Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche hat seit 1991 bei Konstantinopel die Autokephalie angefragt, der Ökumenische Thron aber überstürzte sich nicht bei der ukrainischen Anfrage. Was hat sich also 2018 nun verändert?
Das Schweigen des Patriarchen
Die Versuche der ukrainischen Orthodoxen, von Moskau unabhängig zu werden, begannen sogleich, als das Land die Souveränität erhalten hatte. Schon auf der Allukrainischen Orthodoxen Synode vom 1. bis 3 November 1991 wurde die Eingabe des Episkopats vom 22. Januar 1992 an das Moskauer Patriarchat verabschiedet, sehr darauf zu achten, dass die Frage der Autokephalie nicht hinausgeschoben wird. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kyjiwer Patriarchats und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche wurden damals durch Präsident Leonid Krawtschuk unterstützt, aber weder Konstantinopel noch Moskau kamen zum Treffen mit den Ukrainern.
Wiederholte Versuche und Appelle an den Ökumenischen Patriarchen erfolgten nach der Orangen Revolution, erhielten aber nicht mehr als eine moralische Unterstützung von Konstantinopel. Im März 2005 bei einem Treffen einer Delegation des Ökumenischen Patriarchats mit Präsident Wiktor Juschtschenko erklärte Erzbischof Wsewolod von Skopelos, dass die „Mutter-Kirche, das Patriarchat von Konstantinopel, der Auffassung sei, dass ihre Tochter – das Moskauer Patriarchat – das kanonische Territorium habe, das vor 1686 bestand.“ Moskau wurde hingeworfen, dass Konstantinopel nicht mit den Grenzen seines „kanonischen Territoriums“ einverstanden sei, obgleich das Kyjiwer Patriarchat damals weder die Aufhebung des Anathemas [der kirchenrechtlich wirksamen Verurteilung und Ausschließung Patriarch Filarets aus der orthodoxen Kirche, Anm. d. Ü.], noch die Autokephalie erhielt. Zwischen Moskau und Konstantinopel bestanden schon seit langem schwierige Beziehungen, wegen der Bildung der Russisch-Orthodoxen Kirche auf der Grundlage der Kirchenstrukturen aus den Zeiten der UdSSR und ihrer faktischen Unterordnung unter den Kreml zögerte aber Patriarch Bartholomäus lange, in einen Konflikt mit der weltgrößten orthodoxen Kirche zu treten.
Außerdem musste das Patriarchat von Konstantinopel, das sich in Istanbul befindet, die Position der türkischen Regierung berücksichtigen, die nicht besonders daran interessiert ist, die Rolle des „griechischen“ Patriarchen zu stärken und die nie die Beziehungen mit Russland mit einer für Moskau heiklen „ukrainischen Frage“ verderben wollte. Daher wurden alle Anfragen der Ukrainer bezüglich der Autokephalie nur mit Schweigen und verständnisvollem Blick begleitet.
Das Zweite Rom gegen das „Dritte Rom“
Im 21. Jahrhundert hat sich die Weltkarte der Orthodoxie einem Patchwork angenähert, das aus einem sehr großen Flicken, der Russisch-Orthodoxen Kirche, und einer Reihe von kleineren orthodoxen Kirchen, der Griechischen, Serbischen, Bulgarischen, Rumänischen, Georgischen und so weiter besteht. Die Rolle des Patriarchen von Konstantinopel hat sich dabei im Laufe der Jahre auf die Rolle der Königin von England reduziert, das Moskauer Patriarchat indes hat bereits die Rolle des Führers der Weltorthodoxie übernommen, und zwar ohne Berücksichtigung des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus. Seit vielen Jahren war dies ein nicht erklärter Krieg um die Vorherrschaft, die Aufrechterhaltung und die Ausdehnung des Einflusses in der orthodoxen Welt zwischen der maßgeblichsten und der größten Kirche. Den Patriarchen von Konstantinopel, der dem Moskauer Patriarchat auf dem Weg zur Leitung im Weg stand, hielten die gewöhnlichen Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche schon in den 1990er Jahren, wenn sie ihn nicht Agenten des Außenministeriums der Vereinigten Staaten nannten, so doch für jemanden, der unter dem Einfluss Washingtons steht, und für die allerkanonischste Kirche der Welt hielten sie natürlich die Russisch-Orthodoxe.
