Das Lockdown-Jahr oder warum „Golos“ als Ersatz-„Europäische Solidarität“ wahrgenommen wird


Der erste Jahrestag der Se[lenskij]-Präsidentschaft rückt näher [der erste Jahrestag der Amtseinführung von Selenskij war am 20. Mai, A.d.R.].

Aber man hat sich beeilt und schon im April, zum Jahrestag seiner Wahl, Wladimir Alexandrowitschs Zeit an der Macht bewertet, und jetzt fällt es schwer, den Expertenurteilen noch irgendetwas hinzuzufügen. Höchstens die aktuellen Zahlen vom KMIS (Internationales Institut für Soziologie Kiew), die belegen, dass Selenskij [ukrainisch Wolodymyr Selenskyj] weiterhin mit großem Abstand der Sympathieträger der Wähler bleibt.

Und das wahrscheinlich nicht, weil der frühere Showman sich auf dem Präsidentenstuhl so gut geschlagen hat, sondern eher, weil am Horizont weiter keine wirkliche Alternative zu Selenskij in Sicht ist.

Im Frühjahr 2020 kam bei uns das klangvolle Wort „Lockdown“ in Gebrauch. Wir mussten uns mit einer neuen Realität abfinden, in der die Grenzen geschlossen sind, die Menschen zu Hause sitzen und jede Art von Bewegung auf ein Minimum reduziert ist.

Aber lange davor hat die Ukraine ihren ganz eigenen gesellschaftspolitischen Lockdown erlebt.

Wir schlossen uns in Wohnungen unserer Wahl ein, praktizierten Selbstisolation im Kreise Gleichgesinnter und verlassen bis heute kaum die eigenen Positionen.

Das ganze Jahr über hat sich das Land nicht von der Logik der Präsidentschaftswahlen 2019 gelöst. Αn der Einteilung in Sieger und Verlierer hat die Niederlage im vergangenen Frühling nichts geändert.

Das Land ist weiterhin Sklavin derselben unvereinbaren Ansichten und Gefühle. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass vor einem Jahr die Verlierer zumindest theoretisch auf eine Richtungsänderung der nationalen Stimmungen und auf eine Wahlrevanche hoffen konnten.

Diese Hoffnung ging mit einer scharfen Verschlechterung der sozialökonomischen Situation einher. Mit Umständen, die die Bürger dazu bringen, ihren Lebensstandard unter Poroschenko und unter Selenskij miteinander zu vergleichen.

Das Geld im eigenen Geldbeutel und das Lebensmittelsortiment im eigenen Kühlschrank zu prüfen. Dabei wird jedem klar, was für einen Fehler man im Frühjahr 2019 begangen hat. Wer Augen hat, der sehe!

Pjotr Poroschenkos [ukrainisch Petro Poroschenko] Anhänger erwarteten eine Krise. Eine Krise, die zu einem Moment der Wahrheit werden sollte. Aber das Schicksal spielte ihnen einen selten üblen Streich.

Einerseits kam wirklich eine Krise und traf den kleinen Ukrainer sogar noch stärker als erwartet.

Andererseits aber machte gerade diese Krise es unmöglich, Präsident Se und seinen Vorgänger miteinander zu vergleichen, da der frühere Garant so wie alle Menschen auf der ganzen Welt nicht mit etwas Vergleichbarem zu tun gehabt hatte.

Die Wasserscheide zwischen den beiden Präsidenten ist, wie sich herausstellte, versalzen durch eine Katastrophe weltweiten Ausmaßes. Und im Bewusstsein der Menschen wird der Vergleich von 2019 mit 2020 nicht mehr als „das Leben unter Poroschenko und das Leben unter Selenskij“, sondern als „das Leben vor und das Leben nach Corona“ aufgefasst.

Der Bürger, dem die neuesten Veränderungen nicht gefallen, wird nicht rufen: „Gebt uns Pjotr Alexejewitsch zurück!“ Er wird etwas anderes fordern: „Gebt uns unsere frühere Welt ohne Abstandhalten und Quarantäne zurück!“

Von nun an kann man jeden negativen Aspekt im Leben in der Ukraine als Folge der Pandemie deklarieren. Und dem Volk zu beweisen, dass PAP [Pjotr Alexejewitsch Poroschenko] effektiver mit ihr umgegangen wäre als WAS [Wladimir Alexandrowitsch Selenskij], ist unmöglich: Hypothetische Konstruktionen scheitern am realen Anti-Rating des früheren Staatsoberhaupts.

Die Anhänger des fünften Präsidenten können sich nach Belieben am Bewusstsein berauschen, dass sie recht haben. Aber sie werden es nicht schaffen, die breite Masse ihrer Landsleute von ihrer richtigen Position zu überzeugen, das ist jetzt schon ziemlich sicher.

