Krankheit und Symptom



Anfang des 16. Jahrhunderts verglich Niccolo Machiavelli die Korruption mit einer gefährlichen Krankheit. In dieser Epoche nahmen europäische Ärzte an, dass giftige Dämpfe , die aus den Ausdünstungen des Moores entstehen oder unter dem schädlichen Einfluss des Planeten Saturn, die Pest hervorrufen.

Seit dieser Zeit haben unsere Vorstellungen von Mikrobiologie und Medizin große Fortschritte gemacht. Aber leider lässt sich nicht dasselbe über unser Verständnis von komplizierten gesellschaftlichen Prozessen sagen.

Wenn wir über soziale Probleme reden, werden wir äußerst naiv und oberflächlich – zum Beispiel erkennen wir den Unterschied zwischen der eigentlichen Erkrankung und ihren Symptomen nicht.

Ähnlich wie der italienische Philosoph der Renaissance-Zeit hält die ukrainische Gesellschaft Korruption für eine Krankheit. Eine lebensgefährliche Krankheit, die man heilen muss, mit allen beliebigen Mitteln, etwa bis hin zu Massenerschießungen. Die Korruption wird für das Hauptproblem des Vaterlands gehalten und für die Wurzel allen Übels. Die professionellen Korruptionsbekämpfer gelten als die wahren Helden unserer Zeit und schon verwandelt sich die Antikorruptions-Rhetorik in eine Waffe in internen Machtkämpfen.

Nun ja, nehmen wir einmal an, dass diese Sichtweise auf die Korruption wahr ist. In diesem Fall sollte die Ausnutzung übertragener Ämter für eigennützige Ziele immer und ausschließlich zum Schlechten führen. Allerdings kennt man aus der weltweiten Praxis so einige Gegenbeispiele.

In den 1940er Jahren lamentierte Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, über das „verfluchte Juden-Gold“, das seine Untergegebenen die „Partei-Ethik“ vergessen ließ. Wären alle Mitarbeiter der SS und der Polizei ehrlich und unbestechlich gewesen, dann wäre die Zahl der Toten in den Jahren des Holocausts noch größer gewesen. In der Praxis aber konnten sich die Menschen meist deshalb retten, weil die gewöhnlichen Vollstrecker nicht selten ihre Dienstpflichten zu Gunsten von persönlicher Profitgier vernachlässigten. Und alle Heldentaten eines Oskar Schindlers oder eines Raoul Wallenbergs erschienen nur möglich dank Korruption.

In den 1990er Jahren wurden auf Anregung der Regierung in der „Demokratischen Volksrepublik Nordkorea“ so genannte „Gruppen zur Ausrottung antisozialistischer Tätigkeit“ gebildet. Ihre Aufgabe war die Unterdrückung jeglicher Handelstätigkeit. Die Gruppen patrouillierten aktiv über die gerade entstehenden nordkoreanischen Märkte, aber ihre eigentliche Funktion erfüllten sie nicht: Die Kontrolleure wollten auch essen, und die Privathändler kauften sich leicht mit Bestechungen von ihnen los. Aufgrund der allgemeinen Korruption scheiterte der Plan der Regierung und es gelang nicht, auch die spontanen Marktmechanismen zu ersticken, die Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrten.

Was verbindet diese Beispiele mit der aktuellen ukrainischen Korruption, die wir gewöhnlich nicht mit der Rettung, sondern mit der Zerstörung des Landes assoziieren? Die Ähnlichkeit besteht darin, dass in allen Fällen die Korruption nicht die Krankheit selbst ist, sondern nur das Symptom, das die Krankheit signalisiert. Die äußere Erscheinung eines tiefen und überaus schwerwiegenden Leidens.

Die gewissenlosen SS-Männer, die bereit waren, Juden gegen enorme Bestechungszahlungen gehen zu lassen, waren ein Symptom. Die Krankheit war die Nazi-Ideologie, die Millionen unschuldiger Menschen zum Tode verdammte und dazu ermunterte, unmenschliche Gesetze mit Hilfe von Gold und Diamanten zu umgehen. Die Mitglieder der nordkoreanischen „Gruppen zur Ausrottung antisozialistischer Tätigkeit“, die ihre Pflichten für Geld vernachlässigten, waren ein Symptom. Die Krankheit war – und ist es bis heute oft – ein absurdes System staatlicher Verbote, die private Handelstätigkeit in Nordkorea außerhalb des Gesetzes stellte.

