Kompromiss und Kapitulation
„Sein oder nicht sein beinhaltet keinen Kompromiss.“ In den letzten Jahren hat diese Äußerung Golda Meirs [Die spätere Ministerpräsidentin Israels Golda Meir wurde 1898 in Kiew geboren, A.d.Ü.] einen besonderen Sinn für die Ukraine und die Ukrainer gewonnen.
In unseren Realien dient das bequeme Wort „Kompromiss“ zu oft als Euphemismus, der etwas Erniedrigendes, Kleinmütiges und Übelriechendes maskiert.
Den Begriffsrahmen zu umreißen, ist nicht so schwer.
Ein wirklicher Kompromiss ist niemals einseitig. Ein wirklicher Kompromiss lässt immer Platz für dich selbst, deine Prinzipien und Werte.
Wenn du alles opfern sollst und die andere Seite nichts, dann nennt sich eine derartige Lösung nicht „Kompromiss“, sondern „Kapitulation“.
Insbesondere wenn die prorussische Lobby in der Ukraine zu „Dialog und Kompromiss“ aufruft, hofft niemand darauf, dass die Russische Föderation im Rahmen dieses Konflikts auf die annektierte Krim verzichtet oder der ukrainischen Bewegung nach Westen zustimmt.
Nein, der Kreml schickt sich nicht an etwas für ihn Prinzipielles zu opfern, sondern erwartet von Kiew eine bedingungslose geopolitische Kapitulation.
Ein konstruktiver Kompromiss mit der derzeitigen russischen Führung ist unrealistisch: da sie in ihren Erwartungen einfach keinen Platz für ein Subjekt namens Ukraine lässt.
Heute reden und schreiben viele davon. Doch nur wenige bedenken, dass diese Logik auch die inneren ukrainischen Angelegenheiten betrifft.
Wir durchleben einen historischen Moment, in dem die zivilisatorischen Konturen der zukünftigen Ukraine umrissen werden.
Das Land sollte sich auf sich selbst einigen; übereinkommen über Konservativem und Modernem, Rechtem und Linkem, kulturell Eigenständigem und Multikulturellem, Religiösem und Weltlichem.
In der Theorie verstehen sich darunter ein intensiver nationaler Dialog und die Suche nach Kompromissen.
Doch in der Praxis wird nicht selten eine andere Tendenz beobachtet: Der tolerantere Teil der Gesellschaft ist bereit Schritt für Schritt seine Prinzipien und Werte zu opfern, um eine neue Ukraine gemeinsam mit den Leuten zu errichten, die nichts opfern und auf ihrer eigenen aggressiven Linie fest beharren.
In diesen Fällen wird ein Kompromiss zu einer Illusion und der nationale Dialog zu einem peinlichen Selbstbetrug. Und mit derartigen Situationen ist unser liberales proeuropäisches Publikum im öfter konfrontiert.
Man kann über die „Atheisten des Kiewer Patriarchats“ Witze reißen und den Tomos [gemeint ist der erwartete Erlass des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (Istanbul) zur Gewährung der kirchenrechtlichen Unabhängigkeit für eine noch zu schaffende Ukrainisch-Orthodoxe Kirche, A.d.Ü.] als Element des hybriden Konflikts mit Moskau betrachten.
Doch die Realität ist derart, dass für jemanden alle Vorgänge lediglich ein Anlass für die Einpflanzung der ukrainischen Variante der „geistigen Klammern“ ist. [Der Begriff „geistige Klammern“ wurde vom russischen Präsidenten Wladimir Putin 2012 als Bild für den ideologischen Zusammenhalt Russlands auf der Basis konservativer „traditioneller“ Werte verwendet. Zusammen mit dem Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche beschreibt er auch die Bindung an Moskau in der sogenannten „Russischen Welt“ über die Staatsgrenzen Russlands hinaus. A.d.Ü.]
Auf dem patriotischen Enthusiasmus spielend, fordern diese Leute bereits zwangsweise Schulgebete und Pflichtstunden in christlicher Ethik.
Sie philosophieren ernsthaft über eine Weltverschwörung der Rothschilds und von Soros, brandmarken den verfaulenden Westen und schicken sich an das Land vor der „Homodiktatur“ zu retten.
Und ein konstruktiver Kompromiss mit ihnen ist unrealistisch: da sie in ihren Erwartungen keinen Platz für eine moderne Ukraine lassen, die tolerant gegenüber verschiedenen religiösen und nichtreligiösen Ansichten ist.
