Im Interesse des Gemeinwohls


Im 19. Jahrhundert behauptete der berühmte Sozialist Charles Fourier ernsthaft, dass eine harmonische Gesellschaftsordnung die Natur ändern würde, und dass im Zeitalter des Sozialismus das Meerwasser den Geschmack von Limonade annehmen würde.

Nicht nur die stürmische Phantasie, sondern auch die Selbstgewissheit des Herrn Fourier rührt uns an. Der verklärende Denker zweifelte nicht daran, dass es das Ideal der ganzen Menschheit sei, im süßen Sodawasser zu schwimmen.

Allerdings war der alte Charles ein eher stiller Utopist. Die heutigen Streiter für das Gemeinwohl sind nicht so harmlos. Sie träumen nicht nur davon, ihre Mitbürger in Limonade zu baden, sondern schlagen hierfür Zwangsinstrumentarien vor. Sie wissen besser als Sie, was Sie benötigen, und sie sind bereit, die Gesellschaft zu beglücken, unabhängig davon, ob sich Widerstand von unverantwortlichen Elementen erhebt.

Die unermüdlichen Spezialisten für das Glück der Anderen strengen ein neues Gesetzesprojekt nach dem anderen an.

Ein markantes Beispiel für eine solche Tätigkeit ist die Aufsehen erregende Initiative zum Abtreibungsverbot. Einigen scheint es, dass genau dies ein Fall ist, wo persönliche, eigennützige Interessen mit gesellschaftlichen zusammenstoßen.

Denn es sind boshafte Menschen, die nur auf sich selbst fixiert sind, die nicht in die Limonade tauchen wollen. Aber der gute Onkel mit dem Abgeordnetenabzeichen weiß, dass dieses Eintauchen unumgänglich ist, da es so besser für alle ist. Und es versteht sich von selbst, dass der Abgeordnete edelmütiger aussieht als die kleinen Menschlein, da er nicht an sich denkt, sondern an die ganze Ukraine.

Ein Konflikt ist hier in der Tat vorhanden. Aber was steht tatsächlich im Konflikt zueinander? Gesellschaftliche Interessen mit persönlichen? Oder die Ansichten der Anhänger Oleg Tjagniboks (Kandidat für das Präsidentenamt und Chef der Partei „Swoboda“) und Witalij Schurawskijs (ehemaliger Berater des derzeitig amtierenden Präsidenten Janukowitsch, Mitglied des Parlamentsausschusses zur Sicherstellung der Funktion der Rechtsorgane) mit den gesellschaftlichen Interessen?

Wahrscheinlich ist es doch das letztere. Denn elementare Logik und die weltweiten Erfahrungen zeigen, dass vielmehr die Legalisierung von Abtreibungen als das dem Wohle der Gesellschaft Zuträgliche anzusehen ist.

Nach 1990 begann sich, in den Vereinigten Staaten von Amerika ein starker Rückgang in der Straßenkriminalität abzuzeichnen. Versuche, diese Entwicklung mit der Arbeit der Polizei oder dem Stand der Arbeitslosenzahlen in Verbindung zu setzen, ergaben keine zufriedenstellende Ergebnisse. Dafür brachte der Professor für Ökonomie an der Universität Chicago, Steven Levitt, der sich mit dieser Fragestellung beschäftigte, eine interessante Gesetzmäßigkeit zutage.

Im Jahr 1973 wurden auf dem gesamten Staatsgebiet der USA Abtreibungen offiziell erlaubt. Zuvor konnten sich hauptsächlich Mädchen aus reichen Familien, die sich eine Abtreibung im Ausland leisten konnten, der ungewollten Schwangerschaft entledigen. Den Armen blieb es, zu gebären.

Ungewollte, ungeliebte und ihren eigenen Eltern entbehrliche Kinder wuchsen in Armut auf, und reihten sich, wie vorherzusehen war, als sie in die Adoleszenz kamen, in ein kriminelles Umfeld ein.

Anfang der 1990er Jahre hätten die Reihen der amerikanischen Kriminellen von der nächsten Portion einer Jugend, die niemand gebrauchen konnte, gefüllt werden. Doch sie wurden insoweit nicht aufgefüllt, wie diese Jugend nicht geboren wurde.

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass die fünf Bundesstaaten Kalifornien, New York, Washington, Hawai und Alaska, Abtreibungen bereits 1970 legalisierten. Die leidenschaftslose Statistik bezeugt, dass der Rückgang der Verbrechen in diesen Staaten früher als im Land als Ganzen begann.

Bedeutet dies, dass im Falle eines Abtreibungsverbots auf die Ukraine nicht nur eine Eruption von Untergrundaktivitäten wartet, sondern auch ein allgemeiner Anstieg der Kriminalität ab dem Jahr 2030? Dies ist sehr wahrscheinlich.

Doch ist es noch wahrscheinlicher, dass der Anstieg der Straßenkriminalität in jedem Falle kommen wird, und auch früher, nämlich in der ersten Hälfte der 2020er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt erreichen diejenigen ukrainischen Kinder das Jugendalter, die um der erhaltenen Prämie bei Geburt eines Kindes willen geboren wurden. Unglückliche Kinder, die von ihren Eltern, die am Rand der Gesellschaft stehen, als Mittel des Gelderwerbs angesehen wurden, und allein deswegen das Licht der Welt erblickten.

