Die "Lukaschenkoisierung" der Ukraine


In dieser Woche haben zwei Nachbarstaaten erneut die gesamte Welt schockiert. In der Ukraine wurde eine führende Persönlichkeit der Opposition – Jurij Luzenko – zu vier Jahren Haft verurteilt. Und in Weißrussland hat die Regierung innerhalb von vierundzwanzig Stunden zwei Botschafter des Landes verwiesen: den Botschafter Polens und der EU.

Die weißrussische Führungsspitze hatte ebenfalls damit begonnen, oppositionelle Politiker hinter Gitter zu bringen – und nichts kann diese Entwicklung bremsen. Gegen die Regierung Lukaschenko wurden bereits Sanktionen verhängt, insbesondere Vermögenssperren und Einreiseverbote nach Europa und Amerika für diejenigen, die als persona non grata gelten. Die diplomatische Equipe, die in der Ukraine tätig ist, hat gerade erst begonnen, solche Listen zu erarbeiten. Eingang in die „schwarze Liste” finden vor allem Richter und Führungsspitzen von Sicherheitskräften. Diese „schwarze Liste“ wird vorerst unentwegt aktualisiert und kann ein ernstes Problem für die heutige Regierung werden. Aber aus welchem Grund nahm das alles seinen Lauf? Politischer Rache wegen und infolge unbedachter Phrasendrescherei. Während das Image der Ukraine und das Schicksal des ukrainischen Volkes in den Wind geschossen werden.

In dieser Woche hat der EU-Botschafter José Manuel Pinto Teixeira erklärt, dass der ukrainische Präsident seinen gegenüber der EU eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich der Verbesserung des Investitionsklimas und der Korruptionsbekämpfung nicht nachkomme. Das offizielle Kiew reagierte darauf, indem es erklärte, dass das, was der EU-Botschafter gesagt habe, nicht richtig und alles sowieso anders sei. Wissen Sie, “im Außenministerium der Ukraine werden mit wachsender Verwunderung die Aussagen des EU-Botschafters José Manuel Pinto Teixeira verfolgt, die von Monat zu Monat weniger dem entsprechen, was sich ein Diplomat im Rahmen internationaler Beziehungen üblicherweise erlauben kann”.

“Wir würden mit Gleichmut und sogar mit Freude die “Ukrainisierung” des Herrn Teixeira verfolgen, wenn seine politischen Bewertungen und Beurteilungen von den ukrainischen Bürgern sowie den Massenmedien als seine eigene Meinung wahrgenommen würden, und nicht als offizielle Position von 27 Ländern – den Mitgliedern der Europäischen Union”, resümierte man im Außenministerium.

Die EU reagierte augenblicklich, indem sie die Unterstützung ihres Botschafters zum Ausdruck brachte und die Erklärungen des Außenministeriums als unbegründete Angriffe auf den menschlichen Anstand und die Professionalität bezeichnete.

Das erinnert mich daran, wie ich, kaum in Minsk angekommen, als Botschafter der Ukraine im Rahmen der Vorbereitung des Tages der Erklärung der Staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine weißrussische Gäste zum Festempfang geladen hatte, unter denen sich bezeichnenderweise auch offensichtlich Stanislaw Schuschkewitsch, der Vorsitzende des Obersten Rates der Republik Weißrussland von 1991 bis 1994, befand. Es vergingen lediglich einige Tage und ich wurde ins Außenministeriums der Republik Weißrussland geladen, wo mir 30 Minuten lang zu verstehen gegeben wurde, dass ich solche Politiker nicht einzuladen und mit diesen nicht zu reden habe.

Vor mir saß ein junger Mensch, der im monotonen Ton sprach. Er rang nach Worten, mühte sich ab und errötete angesichts der eigenen Formulierungen. Für Minuten tat er mir leid … Nachdem er seine Rede beendet hatte, fragte er, ob ich meinerseits Fragen hätte. Was sollte ich sagen? Dass die Interessen meines Landes, internationale Konventionen mich verpflichteten, die politische Situation zu überwachen, mich mit Vertretern unterschiedlicher Lager, politischer und gesellschaftlicher Verbände zu treffen? Er wusste dies auch ohne meine Hilfe… Und ich antwortete ihm mit einem Lächeln: “Möglicherweise können Sie mir erklären, in welchem Teil des weißrussischen Territoriums die internationalen Konventionen, die die Tätigkeit einer diplomatischen Equipe regeln, gelten und in welchen nicht, und dabei können Sie gleich eine Liste der Personen beifügen, mit welchen der Botschafter der Ukraine reden darf und mit welchen er in Weißrussland kein Recht hat, Kontakte zu pflegen?” Hiermit war das Gespräch beendet …

Später habe ich erfahren, dass die Botschafter der EU-Staaten für derartige Gespräche nicht selten einmal pro Woche in das Außenministerium geladen und mit dem Status der persona non grata bedroht werden. Das gesamte Minsker Establishment brummte vor Vermutungen, wer als Erstes des weißrussischen Landes verwiesen würde. Offensichtlich nahm der bescheidene Autor dieses Textes sehr schnell in dieser Rangliste die Tabellenspitze eingenommen und bis zum Ende seiner Amtszeit diese auch inne gehalten.

