Vom Krieg vertrieben: Drei von tatsächlich einer Million Geschichten
Die Wohnungssuche ist eines der größten Probleme für diejenigen, die aus dem Kriegsgebiet fliehen. Insgesamt wurden in der Ukraine 800.000 Menschen als Binnenflüchtlinge registriert. Alleine in Charkiw sind es 200.000, die eigentliche Zahl wird auf das Doppelte geschätzt. Da ein Ende des Konfliktes nicht in Sicht ist, bleibt die Heimkehr für diese Menschen ein Wunschtraum, den auch die folgenden drei Familien hegen, die nach Charkiw, Slowjansk und Kyjiw gegangen sind.
Irynas Geschichte
„Es war die ganze Zeit Beschuss“, erinnert sich Iryna Laptewa. Sie lebte mit ihrer Familie in Debalzewe, einer sowohl für die ukrainischen Truppen als auch für die Separatisten strategisch wichtigen Stadt. Im Januar und Februar 2015 wurde dort erbittert gekämpft. Fast alle Gebäude im Stadtzentrum sind zerstört oder schwer beschädigt. Nach dem Beschuss lagen Leichen in den Häusern und Kellern. Alle die konnten, flohen.
Für Iryna war es alles andere als leicht, ihre Heimatstadt zu verlassen. Ihr Mann Witalij ist gelähmt, ihr Vater Mykolaj blind. „Sie wollten nicht weg“, erzählt Iryna. „Und ich wusste nicht wie.“ Iryna ist physisch ebenfalls eingeschränkt. Sie ist sehr klein, ihr Körper hat die Größe einer Achtjährigen. Auch ihr Sohn im Schulalter hat eine Behinderung.
„Es war sehr schwer für mich“, fährt Iryna fort. „Ich musste mich um meinen Mann und meinen Vater kümmern, die beide von mir abhängig sind. Der Kleine weinte nur noch. Geschosse fielen neben unser Haus. Zehn Tage lang hatten wir keinen Strom. Es war sehr kalt. Ich musste auf der Straße Wasser holen. Es alleine nach Hause zu tragen, war unglaublich schwer. Ich war total kaputt.“
In diesem Zustand konnte sie nicht länger ruhig dasitzen. Die Angst um das Leben ihres Sohnes erschöpfte sie so, dass Iryna schließlich entschied, ihn aus der Stadt zu bringen. Danach organisierte sie die Evakuierung ihres Mannes und ihres Vaters.
Jetzt wohnen sie gemeinsam mit anderen Familien, die ebenfalls ihr Haus verlassen mussten, in einer Flüchtlingsunterkunft in Charkiw. Sie haben nur ein Zimmer für die ganze Familie, dafür ist es warm und sicher. Die Familie erhält finanzielle Hilfe und Lebensmittel von der Caritas Ukraine.
„Wir versuchen, positiv zu bleiben“, sagt Iryna.
Annas Geschichte
„Am Anfang schliefen wir sogar auf Kartons, wie Obdachlose“, erzählt Anna Iwanowa aus Donezk, Mutter von sechs Kindern. Sie flohen, als der Konflikt ausbrach. „Unser neues Haus war ständig kalt, zugig und wir hatten sogar Schlangen.“
Vor dem Krieg war das Leben der Familie geregelt. Sie hatten ein großes Auto, eine Vierzimmerwohnung und beide Arbeit. Als die Kämpfe begannen, entschieden sie: „Wir wollen nicht, dass unsere Kinder Beschuss und Leichen sehen. Wir wollen sie vor dem bewahren.“ Das Paar dachte, dass der Krieg nicht lange dauern würde. Darum packten sie wie für einen Sommerurlaub. Wochen wurden zu Monaten, das Geld ging langsam aus. Eine Wohnung für eine so große Familie konnten sie sich leisten. Schließlich fanden sie ein unmöbliertes Haus in der Stadt Slowjansk, die zu jener Zeit bereits frei von Separatisten war.
„Die Lokalbevölkerung hat uns sehr unterstützt. Auch sie haben schwierige Zeiten durchgemacht, deshalb fühlten sie mit uns mit“, erklärt Anna. „Es war eine angespannte Zeit. Wir fanden keine Arbeit und konnten die Älteren nicht in die Schule schicken. Bis zum Ende des Schuljahres blieben wir dort, dann zogen wir nach Dnipropetrowsk um.“
Jetzt wohnt die Familie mit anderen Flüchtlingen gemeinsam in einem Containerdorf. Es besteht aus Fertigteilen, die mit finanzieller Hilfe aus Europa gebaut wurden.
Der Wohnraum ist winzig, aber Anna und ihr Mann haben sich bemüht, eine heimelige Atmosphäre zu schaffen, Regale, Tische und Schränke gemacht. „Wir versuchen die Bedingungen so angenehm wie möglich zu gestalten, damit die Kinder ein normales Leben haben“, sagt sie.
Die älteren Kinder gehen in die Schule, ihr Mann hat Arbeit gefunden, Anna kümmert sich um den jüngsten Sohn – er ist erst acht Monate alt. „Die Schwangerschaft mit ihm kam überraschend“, lächelt Anna. „Unsere Werte haben sich verändert. Vor dem Krieg waren uns materielle Dinge wichtig, das Haus, moderne Kleidung. Jetzt schätzen wir das, was wir haben.“
Tetjanas Geschichte
„Ich wollte einfach Ruhe“, erzählt Tetjana Ihnatowa, eine junge Mutter aus Luhansk, die jetzt in Kyjiw lebt. „Ich konnte nicht mehr aus der Wohnung raus.“ Sie floh während eines vorübergehenden Waffenstillstands in einem von drei genehmigten Zügen nach Luhansk aus dem Konfliktgebiet. „Es war schwer, diese Entscheidung zu treffen, aber wir hatten keine Wahl. Der Beschuss dauerte schon Monate an. Zu Hause sahen wir keine Zukunftschancen, es gab weder Arbeit noch Infrastruktur“, sagt Tetjana. „Wir sind nach Kyjiw gekommen, um Arbeit, einen sicheren Ort und eine Zukunft für unsere Kinder zu finden.“
Ihr Mann hat keine Arbeit. Tetjana bleibt zu Hause, weil sie ihr jüngstes Kind nicht in den Kindergarten geben kann. Dafür wäre eine bestimmte Impfung nötig, aber die Ärzte haben nicht genug Impfstoff. Ihnen fehlt das Geld für die Heizung und den Lebensunterhalt.
„Wir sind wie Kriegsflüchtlinge. Das ist emotional sehr erdrückend“, so Tetjana. Ihr fünfjähriger Sohn fragt täglich, wann sie wieder nach Hause zurückkehren und ob noch immer Panzer in den Straßen parken würden. „Er hat den Beschuss erlebt, hat die Militärtechnik gesehen“, sagt sie.
Ihr zweijähriger Sohn ist heute sehr unruhig, deshalb wurde er in ein Zimmer gebracht, wo er auf Sand malen kann. Das beruhigt. „Auf dem Sand kann er seine eigenen Bilder malen. Er spürt gerne den Sand unter seinen Fingern. Hier kann er den ganzen Tag verbringen“, erzählt Tetjana.
In der Zimmerecke steht ein altes Klavier. Die Tasten sind in Regenbogenfarben angemalt und das Klavier selbst mit bunten Zeichnungen dekoriert. Kinder haben hier die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten auszuprobieren.
Wolodymyr, ein 13-jähriger Junge aus Donezk, sitzt am Klavier. Er drückt die Taste mit dem höchsten Ton. Sie ist weiß. „Ich träume gerne, wenn ich diesen Ton höre. Von meinem Haus und von Urlaub mit Freunden“, erzählt er.
Leid
All diese Familien vereint nicht nur das gemeinsame Leid und die Hilfe durch die Caritas Ukraine. Kinderreiche Familien, alleinerziehende Mütter und Familien mit besonderen Bedürfnissen erhalten Geld für Miete, Essen und Medikamente.
„Die Ukraine ist ein ziemlich armes Land, aber die Menschen hatten ihre eigenen Unterkünfte. Jetzt haben sie alles verloren“, erläutert Andrij Waskowytsch, Präsident der Caritas Ukraine. „Zuerst lebten sie normal und dann wurden sie mit dem Krieg konfrontiert. Einige haben Extremitäten verloren, als sie sich im Keller versteckten. Wir müssen ihnen jetzt helfen. Aber diese Menschen müssen langfristig unterstützt werden, nicht nur fünf Jahre, sondern sogar 50.“
Menschen, die vor Krieg flüchten, haben manchmal Traumata, die man äußerlich nicht sieht. Als Beispiel nennt Walentyna Batschynska, Koordinatorin des Kinderzentrums der Caritas in Kyjiw, Sachar. „Er ist ein sehr besonderer achtjähriger Junge aus Luhansk. Sein Heimatort wurde schwer beschossen. Es regnete in der Nacht, als seine Familie flüchtete. Als sie Kyjiw erreichten und in unser Zentrum kamen, schaute er ständig zum Fenster. Er sagte, er warte auf den Regen, weil er dann nach Hause zurückkehren könne.“
Im Caritas-Zentrum gibt es einen Kinderbereich, in dem Kinder, die an unterschiedlichen Traumata leiden, Hilfe erhalten. Die Traumata zeigen sich in Form von Aggression, Verschlossenheit, Trauer oder Hyperaktivität. Manche Kinder haben Verwandte verloren, ihre Haustiere oder Freunde. Und alle haben sie ihr Zuhause verloren.
„Schlussendlich konnten wir zu Sachar durchdringen, indem wir ihn baten, eine Sonne zu malen, die nach dem Regen aufgeht. Das hat ihm geholfen, seine innere Unruhe zu bewältigen und er erklärte anderen Kindern, dass nach dem Regen immer die Sonne kommt“, so Batschynska.
Die Aktivitäten sind auf die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeiten und Offenheit ausgerichtet: die Kinder haben Kunstkurse, malen mit Sand und machen Bewegungsspiele.
„Ein Kind ist der Spiegel der Familie. Alles, was in der Familie passiert – Aufregung, Stress – all das zeigt sich im Verhalten eines Kindes“, erklärt sie. Darum gibt es bei der Caritas auch das Eltern-Kind-Programm „8 Schritte, um gute Eltern zu sein“, das in Gruppen durchgeführt wird.
18. Februar 2016 // Patrick Nicholson, Caritas Internationalis
Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja