Die Krim vor der Zerreißprobe?


Die Ukraine nach den Wahlen – eine krimtatarische Perspektive

Von Anja Hotopp & Mieste Hotopp-Riecke / FocusOst

Die ersten Wochen nach dem Wahlsieg des pro-russischen Viktor Janukovitsch von der ´blauen´ Partei der Regionen lassen pessimistische Vorahnungen und real-ukrainische Erfahrungen verblassen: Die russische Armee soll auf der Krim bleiben; Politik für Minderheiten und Kultur bedeutungslos.

Nach dem Amtsantritt von Viktor Janukowitsch erwarteten die Politiker des krimtatarischen Parlamentes „Medschlis“ nichts Gutes. Doch dass mit so geballter Kraft frischer Gegenwind aus Kiew käme, hatte selbst Pessimisten überrascht: Der „Russische Block“ und die „Taurische Union“ – russisch-nationalistische Gruppierungen auf der Krim – verlangten in offenen Schreiben an den neuen Präsidenten die sofortige Auflösung der krimtatarischen ´kriminellen` Institutionen Medschlis und Kurultay. Letzteres ist ein basisdemokratisches Netzwerk-System, in dem krimtatarische Dorf- und Stadträte zusammen geschlossen sind. Dieser Kurultay (tatarisch: Große Versammlung) bestimmt regelmäßig die Abgeordneten des Medschlis, ein uralte tatarische Tradition. Auch zwanzig Jahre nach der massenhaften Rückkehr aus der Stalinschen Deportation sind diese Institutionen der krimtatarischen Bürgerrechtler leider immer noch nicht als Selbstbestimmungsorgane in der Ukraine anerkannt. 1944 wurden die Krimtataren komplett nach Mittelasien, Sibirien und den Ural deportiert, fast die Hälfte des Volkes starb auf dem Transport und in den Deportationsorten an katastrophalen Gesundheits- und Versorgungsbedingungen. Nur ihr zäher Wille und ihr Kurultay-System ließen sie die Sowjetherrschaft überstehen.

Nun befürchtet man das Schlimmste: Nachdem auf der Krim schon seit Jahren Millionen von Rubel in sogenannte NGOs der russischen Militär-Exklave Sewastopol geflossen sind und ähnlich wie in Süd-Ossetien russische Pässe gern vergeben wurden, ist nun der Schwarzmeerflotten-Vertrag erneuert worden. Ende April trafen sich der russische Präsident Medwedew und der frisch gekürte Janukowitsch in Charkow und vereinbarten billigere Gaspreise für die Ukraine. Im Gegenzug sicherte Janukovitsch den Russen `ihre` Bastion Sewastopol bis 2042 zu. Dabei müsste für eine Verlängerung der Präsenz der russischen Marine das ukrainische Grundgesetz geändert werden. Ob sich die ex-orangenen Streithähne der Opposition, die einen Sieg Janukovitschs erst möglich gemacht hatten, dagegen wehren, bleibt abzuwarten.

Wie intensiv die Beziehungen zum ´großen Bruder´ sind, zeigt allein die Frequenz iher Konsultationen: Allein bis Ende April trafen sich ukrainische und russische Spitze sieben Mal. Nun sind eine Fusion der ukrainischen Naftogaz mit Gazprom und ein 500-Millionen-Dollar-Kredit im Gespräch. Russische Scheckbuchpolitik par excellence. Von Seiten großer Teile der ukrainischen Bevölkerung gab es massive Proteste gegen diese „Kuhhandel“. Auch Ali Khamsin, Außenreferent des krimtatarischen Medschlis, äußerte sich sehr besorgt ob dieser Ereignisse: „Die Ratifizierung des Charkow-Abkommens könnte einen Bomben-Mechanismus auslösen, ähnlich Süd-Ossetien“. Auch der führende Intellektuelle Mykola Rjabtschuk warnt, daß der „raue, unkultivierte, autokratische Mann“ Janukovitsch und seine „blaue Koalition” weitaus monolithischer und skrupelloser sei, als es die „orange Koalition” je war. Das neue Team versuche, das System, welches sie in der Donezker Region schon vor geraumer Zeit mit viel Geld etabliert haben, auf die gesamte Ukraine zu transferieren. Sie würden versuchen alle Macht auf sich zu konzentrieren und jeglichen Pluralismus zu eliminieren – sei es im politischen Sektor, im wirtschaftlichen oder im kulturellen und sprachlichen.

Um dieser bedrohlichen Situation, die sich schon im letzten Jahr abzeichnete, etwas entgegenzuhalten, setzen die Krimtataren auf die europäische Öffentlichkeit und suchen Kontakte zur EU. In dem Kontext gab es eine besondere Prämiere: Auf Einladung des litauischen Abgeordneten des Europaparlamentes Leonidas Donskis sprach der Präsident des krimtatarischen Selbstvertretungsorgans „Medschlis“ aus der Ukraine im Europäischen Parlament in Brüssel. Dies bedeutete einen wichtigen Schritt im Bemühen um die Anerkennung der Rechte der Krimtataren.

Doch so wichtig ein solcher Schritt den Bürgerrechtlern um Medschlis-Präsident Dschemilew erscheint, so enttäuschend ist bei solchen Anlässen die Resonanz im hohen Hause Europas: Lediglich zwei Dutzend Menschen fanden den Weg in den Saal, der 150 Leute fasst. Neben einigen Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und dem Repräsentanten des krimtatarischen Weltkongresses in Deutschland, Ahmet Özay, fanden sich keine offiziellen Vertreter der EU-Kommission oder der Fraktionen ein.

Unbeirrt sprach Dschemilew dennoch über die desaströse Situation der tatarischen Bevölkerung auf der Krim, beantwortete geduldig die Fragen der Journalisten: Für 80.000 krimtatarische Schüler stehen nur 14 nationale Schulen zur Verfügung, für die Dörfer der Rückkehrer der früheren russischen Deportation gibt es nur in zähem Ringen mit der örtlichen Administration Bauland oder Wasseranschlüsse. Der zugesagte Bau der Hauptmoschee in Simferopol wird blockiert, Gesetzesinitiativen für die Verbesserung der ökonomischen und politischen Lage der Krimtataren schlummern in Schubladen im Kiewer Parlament, die Arbeitslosigkeit unter den ehemals Deportierten beträgt um die 60 Prozent. Krimtatarisch ist nach wie vor keine offizielle Sprache in ihrer Heimat, der zur Ukraine gehörenden Schwarzmeer-Halbinsel Krim…

Um diese Situation der krimtatarischen Bevölkerung bezüglich ihrer Landrechte, Muttersprache und politischer Repräsentanz zu verbessern, forderte Mustafa Dschemilew in Brüssel, ihr Land, die Ukraine zu unterstützen, um dort Regelungen betreffs die Rehabilitation der Rechte der Krimtataren durchzusetzen.

Dazu zählen:

1. die Schaffung dutzender neuer Schulen und Vorschuleinrichtungen in krimtatarischen Rückkehrer-Siedlungen,

2. die Unterstützung bei der Entwicklung der materiellen und wissenschaftlichen Ausgestaltung der Universität für Ingenieurswissenschaften und Pädagogik der Krim (KIPU) in Simferopol, einer Institution, die für die Ausbildung von Spezialisten unabdingbar ist, die für die Sicherung der krimtatarischen Sprache, Kunst und Kultur arbeiten,

3. Hilfe bei der Restaurierung einzigartigen historischen, architektonischen Erbes der krimtatarischen Kultur,

4. die Mitwirkung bei der Entwicklung der digitalen und Printmedien in krimtatarischer Sprache,

5. die Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen der Rückkehr,

6. die Unterstützung der Rückkehr von über 100.000 Krimtataren, die immer noch gegen ihren Willen in den ehemaligen Deportationsgebieten Zentralasiens ausharren.

Alle diese angesprochenen Probleme gehörten auf eine Agenda der EU-Ukraine-Gremien, so Dschemilew. Einige positive Entwicklungen auf EU-Ebene gibt es bereits: Am 23. Oktober 2008 verabschiedete die EU eine Deklaration, die den Massenhungertod (Holodomor) in der Ukraine der 1930er Jahren als Menschenrechtsverbrechen der Sowjetunion anprangerte. Am 2. April 2009 wurde die Resolution über “Europäisches Bewusstsein und Totalitarismus” verabschiedet.

Viele der heutigen immensen Probleme sind direkte Folge zweier Weltkriege, Nazi-Tyrannei und die anschließende Expansion kommunistischer totalitärer Regime in Osteuropa. Deshalb wünschen sich die Krimtataren eine ähnliche Resolution der EU, die den Genozid an den Krimtataren anerkennt und die Deportation durch das Stalin-Regime verurteilt, um einen Weg zu ebnen, auf dem Reparation und Unterstützung möglich sind.

Das krimtatarische Problem beinhaltet große Lasten aus der Vergangenheit, mit denen vor allem auch Deutschland eng verbunden ist. Mustafa Dschemilew betonte in seiner Brüsseler Rede, dass eine aktivere Politik und spezielle Programme zusammen mit der Ukraine nötig sind, um diesem kleinen europäischen Volk den Weg in die Zukunft zu ermöglichen und ein Auslöschen der sprachlichen und kulturellen Identität zu verhindern.

Nach seinem Aufenthalt in Belgien besuchte Dschemilew die Diaspora-Gemeinden der Krimtataren in Deutschland, bevor er in der krimtatarischen Hauptstadt Aqmescit (Simferopol), zum Besuch des deutschen Botschafters Dr. Hans-Jürgen Heimsoeth aus Kiew reiste. Hier appellierte Dschemilew erneut an die europäische und insbesondere deutsche Verantwortung für die historisch engen krimtatarisch-europäischen Beziehungen – im Guten wie im Bösen. Durch die teils gewaltsame Rekrutierung krimtatarischer Männer für Wehrmachtsverbände fand das Stalin-Regime einen Vorwand, 1944 das gesamte Volk zu deportieren. Beim Abzug der deutschen Truppen wurden über 120 krimtatarische Dörfer zerstört.

Reparationsleistungen blieben aus, denn als Opfergruppe waren die Krimtataren kaum wahrnehmbar. Auch die Botschafter Kanadas, der Türkei und der USA sowie etlicher NGOs waren in den letzten Monaten im Medschlis zu Gast. Jede Möglichkeit wird genutzt, um kleine und mittlere Projekte für Bildung und Infrastruktur zu etablieren.

Um die immensen Probleme öffentlich zu machen, werden noch viele Gespräche – auch vor halbleeren Sälen – nötig sein. Auf diesem Wege zeigt Mustafa Dschemilew eine unglaubliche Geduld und Zähigkeit, ohne sich in Anklagen zu versteigen. Nach dem Wahlsieg der „Partei der Regionen“ in der Ukraine, die sich bisher nicht durch solidarische Gesten gegenüber krimtatarischen Ansinnen ausgezeichnet haben, erwartet man nicht viel. Denn selbst den ihnen gegenüber wohl gesonnenen Kräften der „Orangenen Revolution“ ist es nicht gelungen substanziell etwas zum Guten zu wenden. Die „Orangenen“ um Staatspräsident Juschtschenko und die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko sind heillos zerstritten, krimtatarische Probleme ein Nebenschauplatz.

So werden eigene bilaterale Beziehungen auf mittlerer Ebene zu Institutionen der EU-Mitgliedsländer weiterhin eines der wichtigsten Mittel sein, um etwas für dieses kleine Mitglied der europäischen Völkerfamilie zu erreichen. Ein weiterer Schritt auf diesem Weg kann die Nominierung Dschemilews als Kandidat für den Friedens-Nobel-Preis sein, der vom letztjährig gegründeten Weltkongress der Krimtataren angeregt wurde. Nach einem vereitelten Attentat auf Dschemilew und den Mufti der Krim Emirali Ablayev im Oktober 2009 scheint internationale Anerkennung für den um Ausgleich und Gerechtigkeit kämpfenden Mann auch bitter nötig. Umso länger die Bemühungen des krimtatarischen Medschlis wenig Erfolg haben, desto leichter wird es auch für extremistische Kräfte auf der Krim werden, Fuß zu fassen.

Die Kandidatur für den Friedens-Nobel-Preis soll eine Ehrung für Dschemilews unermüdlichen gewaltlosen Kampf für die Bürgerrechte der Krimtataren sein und wird von vielen Nichtregierungsorganisationen wie der UNPO, der FUEV und der GfbV unterstützt.

Anja Hotopp & Mieste Hotopp-Riecke / FocusOst

Zum Besuch in Brüssel, 18.03.2010

Zum Treffen mit dem deutschen Botschafter, 24.03.2010

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