Ich erinnere mich an diese Strapazen, weil sie zeitlich merkwürdig zusammenfielen … Und warum merkwürdig? Bezeichnenderweise fielen zwei Ereignisse in der Ukraine und Weißrussland zusammen. In der Ukraine die Veröffentlichung der Beschwerden gegen Botschafter Teixeira, und in Weißrussland die Ausweisung zweier Diplomaten: des Botschafters Polens, Leszek Szarepka, und der EU-Gesandtin in Weißrussland, Maira Mora.

Durch die Handlungen des russischen Bruders in die Ecke getrieben, fiel dem letzten Diktator Europas Lukaschenko keine andere Möglichkeit ein, sich in Erinnerung zu bringen, als die Ausweisung von Diplomaten. Was treibt Lukaschenko dazu, so zu handeln, während in seinem Umfeld über das Ende der Krise, über eine Erlösung durch die Zollunion gesprochen wird? Aber die Erlösung stellte sich als regelrechter Bluff heraus. Die Wirtschaft bricht zusammen, die Verbündeten sammeln ihre letzten wirtschaftlichen Besitztümer ein – Erdölraffinerien, Gasleitungen. Man hat bereits begonnen, über eine mögliche Privatisierung der Autohersteller BelAs, Mas, des Eisenhüttenkombinats zu sprechen …

Bezeichnenderweise erinnert sich Lukaschenko in diesem Moment an die fünf Jahre dauernde Affäre, als die EU für die Wiederaufnahme des Dialogs, oder genauer gesagt, für die Befreiung der politischen Gefangenen Alexander Kosulin, Michail Marinitsch und andere einen Kredit für insgesamt fast 5 Mrd. US-Dollar gewährte. Warum derartiges nicht auch jetzt probieren? Nur hat sich in die Rechnung ein Fehler eingeschlichen: zu der damaligen Zeit begann Europa mit seiner Realpolitik, aber mittlerweile hat er (der Westen) Abstand von dieser genommen. Konsequenterweise wurde allen Botschaftern der EU-Länder empfohlen, Weißrussland zu verlassen.

Ich schließe nicht aus, dass Präsident Janukowitsch – genauso wie Lukaschenko seinerzeit beim Westen Hilfen aushandelte, indem er politische Gefangene schikanierte – für die Möglichkeit eines Dialogs mit dem Westen die Verfolgung von Julia Timoschenko und Jurij Luzenko initiierte. Wozu über Reformen nachdenken, wenn es leichter ist, zum erneuten Male zuzusichern, das Problem der politischen Gefangenen für den Westen zu lösen, und den Ukrainern zu illustrieren: schaut, mit mir kommunizieren sie, das heißt, sie erkennen mich an.

Parallel zum „diplomatischen Krieg” bemühen sich schlaue Köpfe, suchen nach Formulierungen, mit welchen die Völker in unseren Ländern gewärmt und gefüttert werden können, während sich nach altbewährtem Schema Privatisierungsprozesse vollziehen. Dies alles wird als Rettung, als allgemeines Wohl dargestellt. Mit einem Unterschied: Lukaschenko verkauft alles an benachbarte Oligarchen, Janukowitsch jedoch an die eigenen. Nun, wen interessiert es herauszufinden, wer wie “Sapadenergo”, “Winnizaoblenergo”, “Beltransgas” und die Aktien der Mosyrsker Ölraffinerie gekauft hat, während gleichzeitig zwar kein “Gas-” so doch ein “Käsekrieg” geführt wird und in den Nachrichten Berichte aus der Serie “Oppositionelle weinen auch” gezeigt werden?

Indes sitzen die Präsidentschaftskandidaten Andrej Sannikow und Nikolaj Statkewitsch in Weißrussland im Gefängnis und in der Ukraine die Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko. Nein, das sind keine Opfer der Regierung. Das sind Köder der Regierungen für den Westen. Nun, der demokratische Westen wird die politischen Gefangenen nicht im Stich lassen, er wird Verhandlungen führen, Überzeugungsarbeit leisten, aber danach kann man auch über was anderes reden. Sich beispielsweise eine ruhige Zukunft aushandeln.

