaten des „einheitlichen Landes“.

Wie dem auch immer sei, der Donbass ist zur Zeit nur eine bekannte Verhütung, die den gesamten Schlag auf sich nimmt, damit das Virus der „russischen Welt“ nicht bis nach Schitomir vordringt. Eine Verhütung, die einen einmaligen Wert hat – und keine Artillerie kann diese Frage beantworten. Die Rhetorik über „Knechtschaft“ und „Pöbel“ aus dem Mund der Menschen, die niemals einen Hammer in der Hand gehalten haben, und Unwilligkeit aus dem Traum von „Nazis“ zu erwachen ist der Ball, den die nationale Idee seit mehr als zwei Jahren von Tor zu Tor rollt. Der nüchterne Blick sagt, Donezk ist für die Ukraine verloren. Geistig verloren, physisch verloren, mit allen Folgen, die es noch zu erfahren gilt. Der Galopp des nationalen Gedankens zur europäischen Zukunft quer durch die Okkupation der Krim, den Verlust des Donbass, den Bernstein Wolhyniens und die Offshore-Unternehmen erinnert an einen tödlich verwundeten Soldaten, den es mit seinen letzten Kräften zu einem Glas teuren Weins hinzieht.

Aber in dem ganzen Chaos und der Verwirrung haben wir vergessen noch an einen genetischen Zweig des Homo Donbassus zu erinnern, diejenigen, die noch hier sind. Die Ukrainer von Donezk leben noch. Jeden Tag werden sie weniger: Einige wandern aus, fast in ein anderes Land, die anderen haben an die „Republik“ geglaubt, diese Fälle sind auch nicht selten. Viele glauben immer noch und kämpfen. Die Mehrheit allerdings wartet einfach. Sie warten, dass man sich eines Tages an sie erinnert, ohne ihnen anzubieten, aus ihren Heimatstädten schmählich zu fliehen.

8. April 2016 // Stanislaw Wassin

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzerin:    — Wörter: 2163

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