Jeder Fünfte unterhalb der Armutsgrenze
Während sich wohlhabende Leute um den Kurs der Hrywnja zum US-Dollar sorgen, schauen die Armen mit Schrecken auf die neuen Preise in den Geschäften. Zu Beginn des Jahres lebte jeder fünfte Ukrainer unter der absoluten Armutsgrenze, aber in diesem Jahr werden es noch mehr sein. Zudem tauchten „neue Arme“ auf, hunderttausende Übersiedler aus dem Donbass und der Krim, die in einem Augenblick ihre Häuser, Arbeitsplätze und oft auch ihre Ersparnisse verloren. Überhaupt wurden Millionen Ukrainer zu Geiseln in den eroberten Gebieten, und man kann nur erahnen, unter welchen Bedingungen sie heute leben.
„Stellen Sie sich vor, die Führung entschied, dass das Kilogramm Speck im Zusammenhang mit der Krise jetzt 750 Gramm wiegt. Sie haben doch beschlossen, dass das Existenzminimum bei uns 1.218 Hrywnja (etwa 64 Euro) für einen arbeitsfähigen Menschen beträgt – viel weniger als in Realität. Und wenn diese Dimension genau ist, lässt sie sich nicht nach Belieben ändern“ , sagte Sergej Kondratjuk, Vertreter des Vorstands der Berufsvereinigungen der Ukraine am Runden Tisch zur Armutsfrage.
Wissenschaftler und Aktivisten berieten in der letzten Woche im Institut für Demografie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine über die Armutsproblematik. Das niedrige soziale Minimum ist nur eine der Listen, die es den Beamten erlaubt, Budgetgelder auf Kosten der Rentner, Sozialhilfeempfänger und staatlichen Angestellten zu sparen. Denn diese Kennzahl dient zur Berechnung der Renten, Gehälter, der verschiedenen Arten der Sozialhilfe (für Einkommensschwache, Mutterschaftsgeld, Arbeitslosengeld) und zur Indexierung der Gehälter.
Die Verfassung der Ukraine (Art. 46) besagt, dass die Renten und andere Arten von Sozialhilfe nicht niedriger sein sollten als das soziale Minimum, das gesetzlich festgelegt wurde.
Das Soziale Minimum errechnet sich jedes Jahr auf Grundlage eines minimalen Warenkorbs, sein Niveau wird im Haushaltsgesetz festgeschrieben. Per Gesetz „Über das soziale Minimum“ (Art. 3) soll der Warenkorb nicht seltener als alle fünf Jahre überprüft werden. Allerdings wurde er in der Ukraine seit dem Jahr 2000 nicht verändert, sagt Sergej Kondratjuk. Und in diesem Jahr beschlossen die Abgeordneten, ihn nicht zu erhöhen und das niedrige soziale Minimum auf dem Niveau des letzten Jahres zu belassen.
Der minimale Warenkorb eines Mannes im arbeitsfähigen Alter beinhaltet zum Beispiel eine synthetische Winterjacke in vier Jahren, einen Übergangsmantel alle fünf Jahre, eine Jeans für drei Jahre, ein Paar Winterschuhe in fünf Jahren usw. Für Frauen ist es noch schlimmer. Die Beamten zählen darauf, dass eine Frau im arbeitsfähigen Alter einen Wintermantel acht Jahre tragen kann, eine Rentnerin zehn Jahre.
Damit ist die Liste nicht beendet. Der Bund der Berufsvereinigungen behauptet, dass die ministeriale Sozialpolitik bei der Berechnung des sozialen Minimums die Steuern auf das Pro-Kopf-Einkommen nicht mit einrechnet. Und der Leiter der Konföderation freier Berufsvereinigungen ergänzt, dass „die Statistik bei uns nicht objektiv ist“. Er glaubt, dass überprüft werden sollte, ob der Staat nicht die Wachstumsrate der Preise für Waren und Dienstleistungen des Warenkorbs zu niedrig ansetzt, aus denen dann die Höhe des sozialen Minimums errechnet wird.
Im vorigen Jahr, erinnern wir uns, stellte das staatliche Amt für Statistik eine Inflation von gerade mal 0,5 Prozent fest.
Absolut Arme
Das niedrige soziale Minimum erlaubt es den Beamten völlig legal, Millionen von Rentnern und Sozialhilfeempfängern nicht ausreichend zu bezahlen. Außerdem hilft dieser Kunstgriff, die reale Armutsrate in der Ukraine zu verschleiern. Zum Beispiel nutzt das Ministerium für Sozialpolitik zur Berechnung der absoluten Armut (es gibt noch die relative Armut) das „gesetzlich festgelegte soziale Minimum“, und das ist niedriger als das reale, wie wir schon herausgefunden haben.
Wie kann man die Zahl der Armen in der Ukraine berechnen? Es gibt verschiedene Wege.
Einer davon gründet auf der Kalkulation der Ausgaben eines Menschen pro Tag. Um die Ausgaben von Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu vergleichen, rechnet man in US Dollar bei Kaufkraftparität. Das heißt zur Berechnung nimmt man nicht den Kurs des Dollars zur Hrywnja auf dem Markt, sondern ein und dieselbe Auswahl an Waren und Leistungen, die man für diese oder jene Summe in den verschiedenen Währungen kaufen kann.
Der Unterschied zwischen üblichen Dollar und Dollar nach Kaufkraftparität erklärt das britische Journal The Economist. Seit 1986 gibt es den BigMac-Index heraus, in dem der Preis eines Brötchens mit Hacksteak in verschiedenen Ländern der Welt verglichen wird. Im Januar 2014 kostete der BigMac in der Ukraine 19 Hrywnja oder etwa 1,63 Dollar nach damaligem Kurs. Damals gab man in den Staaten dafür $ 4,8 aus. Das heißt, 4,8 Dollar nach Kaufkraft entsprechen ungefähr 19 Hrywnja und der Kurs der Hrywnja zum US Dollar nach Kaufkraftparität 3,96 zu eins (wenn man natürlich rechnet, dass sich die Ausgaben der Bürger auf BigMacs beschränken).
Die Grenze der absoluten Armut in der Ukraine (für den internationalen Vergleich) liegt bei fünf Dollar nach Kaufkraftparität. Ende letzten Jahres gaben nur 1,9 Prozent der Ukrainer diese bescheidene Summe am Tag aus. Vor den Ländern der UNO übernahm die Ukraine die Verantwortung, diese Kennzahl im Jahr 2015 auf 0,5 Prozent der Einwohner zu senken. Und es kann sein, dass dies gelingt. Aber das ist kein Grund, stolz zu sein. In Europa zählen 16 Dollar nach Kaufkraftparität als absolute Armutsgrenze für den Menschen. Das heißt, arme Europäer sind mehr als dreimal reicher als arme Ukrainer.
Ein anderes Kriterium zur Bewertung der absoluten Armut ist die Zahl der Einwohner, die weniger als das faktische soziale Minimum der Ukraine ausgeben. Und obwohl wir schon wissen, dass die Berufsverbände diese Kennzahl kritisieren, lebten selbst nach ihr im letzten Jahr 22,1 Prozent oder jeder Fünfte Einwohner der Ukraine unter der absoluten Armutsschwelle. Die Ukraine verpflichtete sich vor den UNO Ländern dieses Niveau im Jahr 2015 auf 7 Prozent zu senken, aber allem Anschein nach schafft sie das nicht.