Die ukrainische Korruption, die auf allen Ebenen blüht, ist ebenfalls ein Symptom. Genau so ein Symptom wie die Schattenwirtschaft, die allgemeine Umgehung von Steuerzahlungen oder der allgegenwärtige Schmuggel. Ein Symptom ökonomischer Unfreiheit, eines exzessiven Pressings durch die Verwaltung, einer verklemmten gesetzgeberischen Basis, einer unangemessenen Verteilung von Mandaten und anderer schwerwiegender Krankheiten.

Einige von diesen Leiden sind ererbt aus der Zeit der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, andere sind schon in den Zeiten der Unabhängigkeit erworben. Nun, wie immer es auch sein mag, gerade sie sind die Ursache, die Korruption aber, die die Ukrainer empört – die Folge.

Wenn unsere Staatsmänner mit unvergleichlicher Leichtigkeit reich werden, bedeutet das, dass sich in den Händen unseres Staatsapparats unvernünftig viele wirtschaftliche Schalthebel konzentrieren.

Wenn ein Millionenmarkt – unter dem Druck eines hochgestellten Beamten – vollständig umgekrempelt werden kann, bedeutet das, dass der Beamte mit einer Machtfülle ausgestattet ist, die es im Idealfall nicht geben sollte.

Wenn die Versuche, bestimmte staatliche Wunschvorstellungen zu realisieren, dazu verkommen, dass sich die Bearbeiter bereichern, dann liegt das Problem nicht in den Bearbeitern, sondern in der von oben erteilten Wunschvorstellung.

Wenn es für den Kleinunternehmer sehr viel leichter und billiger ist, eine Frage auf dem Weg der Korruption und nicht auf dem Weg des Gesetzes zu entscheiden, beweist das den kolossalen Riss zwischen der gesetzgeberischen Grundlage und der tatsächlichen Wirklichkeit.

Das Ausmaß der heimischen Korruption abzuschätzen und die Korruptionsmechanismen offen zu legen, ist außerordentlich wichtig, ebenso wichtig wie rechtzeitig die Symptome einer gefährlichen Erkrankung zu erkennen. Aber keinesfalls darf man dabei vergessen, dass sich hinter diesen Symptomen etwas Größeres verbirgt.

Unsere Armut und Rückständigkeit ist nicht durch Korruption geboren, sondern durch jene systemischen Untugenden, die das Aufblühen der Korruption provozieren.

„Die Korrupten jagen“, „die Bestechlichen einbuchten“, „denen, die bei der Armee stehlen, die Hände abhauen“ – alle diese Rezepte, die den Zuschauer beeindrucken und die so oft von ukrainischen Politikern zu hören sind, münden nur in einer lindernden Behandlung: Fieber senken, eine Betäubungstablette nehmen.

Das ist der Kampf mit den Folgen, aber nicht mit den Ursachen. Und in unserem Fall ist das einfach nicht ausreichend.

Letztendlich haben wir schon den korrumpierten Janukowitsch verjagt, den gierigen Asarow, die habgierigen „Jungreformer“ – und könnten uns überzeugt haben, dass ein Wechsel der Personen nicht identisch ist mit einem Wechsel der Regeln.

Der Kampf gegen die Symptome, ohne die Ursachen anzugehen, ist allein deshalb perspektivlos, weil die Korruption nicht nur Abgeordnete, Minister und Richterschaft sind.

Die Korruption – das sind auch die Millionen einfacher Ukrainer, die gezwungen sind, das Gesetz zu übertreten, einfach nur, um in der heutigen Ukraine zu leben und zu arbeiten.

In einem Land, das nicht gesund ist, erweist sich die Korruption als jene unausweichliche Gemengelage zwischen Unternehmer und ökonomischer Unfreiheit, zwischen gewöhnlichem Bürger und absurder Gesetzeslage, zwischen kleinem Mann und aufgeblähtem Staat.

Und in einer Reihe von Fällen erscheinen die Aufforderungen an unsere Gesellschaft, „nach dem Gesetz zu leben“, als offener Hohn: Mit demselben Erfolg könnte man einen Lungenkranken dazu aufrufen, sich vom Röcheln und Husten fernzuhalten. Was im Prinzip machbar ist – aber nur wenn der Patient aufhört zu atmen.

5.Januar 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Pravda

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