In der Weltorthodoxie braute sich eine Spaltung zusammen, die sich auf dem gesamtorthodoxen Konzil in Kreta 2016 vertiefte, die russische Kirche ignorierte es und überzeugte die von ihr abhängigen Patriarchen, die Einladung von Bartholomäus abzulehnen. Dies war ein öffentlicher Schlag ins Gesicht von Konstantinopel und eine offene Geste der Aufsässigkeit, mehr noch eine Demonstration des Anspruches der Russisch-Orthodoxen Kirche auf die Führungsposition in der orthodoxen Welt. Der Kalte Krieg zwischen dem Zweiten Rom und dem sogenannten „Dritten Rom“ schuf die Voraussetzungen für eine resolutere Position des Ökumenischen Patriarchen, um den expansionistischen Plänen der Moskauer Kirche zu widerstehen. Die Frage der ukrainischen Autokephalie erwies sich als nützliche Trumpfkarte von Bartholomäus für einen Gegenschlag: wenn die Russisch-Orthodoxe Kirche den Zahlen der Gläubigen nach die größte ist, wie wird sie dann kleiner werden nach dem Abzug eines Teils des kanonischen Territoriums der Russisch-Orthodoxen Kirche, welcher die Mutter und das Herzstück ist, also mehrerer zig Millionen Gläubiger, zwölftausend Gemeinden, der Lawren von Kyjiw und Potschajiw? Wenn der Prozess der Schaffung der ukrainischen Kirche mit dem Tempo voranschreitet, wie man es sich in Kyjiw und Konstantinopel ausrechnet, dann wird in Europa die größte orthodoxe Kirche geschaffen, die die Zahl der Gläubigen der Russisch-Orthodoxen Kirche um ein Drittel oder sogar die Hälfte reduziert, wenn man den erheblichen Anteil der muslimischen und atheistischen Bevölkerung Russlands berücksichtigt. Der Bevölkerung nach ist Russland dreimal größer als die Ukraine. Trotzdem ist die Zahl der registrierten religiösen Gemeinden und Organisationen in der Ukraine deutlich größer – 26.760 gegen 21.448 in der Russischen Föderation. Daher kann die Russisch-Orthodoxe Kirche sich bereits beim Abheben als abgeschossen herausstellen: da sie nicht den einflussreichsten Status erlangt, droht sie sogar noch den Status der zahlenstärksten zu verlieren. Der jahrhundertealte Wunsch der Ukrainer nach Anerkennung der eigenen nationalen Kirche wurde schließlich zu einem Moment der Rettung des Status von Konstantinopel in der orthodoxen Welt.
Wem wird die Ukraine gehören?
Konstantinopel wird, indem es der ukrainischen Kirche den Status der Autokephalie verleiht, nicht nur den Widersacher schwächen, der dem Ökumenischen Patriarchen beinahe die Kehle zuschnürte, sondern kann gleichzeitig seine eigenen Positionen wesentlich stärken.
Nach dem Fall von Byzanz reduzierte die Kirche von Konstantinopel ihren Einfluss auf einen kleinen Teil der orthodoxen Bevölkerung der Türkei und befindet sich heute in der Lage einer exotischen Minderheit in einem muslimischen Land. Ein kleines Territorium und einige Kirchen in Istanbul (circa fünftausend Gläubige in der Türkei), ein Teil Griechenlands, Kretas und die Insel Patmos machen faktisch das gesamte Territorium aus, das Konstantinopel direkt untergeordnet ist. Obwohl dem Ökumenischen Patriarchen viele Diaspora-Kirchengemeinden auf der gesamten Welt untergeordnet sind – 23 Diözesen in Nordamerika, Westeuropa, Australien. Aber es ist klar, dass die Metropolien von Belgien, Österreich, Spanien, Chicago, New Jersey, Singapur oder Mexiko angesichts der nur wenigen orthodoxen Gemeinden in diesen Ländern Konstantinopel keine bedeutenden finanziellen Mittel oder politischen Einfluss geben können. Beispielsweise hat die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche in den Vereinigten Staaten nur 115 Pfarreien, das Moskauer Patriarchat aber hat weltweit fast 38.000 Gemeinden und eine riesige staatliche finanzielle Unterstützung und die Hilfe der russischen Geheimdienste.