Die Zahl der „absolut Armen“ in der Ukraine stieg in 2014 sicherlich aufgrund der Krise, aber wie stark, wird im nächsten Jahr klar werden. „Wir können nicht genau sagen, um wie viel das Armutsniveau stieg, weil die Ergebnisse der Befragung der Haushalte erst im Frühling 2015 vorliegen werden.“ Erklärt Natalja Sitinkowa, Leiterin des UNO-Entwicklungsprogramms „Entwicklungsziele des Jahrtausends – Ukraine“.
Allerdings kann man die Daten von 2008 und 2009 betrachten, als der Kurs der Hrywnja von fünf auf acht Hrywnja pro US Dollar fiel. Damals sprang die Zahl der „absolut Armen“ von 19,9 Prozent auf 24,8 Prozent, obwohl ihre Zahl bis dahin acht Jahre in Folge verringert wurde.
Wenn man die Ukrainer schon nach ihrem Wohlstandsniveau miteinander vergleichen muss, dann bedient man sich nationaler relativer Armutskriterien. Jeder, der weniger als 75 Prozent der mittleren Ausgaben der Ukrainer ausgibt, zählt nach diesem Kriterium als arm („relativ arm“ im Unterschied zu „absolut arm“). Das betraf Ende 2014 24,5 Prozent der Bürger, fast jeder Vierte.
Neue Arme
Jedoch kam die Ukraine bisher nur mit traditionellen Formen von Armut in Berührung. Am häufigsten waren Familien mit kleinen Kindern von Armut betroffen, besonders Kinderreiche. Zur Risikogruppe gehörten ältere Menschen ab 75 Jahre und älter, Bewohner von Dörfern und kleinen Städten, besonders in Nordwesten und etwas südlich der Landesmitte.
Wissenschaftler, Soziologen und Beamte begannen schon, diese Armut zu erkennen und sie zu bekämpfen. Programme zur Bekämpfung dieser traditionellen Armut brachten Ergebnisse. Mit jedem Jahr sank die Zahl der Armen in der Ukraine, in absoluten und relativen Zahlen.
2014 tauchten „neue Arme“ auf, – Umsiedler von der Krim und dann aus dem Donbass. Die Zahl der Übersiedler nähert sich schon der 500.000, nur nach offiziellen Zahlen. Inoffiziell könnten es mehr sein.
Ella Libanowa, Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialforschung der Staatlichen Akademie der Wissenschaften der Ukraine erinnert in ihrem Bericht an Millionen Zwangsumsiedler. Ein großer Teil dieser Menschen verlor plötzlich Arbeit, Wohnung, Besitz. Hierbei funktioniert das existierende System adressierter Hilfe im Fall der „neuen Armen“ nicht. Und der Arbeitsmarkt am neuen Wohnort der Umsiedler unterscheidet sich womöglich stark vom Arbeitsmarkt im Donbass oder auf der Krim. Um noch nicht einmal vom allgemeinen Niedergang der Wirtschaft und dem allgegenwärtigen Wachstum der Arbeitslosigkeit zu sprechen.
„Es existiert auch so etwas wie eine Stigmatisierung der Übersiedler (Anheften eines sozialen Etiketts – LB.ua). Sie finden schwer Wohnung, neue Arbeit wegen der Vorurteile… Ihre Ersparnisse geben die Umsiedler dafür aus, sich am neuen Ort einzurichten, eine Wohnung zu mieten. Allerdings wäre eine generelle Hilfe für Umsiedler nicht richtig, denn nicht alle Umsiedler brauchen Hilfe. Besonders unter Berücksichtigung des gigantischen Defizits im Staatshaushalt“, ergänzt Ella Libanowa.
In der letzten Woche unterschrieb der Präsident das Gesetz „Zur Sicherung der Rechte und Freiheit von Personen, die innerhalb des Landes umziehen“. Das Dokument deklariert für Umsiedler ohne Trennung nach Armen und Geringverdienenden die Bewilligung zahlreicher Vergünstigungen. Davor hatte das Ministerkabinett im Beschluss Nr. 505 vom 1. Oktober 2014 die Auszahlung von 442 Hrywnja (etwa 23 Euro) pro Person und Monat (maximal 2.400 Hrywnja (etwa 126 Euro) pro Familie) an Umsiedler angeordnet. Diese Hilfe können sie sechs Monate in Folge bekommen. Aber ausgezahlt wird sie nur denjenigen, die keine Rücklagen von mehr als 12.180 Hrywnja (etwa 641 Euro), Immobilien in freien Gebieten und neue Autos haben.