Bleibt nur, einander zu überzeugen, indem man sich in einer Facebook-Informationsblase selbstisoliert…

Daten des KMIS zufolge würden heute 15 Prozent der Bürger, die sich festgelegt haben, für Pjotr Poroschenko stimmen, also genauso viele, wie in der ersten Runde der Wahlen im vergangenen Jahr.

Der Ex-Präsident hat eine stabile Oppositionsnische eingenommen, die es ihm aber leider nicht ermöglicht, sich weiterzubewegen und mehr zu erreichen. Eine Alternative zum jetzigen Garanten wurde der Anführer der „Eurosolidarität“ [Europäische Solidarität, aktuelles Parteiprojekt von Poroschenko. Die Abkürzung ES ist im Ukrainischen und Russischen gleich der Abkürzung für die Europäische Union. A.d.R.] nicht und wird es auch nicht werden.

Selbst wenn die Enttäuschung über Selenskij deutlich steigen würde, könnte Pjotr Alexejewitsch wohl kaum davon profitieren.

Unterdessen konsolidiert sich das bedingt patriotische Lager weiter um den Ex-Präsidenten, wodurch es wissentlich die eigenen Möglichkeiten begrenzt.

Für die Treue zur Entscheidung, die man vor einem Jahr getroffen hat, bezahlt man mit den eigenen Perspektiven. Da sie sich an die frühere Führungsebene gebunden haben, sind die Patrioten nicht in der Lage, eine gemeinsame Sprache mit den gestrigen Se-Wählern oder wenigstens mit einem näherstehenden Publikum zu finden.

Das Rezept, wie man aus dieser Situation herauskommt, ist eigentlich klar: auf frische Gesichter, frische Messages, frische Projekte setzen. Eine neue starke Kraft bilden, die potenziell sowohl für den aktiven Teil der Gesellschaft als auch für die von Selenskij enttäuschten Bürger attraktiv ist.

All das war schon im vergangenen Frühjahr offensichtlich. Der erste Versuch, aus dem Lockdown herauszukommen, endete allerdings in einem Fiasko.

Das Schicksal der vielversprechenden Partei „Golos“ [ukrainisch Holos, in beiden Sprachen Stimme. Parteiprojekt um den Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk der Band Okean Elzy, A.d.R.] wurde eine der größten Enttäuschungen des letzten Jahres. Es zeigte sich, dass ein Schlag gegen die existierende politische Konstellation nur dem Anschein nach leicht und locker zu führen ist.

Es reicht nicht, sein Projekt als Alternative zu den neuen Machthabern und der alten Opposition zu betrachten – man muss auch wie eine solche Alternative aussehen. Wakartschuk und sein Team haben das offensichtlich nicht geschafft.

Die Trümpfe, mit denen der Sänger Swjatoslaw Iwanowitsch sich an die Wählerschaft wandte, hatte der Schauspieler Wladimir Alexandrowitsch schon gespielt, und so sah der Anführer von „Golos“ in den Augen der Bürger wie ein Ersatz-Selenskij aus.

Und die Agenda, die Wakartschuks Mitkämpfer nach den Parlamentswahlen verfolgen wollten, stimmte fast vollständig mit der Agenda der „Europäischen Solidarität“ überein, und die neue Partei wurde als Ersatz-„ES“ wahrgenommen.

Aber welchen Sinn hat es, zum Ersatz zu greifen, wenn man das Original zur Hand hat? Warum „Adibas“ kaufen, wenn „Adidas“ zu haben ist?

Im Laufe des Jahres hat „Golos“ die früheren Poroschenkowähler verloren, die sich einem neuen Projekt zugewandt hatten, aber danach zurückgekehrt waren. Und die Partei konnte nicht die früheren Selenskijwähler gewinnen, die sich nicht für eine kleinere Kopie von „Eurosolidarität“ interessieren.

Der Misserfolg von „Golos“ weckt unweigerlich Zweifel: Lohnt es sich überhaupt, sich mit einem neuen Phänomen und einer Alternative zu verbinden? Ist es nicht besser, sich mit dem zu arrangieren, was es schon gibt?

Es ist einfacher, sich an eine existierende Matrize anzupassen, als zu versuchen, sie aufzubrechen.

Die eigene beschränkte Nische ist bequemer als die Jagd nach fremden Wählern. Sich in geschlossenen Gesellschaften zu bewegen ist komfortabler, als aufeinander zuzugehen. Und während sich die Menschheit jetzt schon langsam vom harten Lockdown von 2020 verabschiedet, ist ein Ausweg aus dem politischen ukrainischen Lockdown noch nicht in Sicht.

16. Mai 2020 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

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