Und wie ähneln sich die Verhandlungen und Richter! All diese Prozesse gleichen sich wie Zwillinge. Bedeutung hat weder der Name des Richters, noch des Angeklagten, noch die Paragrafen, und erst recht nicht die Beweismittel. Alles verläuft doch nach dem bewährten Schema des Prozesses gegen Chodorkowski, und vielleicht auch viel früherer Prozesse. Erinnert Sie das nicht an die Prozesse gegen Dreyfus, Beilis, Dimitrow? Das riecht dermaßen übel nach Parallele angesichts der Erinnerungen an diese längst vergangenen Ereignisse. Und wie die Richter die Haftstrafen angepasst haben! Andrej Sannikow sperrte die Regierung Lukaschenko für fünf Jahre hinter Gitter, entsprechend der Amtsdauer des Präsidenten, Julia Timoschenko für sieben Jahre, deckungsgleich mit dem Ende der zweiten Amtszeit.

Natürlich existieren zwischen Weißrussland und der Ukraine auch Unterschiede. Die ukrainische Werchowna Rada, im Volk “Werchowna Srada” (in etwa „Hochverrat“; A.d.Ü.) genannt, hängt über dem Abgrund, in dem das weißrussische Parlament bereits seit langem liegt, das im Volk “palatka” (deutsch: Bretterbude A.d.Ü.) genannt wird. Noch existieren Bereiche im Fernsehen ohne Zensur, insbesondere, TVi in der Ukraine, in Weißrussland “Belsat”, das, richtig, aus dem Ausland sendet. Der gesamte oppositionelle Geist ist in die sozialen Netzwerke umgezogen.

Der Gang der Ereignisse der letzten Woche in beiden Ländern hat einmal mehr den distinktiven Charakter der Völker und die Ähnlichkeit der Regime unterstrichen. Die Ukraine hat sich zwar bislang noch nicht mit dem Bazillus des Autoritarismus angesteckt, aber die ersten Symptome dessen, was in Weißrussland gerade den Höhepunkt erreicht, können wir bereits beobachten. Aber folgendes sollte verstanden werden: der Mechanismus der Beziehungen, den Europa innerhalb von Jahrzehnten in Bezug auf Lukaschenko herausgearbeitet hat, könnte augenblicklich auf das undemokratische Regime der Ukraine angewendet werden. Und man sollte sich unbedingt vergegenwärtigen, dass der Warenumsatz Weißrusslands mit der EU 5 Mrd. US-Dollar beträgt, der der Ukraine 50 Mrd. Die Konsequenzen analoger politischer und ökonomischer Sanktionen gegen die Ukraine würden zu einer Katastrophe führen. Ist es nicht an der Zeit, dass die ukrainischen Führungsspitzen aufhören, die Welt zu reizen?

Bereits nicht schwer fällt es, den Gang der innenpolitischen Ereignisse in der Ukraine vorherzusagen. Die Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage wird einen politischen Konflikt zwischen der Führungsspitze und dem Volk zur Folge haben. Es ist an der Zeit inne zu halten … Eine Pause zu machen, um sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Sollte im Frühjahr diese Entwicklung nicht überwunden werden, wird die Fußballeuropameisterschaft nicht eine Demonstration der Größe der Ukraine, sondern des Zusammenbruchs der Regierung. Man sollte sich vergegenwärtigen, dass das Zusammenfinden von mehr als zehntausend Menschen an einem Ort angesichts des gegenwärtigen Konfliktes zwischen der Regierung und der Gesellschaft zu einer Arena des Kampfes werden könnte. Erinnern Sie sich nur daran, wo zuerst offen gegen die Führungssitzen gerichtete Losungen und Aufrufe erschienen sind. Im Stadion, während eines Fußballspiels.

Sollte das Problem der politischen Gefangenen nicht in den nächsten drei Monaten gelöst sein, wird sich die gegenwärtige Regierung bis zu dem Punkt diskreditieren, an dem sie die Lage während der Euro-2012 nicht mehr kontrollieren kann. Zusätzlich könnte der Europäische Gerichtshof in dieser Zeit verhandeln und die ukrainische Führung wegen der Verfassungswidrigkeit der Urteile zu beiden führenden Persönlichkeiten der Opposition anmahnen.

Am allerwenigsten wollte ich, dass in einigen Jahren die Vertreter der Regierung Janukowitsch auf der Anklagebank zu sehen sind. Der schlechteste Berater in der Politik ist der Wunsch nach Rache. Haltet inne!

2. März 2012 // Roman Bessmertnyj, von Februar 2010 bis Juni 2011 war Botschafter der Ukraine in Weißrussland.

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzerin:    — Wörter: 1741

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