Ein anderes Problem, über das fast niemand spricht, ist die Armut in dem nicht von Kiew kontrollierten ukrainischem Territorium. Dort wohnen wie bisher Millionen ukrainischer Bürger. Eine Erhebung darüber, wie sie leben, ist nicht möglich.
Eine teilweise Antwort auf diese Frage (für den Teil des Donbass) ergibt eine Telefonumfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS). Mitarbeiter des KIIS befragten 2.116 Befragte in Städten des Donezker und Lugansker Gebiets im Auftrag des humanitären Stabs Rinat Achmetows, um die am dringendsten benötigte Unterstützung für Ortschaften herauszufinden. Auf Grundlage dieser Befragung wurde eine humanitäre Karte der Region erstellt, in der die Bedürfnisse der Einwohner der besetzten Gebiete, die aus unterschiedlichen Gründen nicht von dort weg konnten, aufgelistet sind.
„Je näher man sich an der Frontlinie befindet, desto schlimmer ist die Situation. Besonders schwierig ist die Situation in den Kleinstädten. In den Dörfern haben die Menschen Gärten und irgendwelche Essensvorräte, und in große Städte wie Donezk oder Lugansk dringt humanitäre Hilfe vor“, beschreibt Wladimir Paniotto, Generaldirektor des KIIS, die Situation während des Runden Tischs zur Armut. Er fügt hinzu, dass die Bewohner der besetzten Gebiete vor allem unter dem Mangel an Medikamenten und an zweiter Stelle unter dem fehlenden Essen leiden.
Gründe der Armut
Der Grund für die „neue Armut“ ist der Krieg. Die Gründe für die traditionelle Armut können jedoch vielfältig sein. Ella Libanowa hält die totale Verantwortungslosigkeit sowohl des Staates als auch der Bürger und der Wirtschaft für eine der Hauptursachen der traditionellen Armut.
„Der Anteil der Bürger, die glauben, ihr Leben hänge von ihnen selbst ab und nicht von den äußeren Umständen, betrug in der Ukraine im letzten Jahr 21,3 Prozent. Das ist sehr wenig. Fast 80 Prozent der Ukrainer hoffen auf Hilfe von oben“, sagt Ella Libanowa.
Dabei verhält sich auch der Staat verantwortungslos. Die politischen Populisten versprechen den Wählern goldene Berge, selbst wenn sie wissen, dass die Staatskasse leer ist. Im Ergebnis kann der Staat die von ihm geschaffene Abhängigkeit nicht erfüllen. Die Verantwortung der Wirtschaft ist das Zahlen von Steuern. Doch bisher sind die Geldströme matt, die Wirtschaft reißt sich nicht darum, Steuern zu zahlen. Es ergibt sich ein Cocktail aus Verantwortungslosigkeit, Enttäuschung und Armut.
Die These Ella Libanowas unterstützt zumindest den Fakt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und dem Armutsniveau gibt. Je mehr Gebildete es in der Familie gibt, desto reicher ist sie. Je höher das Bildungsniveau ist, desto besser geht es dem Haushalt. Deshalb, selbst wenn Sie alles im Krieg verloren haben und das Leben bei null beginnen, sparen Sie nicht an Ihrer Bildung und an der Bildung Ihrer Kinder! Diese Investitionen zahlen sich aus.
25. November 2014 // Andrej Janizkij, Redakteur der Abteilung „Wirtschaft“
Quelle: Lewyj Bereg