Haben sie viele Chancen darauf, eine normale Erziehung zu erhalten und ein anständiges Mitglied der Gesellschaft zu werden? Leider, nein. Aber finanzielle Zuwendungen, die das Kinderkriegen in der sozialen Unterschicht stimulieren, wurden als eindeutiges Mittel für das Wohl der Gesellschaft dargestellt. Nun, die Kämpfer für eine höhere Geburtenrate lassen sich wohl von der Tatsache trösten, dass unsere Hosentaschen von sogenannten Gopniks (gewaltbereite Jugendliche, die in einem prekären sozialen und/oder kriminellen Umfeld verkehren) mit weißer Haut und ukrainischen Familiennamen geleert werden…

Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie die rührende Sorge um die Gesellschaft auf die Gesellschaft zurückschlagen kann. Die Verfasser des achtzehnten Zusatzartikels der Verfassung der USA hatten keinen Zweifel daran, dass das Prohibitions-Gesetz die amerikanische Nation gesunden lassen, die Arbeitsproduktivität steigern und die Arbeiter davon abhalten würde, Geld zu verschwenden. Niemand konnte sich die beispielslosen Gangsterorgien und blutige Mafiakriege vorstellen. Die Initiatoren der Anti-Alkohol-Kampagnen in der UdSSR gingen nicht von dem großen Strauß an negativen Folgen aus: von Massenvergiftungen durch Surrogat-Gesöffe bis hin zum Zuckerdefizit und dem rapiden Anstieg der Korruption.

Die Staatsführer der post-kolonialen Länder, die eine Totalnationalisierung ersonnen, dachten nicht, dass diese ihre Heimatländer in eine rasante Verarmung führen würde. Über die Bolschewiken, Nationalsozialisten, Maoisten und dergleichen Publikum lohnt es sich nicht einmal, zu sprechen. Niemand brachte der Menscheit solchen Schaden bei, wie die entschiedenen Kämpfer für das „Allgemeinwohl“, die von den besten Motiven angetrieben wurden. Und wenn wir es zu verstehen suchen, so ist es auch nicht ein gar so paradoxes Phänomen.

Der wohlmeinende Idealist dient nicht der Gesellschaft, er dient seiner Vorstellung über die Gesellschaft. Er arbeitet nicht am geliebten Volk, an der geliebten Nation oder den geliebten Werktätigen, sondern am Bild, das er sich in seinem eigenen Hirn zurechtgelegt hat. Natürlich unterscheidet sich dieses Bild stark von dem Original, dem unvorstellbaren Gewirr an menschlichen Leben, Vorlieben, Interessen und Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung.

Im besten Fall erhalten wir in unseren Köpfen ein äußerst vereinfachtes und fragmentarisches Bild der uns umgebenden Gesellschaft, und im schlechtesten Falle ein vollkommen fantastisches und in keinster Weise mit der Wirklichkeit in Beziehung stehendes.

Je ambitionierter das Ziel, das von den sozialen Wohltätern verfolgt wird, desto stärker entfernt sich das Eingebildete von dem Reelen. Je größer dieser Abstand wird, desto höher ist das Risiko von unbeabsichtigten Schäden. Sie wollten alles so gut wie nur irgendwie möglich tun, und sie haben das Übliche erhalten (Zitat des ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin). Anstelle der Lösung eines Problems entstanden ein Haufen neuer Probleme: anstelle der Gesundung – die Kriminalisierung, anstelle des Aufschwungs – Armut, anstelle der Vereinigung – Spaltung.

Die Genossen, die um das Glück der Anderen besorgt sind, ignorieren sehr oft – gleich welche – Tatsachen und Phänomene, wenn diese sich nicht in ihr subjektives Bild der „guten Gesellschaft“ einfügen. Menschen, die nicht mit ihnen übereinstimmen, werden zu Feinden der Allgemeinheit erklärt. Der Konflikt zwischen der eigenen Vorstellung und der Wirklichkeit wird als Zusammenprall gesellschaftlicher und egoistischer Interessen interpretiert.

Während des Kampfes wird ihnen dann klar, dass die böswilligen Egoisten Millionen sind.

So kommt es zu Massenrepressionen, Entkulakisierung, Holodomor, Konzentrationslagern und anderen reizenden totalitären Dingen.

Heißt das nun, dass wir vollständig von Versuchen der Umerziehung der Gesellschaft Abstand halten sollen, die Hände in den Schoß legen, uns in uns selbst zurückziehen, sogar nicht einmal mehr versuchen sollen, Einfluss auf unsere Nächsten auszuüben?

Aber nein, wozu denn dies. Sie wollen die Gesellschaft zum Besseren verändern – bitte sehr! Gesellschaftliches Engagement ist mit dem weisen Prinzip „Füge niemandem Schaden zu!“ vollkommen kompatibel.

Es gibt ein sehr einfaches Mittel, um einen wirklichen Dienst an der Gesellschaft von einem eingebildeten zu unterscheiden. Es reicht aus, zu überprüfen, ob Ihre Pläne sich ohne einen Anschlag auf das Leben, die Freiheit und das Eigentum Anderer durchführen lassen.

Wenn dann um ihretwillen und Ihren Ideen die Leute freiwillig und bewusst ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit und ihr Geld opfern, bedeutet dies, dass Sie etwas tun, was die Menschen wirklich benötigen. Und sei es eben so, dass diese Leute nur einen gewissen Teil der Gesellschaft darstellen, so sind sie dafür überaus reale Menschen. Wenn Ihre Dienst der Durchsetzung durch Gewalt bedürfen, so wird, eher früher als später, die „Gesellschaft“, der Sie mit solchem Eifer dienen, nur noch in Ihrer ungestümen Einbildung existieren.

26. April 2013 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Jasmin Söhner  — Wörter: 1338

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