Die Änderung des Status der ukrainischen Orthodoxie kann Konstantinopel jedoch ein zweites Leben geben. Wie eine Reihe von Kirchenleitern meint, dürfte, solange in der Ukraine nicht ein neuer Leiter der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche gewählt und der Tomos [Erlass] bezüglich der Autokephalie nicht überreicht ist, auf unserem Territorium zunächst eine vorübergehende Jurisdiktion von Konstantinopel eingeführt werden. Und das bedeutet, mit dem Auszug der Ukraine von der Autorität Moskaus empfängt der Ökumenische Patriarch in seiner Jurisdiktion etwa 30 Millionen Gläubige – 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, die sich als Orthodoxe betrachten. Natürlich bleiben einige der Gläubigen unter der Kontrolle Moskau und werden nicht in die Struktur der ukrainischen Kirche eintreten, aber in jedem Fall werden es Millionen von Gläubigen und Tausenden von Kirchen und Gemeinden sein. Die Ukrainer sehen eine zeitweilige Unterordnung unter Konstantinopel (die uns mehr liegt und unsere prowestliche Option unterstützt) als deutlich besser an als die Abhängigkeit von der Moskauer Kirche, in deren Kirchen eine antiukrainische Propaganda ausgeführt wird und wo immer wieder separatistische Kämpfer und Waffen versteckt werden. [Die angebliche Unterstützung der ostukrainischen Separatisten durch Priester und Mönche des Moskauer Patriarchats beispielsweise in der Lawra von Swjatohirsk im Donezker Gebiet ist ein oft vorgebrachter Vorwurf, A.d.R.]
Dieser Schritt stärkt den Status und Einfluss von Konstantinopel in der orthodoxen Welt erheblich, und wenn Kyjiw die Autokephalie erhalten haben wird, wird das Zweite Rom zusätzliche Unterstützung bei den Kirchenkonzilien erhalten. Bartholomäus wird nicht länger als „Königin von England“ angesehen werden, sondern die Rolle des Ökumenischen Patriarchats wird wieder an Bedeutung gewinnen, wie in den Zeiten von Byzanz. Doch im Gegensatz zum Mittelalter werden im 21. Jahrhundert nach wechselseitiger Aufhebung des Anathemas zwischen den Leitern der katholischen und orthodoxen Kirchen, die pro-europäische westliche und östliche Christenheit eine enge Zusammenarbeit entwickeln, anstelle einander gegenüberzustehen, wie es die Russisch-Orthodoxe Kirche gerne gewünscht hätte. Der Auszug aus der Unterordnung unter Moskau wird so den ukrainischen Orthodoxen ermöglichen, am europäischen interreligiösen Dialog teilzunehmen, statt, wie die Moskauer Orthodoxie, mit Obskurantismus und Einschüchterung bei der Hochzeit von Orthodoxen mit Katholiken oder Teilnahme an der Eucharistie in griechisch-katholischen Kirchen „Gehirnwäsche“ zu betreiben, was die Moskauer Priester gerne tun.
Allerdings sollten die Ukrainer nicht vorschnell feiern und „Hop“ sagen, solange sie nicht gesprungen sind [hic Rhodos – hic salta wird hier angespielt, A.d.Ü.], und sich vorzeitig freuen über die Absicht der Überreichung des Tomos der Autokephalie, solange wir nicht eine geeinte Kirche haben, kein gewähltes Kirchenoberhaupt, kein gesamtukrainisches Konzil. Daher werden heute alle Kräfte der russischen Geheimdienste, ihre finanziellen Ressourcen und Agenten in der Ukraine und auf der gesamten Welt daran arbeiten, wenn sie nicht zu blockieren so doch den Ukrainern die Möglichkeit zu verwehren, eine eigene Kirche zu verwirklichen.
16. Oktober 2018 // Walerij Majdanjuk
Quelle: Zaxid.net
Anmerkung des Übersetzers
Der Verfasser hat seine Betrachtungen in einem weiteren Artikel auf zaxid.net vom 23. Oktober zu den konkreten Interessen und persönlichen Ambitionen der verschiedenen Kirchenleiter fortgesetzt.
Bei den Überlegungen zur Geopolitik lässt der Verfasser aus, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nur die Russisch-Orthodoxe Kirche und Russland durch das ausgelebte Blockadeverhalten und die politischen Aktionen der letzten Jahre (Nichtteilnahme am Konzil, Krieg und die westliche Reaktion darauf, Spionage, Fake-Nachrichten) in der Welt geschwächt ist, sondern auch die Türkei.
Für die Unterordnung unter Konstantinopel ist außerdem noch hinzuweisen auf den Status der Stauropegie, also der unmittelbar Konstantinopel zugeordneten Kirchengemeinden, ein Status, der beispielsweise in Lwiw vor Jahrhunderten den Bruderschaften verliehen wurde, vgl. dazu die einschlägige Literatur, etwa die auch auf englisch vorliegende Monographie von Jaroslaw Isaewytsch. Hieran lässt sich anknüpfen.
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