Man kann die rechtsradikale Gewalt als bittere Medizin verstehen, die von der kämpfenden Ukraine eingenommen wird. Man kann sich selbst davon überzeugen, dass im Handgemenge mit der „Russischen Welt“ Verprügelungen und Pogrome begründet und gerechtfertigt sind.
Doch die Realität ist dergestalt, dass für die Radikalen selbst Gewalt niemals eine bittere Pille war: Sie war und bleibt ein Leckerbissen, den unsere Ultrarechten mit Vergnügen und steigendem Appetit schlucken.
Für Tausende junger Menschen wird Gewalt zur Lebensphilosophie, Hauptquelle von Selbstachtung und Selbstrealisierung.
Und ein konstruktiver Kompromiss mit ihnen ist unrealistisch: da sie in ihren Erwartungen keinen Platz für eine rechtsstaatliche Ukraine lassen, in der die Bürger vor Willkür und Aggression geschützt sind.
Man kann jegliche Verbote und Einschränkungen, die von Abgeordneten und Staatsbediensteten unterschiedlicher Ebenen generiert werden, als unvermeidliches Instrument der Verteidigung ansehen.
Man kann darüber schreiben, dass der Krieg die Ukraine dazu zwingt, aus der Komfortzone auszutreten und die humanitären Schrauben anzuziehen.
Doch die Realität ist derart, dass viele Leute einfach an Intoleranz gegenüber dem anderen leiden und es ihnen einfach gefällt etwas Fremdes zu verbieten und fremde Freiheit einzuschränken.
Der hybride Krieg mit der Russischen Föderation zwingt sie zu nichts: im Gegenteil, der Krieg hilft diesen Leuten ihre fremdenfeindlichen Ansichten zu legitimieren, ihre langjährigen autoritären Allüren zu legalisieren und eine eigene Komfortzone zu erlangen.
Und ein konstruktiver Kompromiss mit ihnen ist unrealistisch: da sie in ihren Erwartungen keinen Platz für eine freie europäische Ukraine lassen.
Die ukrainische Unabhängigkeit ist nicht verhandelbar. Doch Handelsgegenstand können auch nicht die Werte sein, die unsere Unabhängigkeit mit zivilisatorischem Inhalt füllen.
Elementare Menschenrechte, unveräußerliche individuelle Freiheiten, der weltliche Charakter des Staates – alles das, was die unabhängige Ukraine vom unabhängigen Russland, dem unabhängigen Iran oder dem unabhängigen Simbabwe unterscheiden soll.
Es gibt nicht wenige schöne Worte, die berufen sind, die geopolitische Kapitulation zu begründen: „wir brauchen Frieden“, „historische Verbindungen mit den Nachbarn“, „wir sind doch Brüder“.
Doch nicht weniger schöne Worte werden zur Begründung der schleichenden Wertekapitulation verwendet: „wir brauchen den Sieg“, „historische Notwendigkeit“, „wir sind doch eine Nation“.
Mit den hausgemachten Chauvinisten soll für die ukrainische Einheit übereingestimmt werden, obgleich die Chauvinisten selbst sich nicht fürchten diese Einheit zu untergraben, indem sie Mitbürger erniedrigen und diskriminieren.
Die Ausfälle der heimischen Rechtsradikalen sollen nicht bemerkt und kommentiert werden, um Moskau nicht in die Hände zu spielen, obgleich die Radikalen selbst nicht an das Image des Landes und an ihr eigenes Zuspiel der Kremlpropaganda gegenüber denken.
Den autoritären Orthodoxen soll mit Verständnis begegnet werden, der Kriegszeit ein Zugeständnis gebend, obgleich sie selbst sich nicht genieren die Kriegszeit für die aggressive Einpflanzung der eigenen Werte und die zielgerichtete Vernichtung anderer zu verwenden.
Auf die Art verwandeln sich die schönen Losungen über die Einheit angesichts des äußeren Feindes in einseitige Preisgaben von Positionen innerhalb des Landes.
Wenn denkende Ukrainer versuchen zu einem Kompromiss mit Aufklärungsfeinden zu kommen, ist das kein Kompromiss. Das ist die Kapitulation des Verstandes vor der Aufklärungsfeindlichkeit.
Wenn Liberale versuchen zu einem Kompromiss mit Leuten zu kommen, die dem Gewaltkult anhängen, ist das kein Kompromiss. Das ist die Kapitulation des Liberalismus vor der blanken Gewalt.
Und wenn im Jahr 2018 jemand dazu ansetzt, zu einem Kompromiss mit den Anhängern mittelalterlicher Ansichten zu kommen. Ist das ebenfalls kein Kompromiss. Das ist die Kapitulation des 21. Jahrhunderts vor dem Mittelalter.
6. Oktober 2018 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda