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Janukovyčs Machtübernahme in der Ukraine – autoritäre Restauration oder staatliche Rekonstruktion ?

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I. Die „Machtergreifung“

Der „Wille zur Macht“ des Viktor Janukovyč

Die (Wieder-)Annäherung der Ukraine an Russland war von dem als „pro-russisch“ geltenden Präsidentschaftskandidaten Janukovyč im Wahlkampf angekündigt – und von dem gewählten neuen Präsidenten nicht anders erwartet worden. Überraschend war die Geschwindigkeit, mit welcher der neue Präsident Janukovyč nach seinem knappen Wahlsieg – er erhielt mit 49 Prozent nicht einmal die absolute Mehrheit1 – die ganze Macht im Staate an sich riss. Die mit seiner reibungslosen Machtübernahme verbundene Hoffnung auf politische Stabilität in der Ukraine wandelte sich in den europäischen Institutionen in (diplomatische) „Besorgnis“ über die Aushöhlung der Demokratie in der Ukraine.

„Durchsetzungskraft“ zeichnete Viktor Janukovyč aus, als er dem Montan-Magnaten des Donbass, Rinat Achmetov, in den (nach dessen eigenen Worten) „informalen Zeiten“ nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus bei dessen Aufstieg an die Spitze der ukrainischen „Oligarchie“ diente. Seine „Effektivität“ war es, derentwegen Präsident Kučma ihn zunächst zum Gouverneur der Oblast’ Doneck, und danach zum Premierminister ernannte. Als dem diskreditierten Autokraten Kučma am Ende seiner zweiten Amtszeit juristisches Ungemach drohte, erkor er seinen „verlässlichen“ Premierminister Janukovyč zu seinem Nachfolger. Durch die Orangene Revolution wurde ihm der Wahlsieg „gestohlen“, wie Janukovyč noch heute behauptet. Ohne Zweifel suchte er im Jahre 2010 Revanche für die Schmach des Jahres 2004; der Verlierer von 2004 war fest entschlossen, „dieses Mal“ mit allen Mitteln in die „Bankova“ (Sitz der Präsidialadministration) einzuziehen. Zur Verhinderung eines „zweiten Majdan“ ließ der Präsidentschaftskandidat Janukovyč prophylaktisch sportliche junge Kumpel aus dem Montanrevier Donbass auf dem Platz vor dem Gebäude der Zentralen Wahlkommission (ZWK) und auf der Straße vor dem Obersten Verwaltungsgericht2 Stellung beziehen, „um seinen Wahlsieg zu sichern“, noch bevor dieser rechtskräftig bestätigt worden war.

In den Jahren der Opposition, in denen sich Janukovyč auf seinen zweiten Griff nach der Präsidentschaft vorbereitete, habe er sich „geändert“, beteuerten seine Propagandisten im Wahlkampf. Gewandelt habe er sich nur äußerlich unter den Händen seiner amerikanischen PR-Stylisten,3 behaupteten seine politischen Gegner. Und in der Tat kam nach der Wahl sein autoritärer Charakter sofort wieder zum Vorschein. Ein bislang unbekannter Zug an Janukovyč, den wohl seine amerikanischen Polit-Technologen mit ihm eingeübt haben, ist „hypocrisy“: „Freie Medien sind das Fundament der Demokratie“, versichert er unglaubhaft. „Ich glaube an die Unumkehrbarkeit der demokratischen Wahl der Ukraine, ich glaube an die Freiheit und an die Gerechtigkeit in unserem Staate…“, versicherte er einem europäischen Auditorium in Jalta.4

Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 9. März

Die Präsidentschaftswahlen sind losgelöst von den Parlamentswahlen, d. h., die Wahl eines neuen Präsidenten im Februar 2010 berührte nicht die personale Zusammensetzung des im Jahre 2007 gewählten Parlaments, dessen reguläre Legislaturperiode im Jahre 2012 ausläuft. Die im Jahre 2008 vom Parlament gewählte Regierung der Premierministerin Julija Tymošenko blieb auch nach Janukovyčs Wahl zum Präsidenten durch das Volk im Amt, und die drei Fraktionen des Blocks Julija Tymošenko (BJuT), des Wahlbündnisses Naša Ukraiïna – Narodna Samooborona (NU-NS / Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes) sowie des Blocks Lytvyn (BL) bildeten formal weiterhin die „Regierungskoalition“, und die Partei der Regionen des neu gewählten Präsidenten Janukovyč war weiterhin – formal – in der Opposition.

Voraussetzung für die Herstellung einer „effektiven Regierung“, wie Janukovyč sie als sein Ziel verkündete, war die „Gleichschaltung“ der exekutiven Doppelspitze, d. h., der Präsidialadministration und der „Regierung“ (Premierminister und Ministerkabinett) einerseits – und der Legislative mit dieser „unifizierten“ Exekutive andererseits. Zu diesem Zweck musste Präsident Janukovyč die Verchovna Rada unter seine Kontrolle bringen; operativ bedeutete dies die Bildung einer „pro-präsidentialen“ Mehrheit im Parlament, die einen „kooperativen“ Premierminister wählen würde. Die Fraktion der Partei der Regionen des neuen Präsidenten verfügte mit 172 Mandaten zwar über die meisten Stimmen im Parlament, doch auch mit den 27 Stimmen der Fraktion der Kommunistischen Partei, die mit der „kapitalistischen“ PR zu koalieren bereit war, sowie den 20 Stimmen der wechselwilligen Fraktion des Blocks Lytvyn kam die von Präsident Janukovyč angestrebte neue Regierungskoalition nur auf 219 Stimmen, 7 weniger als die absolute Mehrheit von 226 (von insgesamt 450) Stimmen. Für die Abwahl der Regierung von Julija Tymošenko genügten zwar die Stimmen von einer Hand voll abtrünniger Mitglieder ihrer so genannten „demokratischen Koalition“;5 doch der Bildung einer neuen Regierungskoalition mit Hilfe opportunistischer Überläufer stand ein Verbot der Verfassung und des Gesetzes über die Geschäftsordnung des Parlaments entgegen, das in seiner damaligen Fassung besagte, dass eine Regierungskoalition nur von Fraktionen als ganzen, nicht von einzelnen Abgeordneten gebildet werden kann.

Eine opportunistische Minderheit der vielfach fragmentierten NU-NS Fraktion6 – eines nunmehr koalitionspolitisch wertvollen Scherbenhaufens aus 11 Parteien und Gruppierungen – betrieb vergebens den Seitenwechsel; auch den Unterhändlern der Partei der Regionen gelang es nicht, in „persönlichen Verhandlungen“ die ganze NU-NS Fraktion auf ihre Seite zu ziehen. Angesichts der Aussichtslosigkeit dieser Bemühungen entschloss sich die Partei der Regionen des Präsidenten Janukovyč zu einem „parlamentarischen Staatsstreich“: Um potenziellen Überläufern aus den Fraktionen NU-NS und BJuT den Weg in eine neue Regierungskoalition zu ebnen, verabschiedete die Verchovna Rada am 9. März 2010 mit den Stimmen von 14 abgeworbenen Mitgliedern der Fraktionen NU-NS und BJuT eine Änderung des Artikels 61 des „Gesetzes über die Geschäftsordnung der Werchowna Rada“; der Artikel wurde dahin gehend geändert, dass eine individuelle Mitgliedschaft von Abgeordneten in einer Regierungskoalition zulässig wurde.7 Präsident Janukovyč setzte mit seiner Unterschrift das novellierte Gesetz, das ihn „ermächtigte“, eine „pro-präsidentiale“ Regierungskoalition im Parlament zu bilden, ohne weitere Zeit zu verlieren in Kraft. Er rechtfertigte den „konstitutionellen coup d’état“ (so der spätere Vizepremierminister Serhij Tihipko) mit der Notwendigkeit, „politische Stabilität“ wiederherzustellen und eine „effektive Regierung“ zu bilden. Das Verfassungsgericht, an das sowohl Vertreter der Fraktionen NU-NS und BJuT wie auch der Partei der Regionen appellierten, legalisierte in der Folge willfährig den Bruch der Verfassung (siehe unten).

Am 11. März 2010 verkündete Parlamentspräsident Lytvyn die offizielle Formierung einer neuen Regierungskoalition namens „Stabilität und Reformen“ mit insgesamt 235 Mitgliedern, bestehend aus den Fraktionen der Partei der Regionen, der Kommunistischen Partei und des Blocks Lytwyn – sowie aus „individuellen“ Deputierten, unter ihnen 12 Überläufer aus den Fraktionen NU-NS und BJuT.8 Das noch kommissarisch amtierende Kabinett Tymošenko wurde von der neuen parlamentarischen Mehrheit entlassen und Mykola Azarov, der von Präsident Janukovyč für dieses Amt designierte Kandidat, zum neuen Premierminister gewählt.

„Gleichschaltung“ der Judikative

Die „Justizreform“ – politische Subordination der Richter

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Das ukrainische Justizsystem hat sich als besonders reform-resistent erwiesen. Auch nach der Orangenen Revolution blieb die politische „Rechtsprechung“ ein Instrument in der Hand der neuen, „demokratischen“ Machthaber, genauer gesagt, teils in der Hand des Präsidenten Juščenko, teils in der Hand der Premierministerin Tymošenko. Und selbst der oppositionellen Partei der Regionen gelang es, im Verfassungsgericht und im Obersten Verwaltungsgericht „ihre“ Richter zu platzieren. Keine Seite war an der Unabhängigkeit der Justiz interessiert. Die Staatsanwaltschaft der unabhängigen Ukraine hat noch immer die Kompetenzen der sowjetischen „Prokuratura“. Der „demokratische“ Präsident Juščenko versäumte es, ihre Befugnisse auf die Funktionen in einem demokratischen Rechtsstaat zu reduzieren. Nach dem Machtwechsel „kontrolliert“ die Partei der Regionen, d. h., der Präsident Janukovyč die (politische) Justiz der Ukraine; der Oberste Justiz-Rat, mittels dessen Richter „diszipliniert“ werden können,9 und die Generalstaatsanwaltschaft sind de facto Organe der Exekutive.

Das am 27. Juli 2010 in Kraft getretene Gesetz (Nr. 2453-VI) zur Reform der Justiz10 mit dem Titel „Gesetz über die Struktur des Justizsystems und den Status der Richter“ ist eher geeignet, die politische Abhängigkeit von Richtern zu festigen, als das erklärte Ziel, nämlich die Bekämpfung der systemischen Korruption in der Justiz, zu erreichen.11 Dieses „Gerichtsverfassungsgesetz“ sieht die personelle Erweiterung des – 20 Mitglieder umfassenden – „Obersten Justiz-Rates“ vor, in welchem bereits eine „pro-präsidentiale“ Mehrheit herrscht. Vorsitzender des Rates ist Serhij Kyvalov, der als Präsident der Zentralen Wahlkommission die Fälschung der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 zugunsten des „offiziellen“ Präsidentschaftskandidaten Janukovyč deckte.

Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht („Venedig-Kommission“) des Europa-Rates äußerte sich „enttäuscht“ darüber, dass dieses Gesetz in Kraft gesetzt wurde, ohne dessen endgültige Beurteilung durch die Kommission, die für die Versammlung am 15. und 16. Oktober 2010 vorgesehen war, abzuwarten. Dieser Umstand „ruft ernste Zweifel an der Bereitschaft der Verchovna Rada und der Regierung zur Zusammenarbeit mit dem Europa-Rat bei der Schaffung eines wirklich unabhängigen Justizsystems hervor…“.12

„Problematisch“ ist nach Aussage des Vizepräsidenten der Venedig Kommission, Thomas Markert, die Schaffung eines – neben dem Obersten Gericht bestehenden – parallelen „Obersten ‘Spezialisierten’ Gerichts“ als letzte Instanz für strafrechtliche und zivile Fälle.13 Das politische Motiv für die Marginalisierung des „Obersten Gerichts der Ukraine “ ist offenkundig: Dessen Präsident Vasyl Onopenko war bis zu seiner Berufung in dieses Amt Mitglied der Fraktion des Blocks Julija Tymošenko.14 Tymošenko nannte das von der Regierung Azarov vorgelegte Projekt einer Justizreform denn auch den Versuch der „Usurpation der Judikative durch den Präsidenten der Ukraine“. Nicht nur die politische Opposition befürchtet, dass die Justiz de facto zu einer Abteilung der Präsidialadministration entartet.

Das Verfassungsgericht – Anwalt der Macht

Die politische Abhängigkeit des Verfassungsgerichts wurde durch seine jüngsten Urteile bestätigt. Im April 2010 hatte es hatte über Eingaben von Abgeordneten sowohl der Opposition wie auch der Regierungskoalition bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des Eintritts einzelner, „fraktionsloser“ Mitglieder des Parlaments in eine Regierungskoalition,15 konkret über die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regierungskoalition „Stabilität und Reformen“ zu entscheiden. Von den 18 Verfassungsrichtern stimmten 11 zugunsten des Präsidenten Janukowitsch. Diese Entscheidung widerspricht einem Urteil desselben Gerichts in derselben Sache aus dem Jahre 2008, in welchem die Verfassungsrichter ausführten, dass eine (regierende) Koalition nicht mit individuellen Mitgliedern des Parlaments „komplettiert“ werden darf. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Andrij Stryšak, rechtfertigte die Entscheidung mit einem haarsträubenden – unverblümt politischen – Argument: Unter den gegenwärtigen Bedingungen „gaben wir die einzig korrekte Interpretation der Lage“.

Stryšak gab auf einer Pressekonferenz zu, dass sich das Gericht nicht nur von rechtlichen Normen leiten ließ: „Das Verfassungsgericht erwog die Lage nicht nur als einen verfassungsrechtlichen Konflikt; es entschied unter Berücksichtigung der Wirklichkeit unseres Lebens, die nicht immer in Büchern und Gesetzen gefunden werden kann.“

Am 12. Juli wählte das Verfassungsgericht turnusmäßig – und „unter Berücksichtigung der Wirklichkeit unseres Lebens“ – den von der Präsidialadministration favorisierten und aus der Oblast’ Doneck stammenden Juristen Anatolij Holovin, der seine Karriere im sowjetischen KGB und in der post-sowjetischen SBU machte, mit 14 von 18 Stimmen zu seinem neuen Vorsitzenden.

Der „konstitutionelle Coup“ vom 1. Oktober: „Alle Macht“ dem Präsidenten !

Nach der Orangenen Revolution hatte sich die – elektorale – Demokratie in der Ukraine etabliert – sicher nicht deshalb, weil die ukrainischen Politiker demokratische Normen internalisiert hätten, sondern wegen des Gleichgewichts zwischen den „national-demokratischen“ (ehemals „orangenen“) Kräften und der Partei der Regionen, dem Sammelbecken der „konterrevolutionären“ Kräfte. Seit dem Machtwechsel im Februar 2010 existiert diese Balance nicht mehr: Janukowitsch hat die Macht im Staate monopolisiert und die „demokratische Opposition“, als die sich der nicht übergelaufene Teil der beiden „patriotischen“ Fraktionen NU-NS und BJuT versteht, im ganzen Land aus den Strukturen der Macht verbannt. Die Autorität des Präsidenten ist in „seiner“ Partei der Regionen und in „seiner“ Regierungskoalition – und damit in „seiner“ Regierung – unangefochten.

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Mit dem Ziel, die faktische Alleinherrschaft des Präsidenten Janukovyč zu legalisieren, beantragten 252 Mitglieder des Parlaments beim Verfassungsgericht die verfassungsrechtliche Prüfung der so genannten „politischen Reform“, d. h., der am 8. Dezember 2004 von der Verchovna Rada verabschiedeten und am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Verfassungsänderung, durch die das „präsidentiell-parlamentarische“ Regierungssystem der Ukraine in ein „parlamentarisch-präsidentielles“ (im Sprachgebrauch der ukrainischen Politik) umgewandelt worden war.16

Das Verfassungsgericht erklärte am 1. Oktober 2010 das betreffende Gesetz Nr. 2222-IV wegen Verletzungen verfassungsrechtlicher Verfahrensvorschriften bei dessen parlamentarischer Erörterung und bei seiner Verabschiedung durch die Verchovna Rada für verfassungswidrig – und setzte expressis verbis die Verfassung vom 28. Juni 1996 wieder in Kraft.17 Der Verfassungsrichter Serhij Vdovečenko erinnerte daran, dass die Venedig- Kommission im Jahre 2005 in einer Resolution auf die Verletzung des Verfahrensrechts im Zuge der „politischen Reform“ hingewiesen hat.18 Und die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rats brachte damals ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Verfassungsänderungen von der Werchowna Rada ohne vorherige Konsultation mit dem Verfassungsgericht verabschiedet wurden.

In seiner Rede am 1. Oktober 2010, in welcher er die Entscheidung des Verfassungsgerichts begrüßte, sagte Präsident Janukovyč, die Ukrainer seien es leid, unter Bedingungen zu leben, die von der „politischen Reform“ des Jahres 2004 „diktiert“ worden seien.19 Die Verfassungsänderung sei der politischen Opportunität willen hastig verabschiedet worden und hätte einen kontinuierlichen Konflikt zwischen Präsident und Regierung zur Folge gehabt.20 Was Präsident Janukovyč verschwieg, war die Tatsache, dass er selbst – zusammen mit dem noch amtierenden Präsidenten Kučma – diese „politische Reform“ dem vorhersehbaren Sieger der dritten Runde der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004, Viktor Juščenko, in Verhandlungen abgerungen hat. Die „Kučmisten“ hatten in der Verchovna Rada die Mehrheit; durch die Umwandlung des „präsidentiell-parlamentarischen“ Systems in ein „parlamentarisch-präsidentielles“ wollten sie sich den Erhalt der Macht im Staate sichern.21

Janukovyčs serviler Premierminister Azarov reagierte umgehend auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts: Am folgenden Arbeitstag (04.10.) billigte seine Regierung den Änderungsentwurf zum „Gesetz über das Ministerkabinett“, mit dem das Recht, den Premierminister – mit Zustimmung des Parlaments – zu ernennen, wieder dem Präsidenten zugeschrieben wird; den Premierminister – sowie alle Minister –entlassen kann der Präsident demnach ohne Zustimmung des Parlaments. Drei Tage später stimmte die gefügige Verchovna Rada ihrer völligen Entmachtung zu: Ohne Diskussion verabschiedete sie das novellierte “Gesetz über das Ministerkabinett“, durch das die Vollmachten des Präsidenten noch über die Bestimmungen der Verfassung von 1996 hinaus erweitert wurden; unterwürfig opferte das Parlament sogar die Kontrolle über das Budget der Regierung (des Ministerkabinetts). Dem Präsidenten seien Vollmachten übertragen worden, von denen „Präsident Kučma nicht einmal träumen konnte“, sagte Anatolij Hrycenko on der Fraktion NU-NS.22 Der Block Julija Tymošenko forderte die Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung der Vorgänge, die zu dieser “Auftragsentscheidung” des Verfassungsgerichts führten.23

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts, mit der es die „politische Reform“ des Jahres 2004 außer Kraft setzte, provozierte eine juristische Konfusion.24 Es erhob sich die Frage nach der Legitimität des Präsidenten und des Premierministers, die entsprechend der im Jahre 2004 „reformierten“ Verfassung gewählt worden waren. Olena Lukaš, die „Vertreterin“ des Präsidenten im Verfassungsgericht, beeilte sich zu erklären, dass alle Regierungsorgane „legitim“ seien.25

In der Debatte über die Europäische Nachbarschaftspolitik auf einer Vollversammlung des Europäischen Parlaments am 23. September in Straßburg sprach der deutsche Abgeordnete Michael Gahler, Mitglied der EVP (CDU), von einer „Resowjetisierung“ der Ukraine. Die Qualifizierung des „roll back“ in der Ukraine als „Resowjetisierung“ ist sicher maßlos übertrieben; doch zeigt sich eine gewisse „sowjetische Mentalität“ in dem Bestreben des Präsidenten Janukowitsch – und seines „Kommandos“ – politischer Willkür den Schein von Legalität zu geben. Maßvollere Kritiker sprechen von einer “Re-Kučmaisierung” der Ukraine. Der ehemalige Präsident Kučma selbst allerdings sprach sich gegenüber Journalisten gegen die Rückkehr zu „seiner“ Verfassung – und für das parlamentarisch-präsidentielle System – aus, das mit der politischen Reform des Jahres 2004 eingeführt wurde.26 „Ich war und bin ein Anhänger der parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform.“

Präsident Janukovyč plant weitere “Verbesserungen” der Verfassung unter Umgehung der Verchovna Rada, für die er erneut ein eventuelles Referendum über die Reform des politischen Systems ins Spiel brachte.27 „Ich versichere Ihnen, dass die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung der Ukraine nur die Stärkung der repräsentativen Demokratie und der lokalen Selbstverwaltung zum Ziel hat – sowie die Garantie des Schutzes der Menschenrechte und der politischen Freiheiten“, erklärte er auf der 7. Jahresversammlung der Organisation Yalta European Strategy (YES) am 1. Oktober 2010 in Jalta.28

Die Kommunal-Wahlen: Die Ukraine auf dem Wege in den Ein-Parteien-Staat ?

In Vorbereitung auf die Kommunal-Wahlen am 31. Oktober 2010 würden die
kommunalen Behörden zu lokalen Wahlkampfstäben der Partei der Regionen umfunktioniert, beklagt die Opposition. Personen des öffentlichen Lebens würden genötigt, in „die Partei“ einzutreten. Politisch aktive Bürger würden nach ihrer Einstellung zur neuen Macht „sortiert“: Listen würden angelegt, in denen sie in „eigene“ („svoï“) und gegnerische eingeteilt werden, versicherte Mykola Tomenko, der Zweite Stellvertretende Vorsitzende der Verchovna Rada (Blok Julija Tymošenko).29 Alle Parteien einschließlich der Partner in der Regierungskoalition – Kommunistische Partei und die Partei Silna Ukraïna (Starke Ukraine) des Vizepemierministers Tihipko30 – beklagen sich über Obstruktion seitens der Behörden bei der Registrierung ihrer Kandidaten. Vertreter des Koalitionspartners Narodna Partija („Volkspartei“) in den örtlichen Verwaltungen würden unter Druck gesetzt (mit Entlassung bedroht oder mit Beförderung gelockt), wie ihr Vorsitzender, der Parlamentspräsident Lytvyn publik machte.31 In Kiew und in Lviv wurden aus der Partei ausgeschlossene Vorsitzende der lokalen Organisationen von Julija Tymošenkos Bat’kivščyna per Gerichtsentscheid wiedereingesetzt – und die von ihnen angeführten Wahllisten von den betreffenden Wahlkommissionen als rechtmäßig registriert.

Zur Schwächung der politischen Konkurrenz in den Kommunalwahlen setzte die Fraktion der Partei der Regionen in der Verchovna Rada Änderungen des Kommunal-Wahlgesetzes durch, u. a. eine Bestimmung, wonach Parteien Kandidaten nur in den Wahlkreisen aufstellen können, in denen ihre örtliche Parteiorganisation mindestens 365 Tage vor der Wahl – also vor dem 31. Oktober 2009 – offiziell registriert wurde. Diese Gesetzesänderung richtete sich vor allem gegen die – neue – Partei Silna Ukraïna (Starke Ukraine), die im Osten und Süden des Landes die einzige prospektive Konkurrenz zur Partei der Regionen ist. Infolge der massiven Kritik aus dem In- und Ausland nahm die Verchovna Rada am 2. September diese und einige andere (erst am 31. Juli verabschiedeten) gesetzlichen Beschränkungen für die Aufstellung von Kandidaten zurück.32

Laut dem Ergebnisbericht einer Delegation der International Foundation for Election Systems (IFES, Washington) verstößt das novellierte Kommunalwahlgesetz gegen den Kodex der Venedig-Kommission. Das Gesetz wurde von der Verchovna Rada praktisch ohne Debatte angenommen, obwohl mehr als 1350 Änderungsvorschläge der Opposition vorlagen. Insbesondere „beunruhigen“ die Beobachter der IFES die Vorrechte der Vertreter der drei Parteien, welche die Regierungskoalition bilden, in den Territorialen Wahlkommissionen.33

Es war zu erwarten gewesen, dass die unabweisbare Reform des Energiesektors und der sozialen Altersversorgung (Erhöhung des Rentenalters) nicht vor den (auf den 31. Oktober 2010 verschobenen) Kommunalwahlen angegangen würde. Doch angesichts der Haushaltsklemme willigte die Regierung in die (Vor-)Bedingungen ein,34 welche der Internationale Währungsfonds für die Gewährung eines neuen Stand-by Kredits stellte: Sie erhöhte die Gaspreise für private Haushalte und die Tarife für kommunale Versorgungsleistungen um 50 Prozent. Das Rating der (Regierungs-)Partei der Regionen sinkt infolge dieser Maßnahmen. Um die Kommunalwahlen dennoch zu „gewinnen“, werden die „administrativen Ressourcen“ des Regimes voll ausgeschöpft, behaupten Vertreter der Opposition – wohl nicht zu Unrecht.

Die Partei der Regionen reagierte empfindlich auf die Appelle der ukrainischen Opposition an internationale Institutionen und verurteilte diese „Versuche einiger Parteien und Blöcke, die internationale Gemeinschaft zu manipulieren.“ Sie forderte die Opposition auf, die „Diskreditierung der Ukraine in den Augen der Weltgemeinschaft einzustellen.“35 Zu den anstehenden Kommunalwahlen seien Beobachter der führenden europäischen Institutionen eingeladen worden. Das Außenministerium lud in der Tat Beobachter des ODIHR und des Kongresses Lokaler und Regionaler Behörden des Europa-Rates ein – wohl wissend, dass in der verbleibenden kurzen Frist aus organisatorischen und budgetären Gründen keine nennenswerte Zahl von Beobachtern entsandt werden kann.

II. Rückfall in eine autoritäre Präsidialdiktatur ?

Die Administration des „Regierenden Präsidenten“ Janukovyč

Präsident Janukovyč gelang es in kurzer Zeit, die „Macht-Vertikale“, über die Präsident Kučma verfügte – auch ohne Außerkraftsetzung der „politischen Reform“ von 2004 – wiederherzustellen, d. h., die Verchovna Rada, die Regierung (Premierminister und Ministerkabinett) sowie die Provinz- (Oblast’) und Distrikt-Verwaltungen unter seine Kontrolle zu bringen.36 Nach der schnellen Gleichschaltung von Parlament und Regierung mit der Präsidialadministration kann der Präsident effektiv „durchregieren“.

Janukovyč galt in der Vergangenheit nicht als ein Politiker, der eigene Akzente setzt, sondern eher als einer, der die Politik anderer effektiv umsetzt, als geborener „zweiter Mann“ sozusagen. Der Auftakt seiner Präsidentschaft, die unverzügliche Aufstellung „seiner“ Mannschaft – ließen erkennen, dass Janukovyč entschlossen war, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Die „exekutive Gewalt“ ist nunmehr in der Präsidialadministration konzentriert. Die Bestallung von Mykola Azarov zum Premierminister lässt darauf schließen, dass es Präsident Janukowitsch darauf ankam, nun selbst einen „Apparatschik“ in diesem Amt zu haben – und keinen eigenwilligen „Reformer“. Azarov – Mitbegründer der Partei der Regionen – ist ein „klassischer“ Parteipolitiker, der sich im zurück liegenden Wahlkampf mehr durch sein Talent für Agitprop auszeichnete als durch ökonomische „Professionalität“, für die seine Partei ihn preist.37

Das ukrainische „Big Business“, das die Parlamentsfraktion der Partei der Regionen dominiert, ist auch im Ministerkabinett gut aufgestellt: Zum Ersten Stellvertretenden Premierminister wurde Andrij Kljuev ernannt, ein „biznesmen“ aus Doneck, der im zweiten Kabinett Janukovyč (2006 / 2007)38 Energieminister war; zu einem der sechs (!) Stellvertretenden Pemierminister, nämlich zum Vizepremier für die „Jevro 2012“ (Fußball-Europameisterschaft 2012) avancierte der Magnat Borys Kolesnikov, der dem Oligarchen Achmetov geschäftlich verbunden ist. Energieminister ist der „Unternehmer“ Volodymyr Bojko; Bojko war Präsident der staatlichen Gesellschaft Naftohaz Ukraïny, als die zwielichtige Vermittlungsgesellschaft RosUkrEnergo in den Gasimport aus Russland und Zentralasien „zwischengeschaltet“ wurde.

Präsident Janukovyč hatte eine „professionelle“ Regierung angekündigt; tatsächlich aber dominieren in dem neuen Ministerkabinett und an der Spitze von staatlichen Organen die Mitglieder Partei der Regionen und der „Doneck Klan“: Fünf der sechs Stellvertretenden Premierminister gehören der PR an; dreizehn Minister stammen aus der Oblast’ Doneck, drei sind, wie Premierminister Azarov selbst, gebürtige Russen.

Die „SBU“: Die Nachfolge-Organisation des KGB in ihrem alten Element

Unter „Staatssicherheit“ wird auch in der Ukraine weniger die „Sicherheit des Staates“ als vielmehr die „Sicherheit des Regimes“ verstanden. Nach Janukovyčs Machtübernahme fühlt sich der ukrainische Inlandsgeheimdienst in seinem „alten“ Element; die SBU reaktivierte ihre sowjetischen Praktiken bei der Überwachung, Einschüchterung durch „prophylaktische Befragungen“ – und „Anwerbung“ von Bürgern als „inoffizielle Mitarbeiter“.39 Die SBU verlangt von Mobiltelefon-Betreibern die Installation von Geräten zur automatischen Kommunikationskontrolle40 und die Wiedereinführung der Registrierung persönlicher Daten beim Kauf von Bahnfahrkarten zur Überwachung des Personenverkehrs. Der Präsident nutzt die SBU als Instrument zur Kontrolle der Opposition – mit dem Argument, diese wolle den politischen Stabilisierungsprozess stören, um daraus für sich elektorale Vorteile zu ziehen. Der Vertrag über Zusammenarbeit zwischen dem ukrainischen und dem russischen Inlandsgeheimdienst, den die Chefs der SBU und der FSB41 am 19. Mai 2010 in Odessa geschlossen haben,42 lässt erwarten, das die Ukraine bald ganz dem russischen Beispiel folgen wird.

Mit der Ernennung von Valerij Choroškovskyj zum Chef der SBU scheint sich Präsident Janukovyč allerdings der exklusiven persönlichen Verfügbarkeit des Geheimdienstes begeben zu haben: Mit Choroškovskyj steht ein potenter Magnat an der Spitze der SBU.43 Der Fall des Leiters des Auslandsbüros der Konrad Adenauer Stiftung in der Ukraine, Nico Lange, ist ein Indiz für die „Eigenmächtigkeit“ des Geheimdienstes:44 Die von der SBU veranlasste45 Einreiseverweigerung wurde zu einem diplomatischen Skandal, der den anstehenden Besuch des Präsidenten Janukovyč am 30. August 2010 in Berlin kompromittierte. In einem Interview mit der Deutschen Welle wies Präsident Janukovyč Kritik an der SBU zurück, entlarvte sich aber mit der Bemerkung, er habe den Geheimdienst zur „Vorsicht“ ermahnt.46

In dem Protest gegen die Wahlfälschung des Präsidentschaftskandidaten Janukovyč im Winter 2004 hatten junge Aktivisten diverser ziviler Organisationen eine tragende Rolle gespielt; die „Förderung der Demokratie“ durch ausländische Einrichtungen hatte sicher zu deren „Befähigung“ zu gewaltlosem Widerstand beigetragen. Um einem „zweiten Majdan“ vorzubeugen, „interessiert“ sich nunmehr der Inlandsgeheimdienst für die Aktivitäten der ausländischen Stiftungen und ihrer ukrainischen Partner. So berichtete z. B. der Direktor der ukrainischen Sektion der International Renaissance Foundation (George Soros), Jevhen Bystryc’kyj, über „Befragungen“ ihrer Partner-NGOs durch die SBU über Ziele der Kooperationsprojekte, deren Finanzierung und ihren Einfluss auf die politische Lage vor den (Kommunal-)Wahlen. Die SBU rechtfertigte sich öffentlich mit ihrem Auftrag, die Einhaltung des Wahlgesetzes sicher zu stellen, insbesondere des Verbots der Finanzierung politischer Parteien der Ukraine durch ausländische Institutionen.47

Der Geheimdienst: Ideologische Funktion

Die Geschichtspolitik der neuen Führung des Landes spiegelt sich nicht nur in der Bildungspolitik des – in den Augen ukrainischer Patrioten – ukrainophoben Bildungsministers Dmytro Tabačnyk wider;48 die sowjetische Epoche der Ukraine wird wie ein Staatsgeheimnis behandelt und ist damit Sache des Geheimdienstes. Am 8. September 2010 wurde auf dem Hauptbahnhof in Kiew Ruslan Zabilyj, der Leiter des Gefängnis-Museums „Tjurma na Lonc’koho“ (Gefängnis in der – ehemaligen – Lonskij Straße) in Lviv (Lemberg), einer Gedenkstätte für die Opfer polnischer, deutscher und sowjetischer Okkupationspolitik, von Beamten der SBU unter dem Vorwand verhaftet,49 er habe Dokumente, die als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft seien, an Dritte weitergeben wollen.50 Die Verhaftung des ukrainischen Historikers durch den ukrainischen Inlandsgeheimdienst löste internationalen – akademischen – Protest aus: Mehr als ein Hundert Historiker aus den USA, Kanada, Europa und Israel unterzeichneten einen offenen Brief (15.09.2010) an die SBU, in welchem sie die Einschüchterung von Forschern durch einen Sicherheitsdienst verurteilen.51 Der ukrainische Geheimdienst rechtfertigte die Beschränkung akademischer Freiheit mit dem entlarvenden Bekenntnis seiner Presse-Abteilung: „Die SBU hat die Pflicht, die historische Wahrheit zu erneuern“.52

“Zensur ohne Zensoren”53

Laut einer Umfrage des renommierten Razumkov-Zentrums meint mehr als die Hälfte der befragten Ukrainer, dass im Lande politische Zensur existiert.54 Nach fünfjähriger (fast) absoluter „Freiheit des Wortes“, d. h., Presse-Freiheit, die während der Präsidentschaft von Viktor Juščenko in der Ukraine herrschte, spüren die der (Fremd- und Selbst-) Zensur der Ära Kučma entwöhnten Journalisten nach der Machtübernahmne von Präsident Janukovyč wieder staatliche Einflussnahme auf die Medien, konkret auf ihre journalistische Arbeit. „Druck“ auf die nationalen und regionalen Zeitungen und Fernsehsender ist nicht nötig, da sie sich mehrheitlich im Besitz „pro-präsidentialer“ Oligarchen befinden, welche die Präsidentschaftskandidatur von Janukovyč finanzierten – und nunmehr seine Herrschaft medial unterstützen. Laut Umfragen unter Journalisten beschuldigen diese an erster Stelle die Eigentümer von Medien der Zensur, sodann die Redakteure; erst an dritter und vierter Stelle die nationalen, regionalen und lokalen Behörden. In den Nachrichten „herrscht“ der Präsident vor; es wird der Eindruck vermittelt, als erfahre er im ganzen Land nur Zuspruch. Die Partei Julija Tymošenkos Bat’kivščyna beklagt sich über eine „Informationsblockade“, wie die Ergebnisse von Medien-Monitoring Studien zeigten; über die Aktivitäten der Opposition würde nicht berichtet. Fakt ist, dass die eloquente Oppositionspolitikerin Julija Tymošenko zwei Wochen vor den Kommunalwahlen einen Auftritt in der „Großen Politik mit Jevgenij Kiselov“, einer politischen Talk Show55 im populären Fernseh-Kanal INTER des SBU-Chef Choroškovskyj eingeräumt erhielt. Das Sperrfeuer der von der Opposition zu Hilfe gerufenen europäischen und amerikanischen Institutionen zeigt offensichtlich Wirkung.56

Präsident Janukovyč wehrt sich gegen die „Unterstellung“, die Pressefreiheit werde eingeschränkt. Die bezeugten Fälle nannte er ein „temporäres Phänomen“;57 Probleme mit der Pressefreiheit existierten in jeder Gesellschaft. Es sei kein Geheimnis, dass die Vertreter der Medien (nur) formal frei seien; in Wirklichkeit seien sie abhängig von den Eigentümern, erklärte der Präsident offenherzig. Auf einer Zusammenkunft mit dem Atlantic Council der USA in New York am 23. September 2010 bestritt Präsident Janukovyč, dass seitens der Regierung Druck auf die Medien ausgeübt würde.58 In einem Interview mit The Wall Street Journal59 gab Janukovyč zwar einige vereinzelte Fälle zu; es gebe jedoch keine systematische Beschränkung der Pressefreiheit. „Ich werde nie die Rückkehr von Zensur oder anderer Methoden60 der Ausübung von Druck auf Journalisten erlauben“, antwortete Präsident Janukovyč auf einen offenen Brief des International Press Institute. Er beauftragte – ausgerechnet – den Chef der SBU, Choroškovskyj, sich der Probleme mit der Presse-Freiheit „anzunehmen“. Dieser wies den Vorwurf der Zensur zurück: Die Freiheit der Presse sei „die Grundlage jeder Entwicklung“, erklärte er mit gespielter Arglosigkeit, fügte jedoch hinzu: „Demokratie ist die Freiheit des Rechts. […] Eine beliebige Protestaktion darf nicht das normale Leben anderer Leute verletzen…“, erläuterte er die politische Philosophie seines Geheimdienstes.61

Choroškovskyj ist Hauptanteilseigner der Holding Inter Media Group, die einen Anteil von 30 Prozent am ukrainischen TV-Markt hält; seine Frau Olga leitet deren Fernsehsender INTER. Und Choroškovskyj ist Mitglied des Obersten Justiz-Rates! Von den acht Mitgliedern des Nationalen Rates der Ukraine für Fernsehen und Rundfunk würden fünf von ihm „kontrolliert“, behauptet die Opposition. Nicht von Ungefähr wird mit diesen Umständen ein Urteil des Kiewer Bezirksverwaltungsgerichts in Verbindung gebracht, das einer Klage seiner Medien-Holding statt gab: Das Gericht hob eine Entscheidung des Nationalen Rundfunkrates vom 27. Januar 2009 auf und entzog den beiden einzigen politisch „neutralen“ Sendern „Fünfter Kanal“ und „TVi“ die ihnen – im Rahmen einer Ausschreibung – zugeteilten zusätzlichen analogen Sende-Frequenzen zugunsten des Fernsehgesellschaft INTER.62

Am 11. und 12. Oktober besuchte die Repräsentantin für Pressefreiheit der OSZE, Dunja Mijatovic, auf Einladung des Präsidenten Janukovyč die Ukraine, um Informationen über die Situation der Medien aus erster Hand zu sammeln. Einerseits begrüßte sie die Bereitschaft der ukrainischen Behörden zum Dialog auf höchster Ebene;63 es sei klar, dass die Pressefreiheit Priorität auf der politischen Agenda des Landes genieße. Andererseits würden Journalisten eingeschüchtert; die Fälle von physischen Attacken gegen Journalisten – einschließlich des Falls Kliment’ev – hätten das Medien-Klima verschlechtert. Wegen der Parallelität zum Fall Gongadze im Jahre 2000 könnte der – bislang unaufgeklärte – Fall des Chefredakteurs der kritischen Wochenzeitung Novij Styl (Charkiv), Vasyl Kliment’ev, der am 11. August 2010 “verschwand“, für das Regime bedrohlich werden.64

III. Die „Abrechnung“ mit Julija Tymošenko: „Hexenjagd“65

Der „Kampf“ des Präsidenten Janukovyč gegen die Korruption ist vornehmlich ein Rachefeldzug gegen Julija Tymošenko; während der Verlierer der Orangenen Revolution deren Sieger, den Ex-Präsidenten Juščenko unbehelligt lässt, setzt er die Generalstaatsanwaltschaft auf die „Seele“ des Volksaufstandes an, durch den ihm im Winter 2004 der gefälschte Wahlsieg entrissen wurde.66 Wegen des internationalen Skandals, den eine Verhaftung Tymošenkos auslösen würde, blieb sie selbst bislang von strafrechtlicher Verfolgung verschont.67 Um aber das Terrain für diesen Akt vorzubereiten, beauftragte Premierminister Azarov – nicht den ukrainischen Rechnungshof – sondern private amerikanische (!) Kanzleien,68 der ehemaligen Premierministerin die Veruntreuung von staatlichen Haushaltsmitteln nachzuweisen.

Am 14. Oktober 2010, rechtzeitig zu den Kommunal-Wahlen, präsentierten die amerikanischen Detektive ihren Bericht,69 in welchem die ehemalige Premierministerin der Zweckentfremdung von 400 Millionen USD bezichtigt wird. Der Bericht befasst sich ausschließlich mit der Amtszeit Julija Tymošenkos; die Fälle von Korruption, die während der Regierung des Premierministers Janukovyč bekannt wurden, werden ignoriert.70 Die Fraktion Blok Julija Tymošenko-Bat’kivščyna wies die Ergebnisse dieser „politisch motivierten Scheinuntersuchung“ zurück; sie seien ein weiteres Beispiel für die systematische Unterdrückung der Opposition.71 Von dem Moderator Kiselëv in einer politischen Talk Show um eine Stellungnahme gebeten, punktete Julija Tymoschenko bei dem Auditorium mit der Erklärung, sie sehe kein Verbrechen darin, die 300 Millionen USD aus der Veräußerung ukrainischer Emissionsrechte („Kyoto-Kredite“) anstatt in ökologische Projekte in die hoch defizitäre Rentenkasse gesteckt zu haben.72 Tymošenko bestritt die Qualifikation der von der Regierung Azarov (für geschätzte 2 Millionen USD) beauftragten Firmen – und berief sich auf den amerikanischen Botschafter John Tefft, der öffentlich erklärt hatte, dass diese amerikanischen Firmen in der Vergangenheit nicht mit Rechnungsprüfungen befasst waren.73

In der Organisation „Transparency International“ ist man der Meinung, der „Washingtoner Prüfbericht“ diskreditiere den Kampf gegen die Korruption in der Ukraine („ein politisches Manöver“), wie der Regionalkoordinator für Osteuropa und Zentralasien, Miklosh Marshall in einem Interview mit der Deutschen Welle sagte. Die Untersuchung „wurde im Auftrag der neuen Regierung gegen die vorangegangene Regierung durchgeführt. Es fällt sehr schwer zu bestätigen, dass es sich hierbei um eine vollwertige Untersuchung handelt, und nicht um eine «Hexenjagd».“74

IV. Präsident Janukovyč: Statthalter der ukrainischen Oligarchie?

Von der „demokratischen Opposition“, wie sich die beiden Fraktionen NU-NS und BJuT selbst nennen – sowie von einigen politischen Analysten – werden die „Hintermänner“ des Präsidenten Janukovyč, die so genannten „Oligarchen“, als die wahren Herren des Landes angesehen. Ihnen wird eine nur instrumentelle Akzeptanz der Demokratie unterstellt: Während sie die Politiker auf der Bühne „Demokratie“ inszenieren ließen, betrieben sie hinter den Kulissen partikulare Interessenpolitik. Präsident Janukovyč wird demnach eher als Statthalter der Oligarchen gesehen denn als eigenmächtiger und eigenwilliger Potentat.

Die Oligarchen, die nicht nur „ihr“ Geld längst gewaschen, sondern auch sich selbst vom Dreck ihrer speziellen Form der „ursprünglichen Kapitalakkumulation“ gereinigt haben,75 repräsentieren heute eher das „fortgeschrittene“ Element innerhalb und im Umfeld der Partei der Regionen, deren politische Kultur sowjetisch geprägt ist. Die längerfristigen geschäftlichen Interessen der ukrainischen Industrie- und Finanzmagnaten erfordern die Modernisierung der Ukraine, ihre Öffnung nach Westen, ihre „Europäisierung“.76 Die Vorstellungen der ukrainischen Milliardäre und Millionäre über die wünschenswerte Entwicklung der Ukraine sind von ihren Erfahrungen im Westen Europas geprägt, wo sie ihren Reichtum verleben. Doch aus ihrem „Absentismus“ läßt sich auch der umgekehrte Schluss ziehen, wie Julija Tymošenko es in ihrer „Botschaft an das ukrainische Volk“ vom 22. Februar 2010 tat: „Die Oligarchie […] braucht billige Arbeitskraft, rechtlose Menschen, die sie zwingen können, in ihren Fabriken für niedrige Löhne zu arbeiten […] Schon seit langer Zeit leben sie nicht in der Ukraine; sie beuten diese nur aus.“

Politische Analysten sehen Gruppierungen bestimmter Business-Tycoons hinter bestimmten staatlichen Organen. Was sich aber seit der Machtübernahme durch den Präsidenten Janukovyč abzeichnet, ist eine aufkommende Konkurrenz zwischen den „Alt-Oligarchen“ (Montan-Industrie) und der „Gas-Lobby“. Neben – oder inzwischen möglicherweise „über“ – dem bislang in der Partei der Regionen dominierenden „Doneck Klan“ des Oligarchen Achmetov, Janukovyčs ursprünglichem „Patron“ und Finanzier seiner Partei der Regionen seit deren Anfängen, hat sich durch massive finanzielle Unterstützung im Präsidentschaftswahlkampf die Gruppe Dmitro Firtaš im Machtapparat des Präsidenten positioniert. Firtaš hat sein Milliarden-Vermögen (in USD, versteht sich) durch Abschöpfung der ukrainischen Gaseinfuhren aus Zentralasien mittels der intransparenten Zwischenhandelsgesellschaft „RosUkrEnergo“, an welcher er mit 45 Prozent beteiligt ist, gemacht. Mit seinem „Vertrauensmann“ Serhij L’ovočkin als Leiter der Administration des Präsidenten steht er heute Janukovyč am nächsten. Zur repressiven Absicherung seiner Interessen konnte Firtaš seinen Geschäftspartner Valerij Choroškovskyj als Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU installieren.

Präsident Janukovyč wehrt sich gegen den Vorwurf, im Dienste der ukrainischen Oligarchie zu stehen. In seiner „Botschaft an das ukrainische Volk“ anlässlich seiner „Ersten Hundert Tage“ im Amt erklärte er, Oligarchen und Lobbyisten müssten sich – wie alle – „in der Schlange“ anstellen: „Ich werde keinen Einfluss von unberufener Seite auf Entscheidungen der Regierung zulassen.“77 Wie dem auch sei, die Macht des Präsidenten Janukovyč ist nicht absolut: So lange er nicht gegen die Interessen der Oligarchen regiert – zum Beispiel durch unliebsame Reformen in der Wirtschaft – lassen diese ihm freie Hand im Staate. James Sherr (Chatham House) meint dagegen, “Yanukovych does not just preside over an ‘oligarchic dictatorship’. He leads it“.78

V. Hemmende Faktoren in der restaurativen Dynamik

Sorge um das Image des Regimes im Westen

Die Reaktion „Europas“ auf die Klagen aus der Ukraine über die Erosion der Demokratie ist den neuen Machthabern nicht gleichgültig. Die Sorge um sein „Image“ im Westen ist der Hauptgrund für eine gewisse Zurückhaltung des Präsidenten Janukovyč in der Ausübung seiner fast unbeschränkten Macht: „…alles, was das Image der Ukraine betrifft, bedarf größter Vorsicht“, offenbarte seine „Interpretin“ Hanna Herman auf einer Pressekonferenz am 30. Juni 2010 zum „Fall Lange“. Die „Regierung Janukovyč“ will nicht mit dem „Regime Kučma“, aus dem die Mehrheit seiner Exponenten stammt, verglichen werden. Und auch die Oligarchen haben kein Interesse an einer Rückkehr zu den neofeudalen „kutschmistischen“ Verhältnissen, in denen sie die Lizenz zur Appropriierung staatlichen Eigentums mit politischer Loyalität bezahlten. Die Europa-Fußballmeisterschaft 1012 in der Ukraine (und in Polen) ist inzwischen ein Prestige-Objekt einiger Oligarchen.79 Nicht nur die sportliche Infrastruktur, auch die politische Situation des Landes stehen zunehmend unter kritischer internationaler Beobachtung. Die Mitgliedschaft der Ukraine in der UEFA hilft der ukrainischen Demokratie vielleicht sogar mehr als ihre Mitgliedschaft im Europa-Rat.

Die ständige Beteuerung ihrer medienpolitischen Unschuld seitens des Präsidenten Janukovyč und seines Außenministers Hryščenko ist ein Indiz dafür, dass die Kritik aus dem Ausland wirkt. Die Reaktion Kiews auf die Reaktion Berlins im „Fall Lange“ zeigt, dass die Herrschaft der Partei der Regionen im allgemeinen und die Willkür des Sicherheitsdienstes im besonderen ihre Grenzen haben; sie liegen dort, wo das Image der „Regierung Janukovyč“ im Ausland Schaden nimmt. Die Empfindlichkeit des Präsidenten Janukovyč bezüglich seines Rufs im westlichen Ausland bietet den stärksten Hebel für „Einmischungen“ zum Schutze der Demokratie in der Ukraine.

Die parlamentarische Opposition: macht- aber nicht hilflos

Auch der Verlust der Macht hat die beiden national-demokratischen Fraktionen des Blok Julija Tymošenko und des Bündnisses Naša Ukraïna – Narodna Samooborona nicht geeinigt. Julija Tymošenko hatte sich nach der Abwahl ihrer Regierung durch die Verchovna Rada von einer „Versammlung ukrainischer Patrioten“ zur Führerin der „Vereinten Opposition“ küren lassen. Die „Führer“ geringeren Kalibers sind jedoch nicht bereit, sich der Führung Julija Tymošenkos zu unterwerfen. Es sind nicht sachliche Meinungsverschiedenheiten, die eine Einigung der „patriotischen Opposition“ verhindern, sondern persönliche Rivalitäten ihrer Protagonisten, von denen allein Julija Tymošenko „gubernamentale“ Qualitäten besitzt; sie ist die einzige Oppositionspolitikerin von „nationalem Format“, konstatiert der ehemalige Chef des Sekretariats des Präsidenten Juščenko, Oleh Rybačuk zu Recht.

„Die Opposition sollte die Chance haben, ihre Position zu vertreten“, ermahnte Präsident Janukovyč er auf einer Zusammenkunft des Präsidiums der Verchovna Rada und der Fraktionsvorsitzenden der parlamentarischen Mehrheit – wohl nicht ohne Hintergedanken. „Eine starke Regierung […] braucht eine starke Opposition.“80 Doch die politische Praxis seiner Regierungspartei steht in krassem Widerspruch zu dieser Erklärung. Die Regierungskoalition verfügt in der Verchovna Rada über eine „verlässliche“ Mehrheit von 265 Stimmen von insgesamt 450 (Mitte Juli 2010). Die von der Präsidialadministration und dem Ministerkabinett eingebrachten Gesetzesvorlagen werden ohne Diskussionen abgenickt. Aus der streitbaren Verchovna Rada ist ein gleich geschaltetes Akklamationsorgan geworden: de facto steht die „Legislative“ unter totaler Kontrolle der Exekutive. Die „demokratische Opposition“ wird von der „parlamentarischen Mehrheit“ einfach überstimmt; nicht ein einziger ihrer alternativen Entwürfe zu Gesetzesvorlagen der Regierung bzw. der Regierungskoalition wurden auch nur erörtert.81 Faktisch ist die Opposition im Parlament reduziert auf den rhetorischen Protest. Um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen,82 bleiben ihr die Besetzung des Podiums, der demonstrative Auszug aus dem Plenarsaal oder, wie anlässlich der Abstimmung über den „Medvedev-Janukovyč-Pakt“ von Charkiv, Handgreiflichkeiten. Nach der Annullierung der „politischen Reform“ von 2004 wurde sogar das Institut der parlamentarischen „Opposition“ liquidiert: Der Vorsitzende der Fraktion der Partei der Regionen, Oleksandr Jefremov, konstatierte, dass der Begriff „Opposition“ in der nunmehr geltenden Verfassung von 1996 nicht vorkomme.83

Doch ganz machtlos ist die parlamentarische Opposition nicht: Sie erreichte, dass die Verchovna Rada auf Antrag der BJuT-Fraktion den Vizepremierminister für humanitäre84 Angelegenheiten, Volodymyr Semynoženko, seines Amtes enthob; dieser hatte in einer Fernsehsendung die Bildung eines Unionsstaates mit Russland befürwortet.85 Auf Antrag der Opposition bildete die Werchowna Rada zwei Untersuchungsausschüsse, den einen zur Untersuchung von angeblichen Fällen von Zensur; den anderen zur Untersuchung der Rolle ukrainischer Beamter und Anwälte in dem Verfahren des „Stockholmer Schiedsgerichts“,86 das am 8. Juni 2010 einen Spruch gegen die staatliche ukrainische Gesellschaft NAK Naftohaz Ukraïny fällte.87

Demonstrationen der parlamentarischen und außer-parlamentarischen Opposition „auf der Straße“ werden von der Polizei ohne richterlichen Beschluss aufgelöst. Präsident Janukovyč bezeichnet die Unterdrückung von Protest als Wiederherstellung der „Herrschaft des Rechts“. Die Verchovna Rada, d. h., die Regierungskoalition, verabschiedete ein Gesetz, das die Versammlungsfreiheit einschränkt.88 Kommentare des Präsidenten bezüglich des Vorwurfs, die Polizei behindere Demonstrationen der Opposition, offenbaren die nicht überwundene sowjetische Prägung seiner Geisteshaltung: Die Polizei „reagiere nur auf rechtswidrige Handlungen“; sie müsse die „gesellschaftliche Ordnung sichern“. Als Störung der gesellschaftlichen Ordnung bezeichnete Janukovyč all das, „was die Mehrheit störe, in Ruhe zu leben“. Wer die gesellschaftliche Ordnung verletze, werde von der Polizei „vor Unannehmlichkeiten geschützt“;89 bis zur Einführung der „Schutzhaft“ ist da wohl nur ein kleiner Schritt.

Mit Erfolg gelang es der Opposition, die Aufmerksamkeit europäischer (und amerikanischer) Institutionen und Organisationen auf ihre prekäre Lage zu lenken. Die vier Ausschussvorsitzenden aus den beiden Oppositionsfraktionen BJuT und NU-NS verfassten einen Brief an die Staatspräsidenten und Premierminister der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, an die Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments, sowie an den Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates, in welchem sie die Einschüchterung und Verfolgung der Opposition beklagten.

Die Repräsentanten der Europäischen Union reagieren auf die „Besorgnis erregenden“ Berichte der ukrainischen Opposition mit einem diplomatischen „Kuschelkurs“: Gegenüber dem Präsidenten Janukovyč mahnen sie ihren Wunschzustand in der Ukraine an, indem sie ihn als Istzustand bezeichnen. So sagte der Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, nach seinem Gespräch mit Janukovyč am 13. September in Brüssel, „die Demokratie, die Herrschaft des Rechts und die Respektierung der Menschenrechte sind die Grundwerte, die wir teilen und die in die Praxis umzusetzen wir bemüht sind“.90 Und der Präsident der Europäischen Kommission, Manuel Barroso, äußerte nach dem Gespräch mit Präsident Janukovyč die Zuversicht, dass unter dessen Präsidentschaft demokratische Prinzipien wie die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz weiter konsolidiert würden. Er glaube den Versicherungen des ukrainischen Präsidenten Janukovyč. Dieser hatte ihm versichert, dass er die politischen Rechte und Freiheiten respektieren werde.91

„Freiheitliche Journalisten“ – der Kern des „Widerstandes“

Nach fünf Jahren „orangenen Chaos“ sehnt sich die Bevölkerung nach politischer Stabilität – und „toleriert“ mehrheitlich die Monopolisierung der Macht durch den neuen Präsidenten Janukovyč. Laut einer Umfrage des Gorshenin Institute for Management Issues „billigten“ 65 Prozent der Befragten die „Taten“ des neuen Präsidenten in seinen ersten Hundert Tagen.92 Die rund 3000 NGOs der „bürgerschaftlichen Gesellschaft“ artikulieren zwar demokratische Forderungen, doch „sie setzen die Gesellschaft nicht in Bewegung“ (Dietmar Stüdemann93). Auch Julija Tymošenko gelang es bislang nicht, außerhalb des Parlaments zivilen Protest zu mobilisieren;94 an Demonstrationen beteiligen sich nur wenige hundert Aktivisten. Die große Mehrheit der ukrainischen Bürger, die im Jahre 2004 gegen die dreiste Wahlfälschung des damaligen Präsidentschaftskandidaten Janukovyč aufbegehrte, ist – enttäuscht von den „orangenen“ Politikern, die sie an die Macht gebracht hatte – in politische Apathie zurückgefallen.

Unabhängig gesinnte Journalisten bilden heute den Kern des „zivilen“ Widerstandes gegen die autoritären Tendenzen des neuen Regimes. Nach fünf Jahren Freiheit lassen sich viele von ihnen nicht mehr so leicht einschüchtern. Zu einer Pressekonferenz des Präsidenten Janukovyč erschienen viele Journalisten in T-Shirts mit dem Aufdruck „Stopp der Zensur“. [95]

VI. Präsident Janukovyč: Retter der ukrainischen Staatlichkeit ?

Die Partei der Regionen münzte die Monopolisierung der Macht in der Hand ihres Präsidenten in einen – manchen Bürger überzeugenden – Slogan um: „Die Einheit der Macht bedeutet Wohlstand für das Volk“. Mit dieser – plakatierten – Losung ging die Partei der Regionen in den Wahlkampf um die Wahlämter in den Kommunen. Wozu sie nötig sei, wurde in einem anderen Slogan ausgedrückt: „Wir bauen eine neue Ukraine“.

Im Wahlkampf um die Präsidentschaft ließ der rhetorisch unbegabte Kandidat Janukowitsch von sich das Bild des „Machers“ projizieren – „Taten statt Worte“96 – , der nach der Zeit der „orangenen Wirren“ politische Stabilität wiederherstellen würde. In der Tat haben die „orangenen“ Revolutionäre – allen voran ihre Galionsfigur Juščenko – die Ukraine an den Rand eines „failed state“ gebracht; dem Präsidenten Janukovyč fiel so die Rolle eines Retters der ukrainischen Staatlichkeit zu. Bei positiv eingestellter Betrachtung läßt sich die Monopolisierung der Macht, d. h., ihre Konzentration in den Händen des Präsidenten Janukovyč als Rekonstruktion des Staates, als Wiederherstellung seiner Funktionalität deuten.

Der Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, drückte seine Befriedigung darüber aus, dass Präsident Janukovyč den permanenten Konflikt auf der obersten Ebene des Staates beendet und eine „Periode der Stabilität“ eingeleitet habe. Er lobte die Konzentration der exekutiven und legislativen Gewalt als eine „enge Koordinierung zwischen dem Präsidenten und der Regierung auf der Basis einer starken parlamentarischen Mehrheit“.97 Doch auch wenn dem Präsidenten Janukovyč zugestanden werden muss, dass nach den fünf Jahren des „orangenen Chaos“ die Wiederherstellung von „Ordnung“ im Staate unabdingbar ist, so ist seine Neigung, das Rad in die Ära Kučma zurückzudrehen, unübersehbar. Präsident Janukovyč setzt „effektive Regierung“ mit „autoritärem Regime“ gleich.98

Die PACE-Resolution:99 Diplomatische Ambivalenz

Auf ihrer Herbstsitzung100 nahm – nach der Erörterung des Berichts der beiden Berichterstatterinnen Mailis Reps (Estland) und Renate Wohlend (Liechtenstein) – die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates in Straßburg eine Resolution über die „Situation der demokratischen Institutionen in der Ukraine“ an. Der Kernsatz der Resolution lautet: „Die Konsolidierung der Macht durch die regierende Mehrheit ist verständlich und – im Kontext der Jahre politischen Streits zwischen den verschiedenen Zweigen der Macht in der Ukraine – vielleicht sogar wünschenswert. Jedoch sollte äußerste Sorge dafür getragen werden, damit sich eine solche Konsolidierung der Macht nicht in eine Konzentration, oder schlimmer noch, in eine Monopolisierung der Macht in der Hand einer politischen Gruppe verwandelt, denn dies würde die demokratische Entwicklung des Landes untergraben.“101

Die Reaktion der ukrainischen Regierung auf PACE-Resolution reflektiert die bereits unter anderen Präsidenten bewiesene Fähigkeit der ukrainischen Politik zur geschmeidigen Anpassung an äußere Erwartungen unter Beibehaltung innerer Vorbehalte.102 In dem offiziellen Kommentar des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten103 wird der ukrainischen Öffentlichkeit mitgeteilt, dass die Resolution „die Konsolidierung der Macht begrüße“ – als notwendige Voraussetzung für demokratische und ökonomische Reformen. Die von Präsident Janukovyč erklärte Absicht, einen Prozess der Vervollkommnung des verfassungsrechtlichen Aufbaus des Staates zu initiieren, habe auch das Ziel, alle Verpflichtungen gegenüber dem Europa-Rat zu erfüllen. Dabei werde die Ukraine entsprechend der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates aktiv mit der Venedig-Kommission zusammenarbeiten. Als „wichtig“ wird vermerkt, dass die Mitglieder der Regierungsorgane der 47 Mitgliedsländer des Europa-Rates die Versuche einzelner politischer Kräfte, die Logik der interne Prozesse in der Ukraine unwahr zu interpretieren, „entschlossen abgelehnt“ hätten.104 Die in der Resolution angemerkten Unzulänglichkeiten bezüglich der Funktionalität der demokratischen Institutionen würden dem Präsidenten, der Regierung und der Regierungskoalition helfen, noch effektiver eine Politik zu erarbeiten und umzusetzen, die auf die Erreichung der hohen Standards der europäischen Demokratie abzielt.

Dieser Kommentar verrät nicht nur hohe diplomatische Kunst, sondern auch
vollendete Meisterschaft in Heuchelei.

1 Die Marge von 3,5 Prozent mag in „alten Demokratien“ normal sein; in der Ukraine ist es möglich – unter den Augen ausländischer Wahlbeobachter eine Million Stimmen (von 25 Millionen) zu „manipulieren“.

2 Julija Tymošenko focht das von der ZWK verkündete Wahlergebnis vor dem Obersten Verwaltungsgericht an; für einen „zweiten Majdan“ fehlte die vor-revolutionäre Atmosphäre.

3 Hanna Herman, Janukovyčs getreue Interpretin, wies den aufkommenden Vergleich mit Vladimir Putin zurück: „Janukovyč ähnelt eher Obama als Putin“. Sein neues Image verdankt Janukovyč dem PR-Konsultanten Paul Manafort (von der Firma David Manafort), der bereits im Jahre 2005 den „image maker“ Philip Griffin anheuerte, um den „unfairen“ Wahlkämpfer des Jahres 2004 für den
(Parlaments-)Wahlkampf im Jahre 2006 zu rehabilitieren. Kyiv Post, 08.10.2010, S. 16.

4 Siebte Jahresversammlung der Yalta European Strategy (YES), einer Initiative des Oligarchen Viktor Pinčuk; Jalta, 01.10.2010.

5 Am 3. März 2010 sprach die Verchovna Rada der Regierung Tymošenko ihr Misstrauen aus – und versetzte damit ihrer maroden „demokratischen (Regierungs-)Koalition“ den Gnadenstoß; von den 243 Stimmen kamen 15 aus der Fraktion NU-NS und 7 aus Tymošenkos eigener Fraktion BJuT.

6 Parlamentsfraktion des inoffiziell Blok Juščenko genannten Wahlbündnisses gleichen Namens.

7 Zweck des ursprünglichen Artikels 61 war es, den „Kauf“ von Abgeordneten zu verhindern.

8 Die abtrünnigen Mitglieder der beiden oppositionellen Fraktionen wurden prompt als zugekaufte „Tuški“ (zum Verkauf angebotene Schlachthühner) stigmatisiert. Bis zum Juli 2010 hatte sich ihre Zahl auf 37 erhöht. Julja Tymošenko behauptete in einer Sendung des Kanals INTER, Mitgliedern der beiden Oppositionsfraktionen würden einmalig 1 Million USD und 25 000 USD monatlich für den Seitenwechsel geboten.

9 Der Oberste Justiz-Rat entscheidet über die Karrieren von Richtern.

10 Zakon Ukraïny «Pro sudoustrij i status suddiv» (№ 2453-VІ) vom 07.07.2010.

11 In einer Rede vor deutschen Geschäftleuten während seines offiziellen Besuches in Berlin am 30.08.2010 (im Hotel Adlon) verwies Präsident Janukovyč auf das kürzlich von der Verchovna Rada angenommene Gesetz über die Justizreform, dessen Ziel die Ausmerzung der Korruption in der Justiz sei. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 30.08.2010.

12 Und auch in der Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates vom 27. September 2010 heißt es (7.3.2): „Die Versammlung drückt ihr tiefes Bedauern darüber aus, dass dieses Gesetz im Juli 2010 in großer Eile verabschiedet wurde, ohne die Schlussfolgerungen der Venedig Kommission abzuwarten…“; zitiert nach Oleksandra Pryjmačenko: Čtoby da, tak net, in der Wochenzeitung Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 37 (817), 09.-15.10.2010.

13 Irmgard Griss, die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes Österreichs – und Vorsitzende des Netzwerks der Vorsitzenden Richter der Obersten Gerichtshöfe der Europäischen Union – sagte bei einer Begegnung mit Vertretern des Obersten Gerichtshofes der Ukraine in Kiew, dass der Entzug des Rechts, über Berufungen zu befinden, „die Rechte und Freiheiten der ukrainischen Bürger beschränkt.“ Interfax-Ukraine, Kiew, 24.09.2010.

14 Einer der Autoren des Gesetzentwurfs, Andrij Portnov, war der juristische Berater der Präsidentschaftskandidatin Julija Tymošenko; nach der Niederlage seiner „Mandantin“ lief er zu dem Sieger Janukovyč über.

15 Absatz 6 des Artikels 83 der Verfassung – sowie Absatz 4 des Artikels 61 des „Gesetzes über die Geschäftsordnung der Werchowna Rada“.

16 Im Jahre 2006 verabschiedete die Verchovna Rada ein Gesetz, das dem Verfassungsgericht ausdrücklich verbietet, die im Dezember 2004 angenommenen Änderungen der Verfassung auf ihre Verfassungsmäßigkeit auch nur zu prüfen.

17 Die Entscheidung wurde von allen 18 Verfassungsrichtern unterzeichnet. Kein Minderheitsvotum, lediglich eine „besondere Meinung“ ließ einer der Richter (Šiškin) registrieren. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 01.10.2010.

18 Der Titel der Resolution vom 05.10.2010 lautet: “The honouring of obligations and commitments by Ukraine”.

19 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), Obraščenie Janukovyča k narodu, 01.10.2010; Interfax-Ukraine, 01.10.2010. Die Rede wurde auf der offiziellen Website des Präsidenten veröffentlicht.

20 Im Jahre 2007, als Janukovyč Premierminister war, schrieb er in einem Artikel für die Wochenzeitung Zerkalo Nedeli: „Die Mehrheit unseres Volkes würde Maßnahmen zur Rücknahme der politischen Reform (von 2004) als Rückkehr zu totalitären Zeiten auffassen und würde sie zurückweisen.“ Zitiert von Jurij Onyshkiv und Marck Rachkevych: Constitutional Court nixes 2004 changes, in Kyiv Post, 07.10.2010.

21 Siehe Winfried Schneider-Deters, Kapitel III, Die Ukraine, 2.6 Die „politische Reform“ – ein verfassungsrechtliches Chaos, in: Winfried Schneider-Deters, Peter W. Schulze, Heinz Timmermann: Die Europäische Union, Russland und Eurasien. Die Rückkehr der Geopolitik, Berlin 2008, S. 281.

22 Hrycenko ist Vorsitzender der Partei Hromadjanska Posycija (Bürgerliche Position, Bürgerschaftliche Position); als Präsidentschaftskandidat schied er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen aus.

23 Im revolutionären Winter 2004 war Julija Tymošenko – ihre eigene zukünftige Präsidentschaftskandidatur vor Augen – vehement gegen die „politische Reform“ aufgetreten, die eine Schmälerung der Macht des Präsidenten zugunsten des Parlaments bedeutete. Mitte 2009 verhandelte die Premierministerin Tymoschenko mit dem Vorsitzenden der oppositionellen Partei der Regionen Janukovyč über eine Verfassungsänderung, für welche die Fraktionen PR und BJuT die nötige Zweidrittelmehrheit von 300 Stimmen in der Verchovna Rada gehabt hätten. Tymošenko befürwortete die Umwandlung des bestehenden parlamentarisch-präsidentiellen Systems in ein rein parlamentarisches System, weil – im Jahr der Krise – „die Gefahr bestand, dass Janukovyč die Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte“. Interview mit Sergej Rachmanin, Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 37 (817), 09.10.2010, S. 2.

24 Während der Geltungsdauer der „reformierten“ Verfassung wurden über 700 Gesetze erlassen, von denen nach Meinung des Parlamentspräsdidenten Lytvyn mindestens 40 novelliert werden müssen, um der wieder zur Geltung gelangten „alten“ Verfassung von 1996 zu entsprechen.

25 Interfax-Ukraine, 01.10.2010.

26 Interfax-Ukraine, Simferopol, 28.09.2010.

27 Auch dem Präsidenten Kučhma genügten die Vollmachten nicht, welche die Verfassung von 1996 ihm gab. Durch ein „Referendum auf Initiative des Volkes“ versuchte er mehr Macht zu erlangen, ein Unterfangen, das an der Verchovna Rada scheiterte.

28 Interfax-Ukraine, 01.10.2010.

29 LIGABiznesInform, 08.07.2010.

30 Die neu gegründete Partei Silna Ukrajina ist nicht in der Verchovna Rada vertreten.

31 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 03.06.2010.

32 Eine weitere, nicht rückgängig gemachte Änderung des Wahlgesetzes richtet sich gegen Julija Tymošenko; das novellierte Wahlgesetz lässt zu den kommenden Kommunalwahlen nur noch Parteien zu, keine Wahlbündnisse („blok“). Der Name von Julija Tymošenkos eigener Partei Bat’kivščyna („Vaterland“) hat nicht dieselbe Zugkraft wie ihr eponymer „Blok Julija Tymošenko“. Die als BJuT registrierte Fraktion in der Verchovna Rada wurde in Blok Julija Tymošenko – Bat’kivščyna umbenannt, was jedoch aus formellen Gründen wieder rückgängig gemacht werden musste.

33 UNIAN, 12.10.2010.

34 Am 28.07.2010 genehmigte der IMF ein Stand-by Arrangement in Höhe von 15,8 Milliarden USD für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren.

35 Interfax-Ukraine, 29.09.2010.

36 Der dem Präsidenten direkt unterstellte Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat, mit dem Präsident Juščenko „regierte“, ist unter Präsident Janukovyč noch nicht in Erscheinung getreten; Janukovyč bedient sich des Inlandsgeheimdienstes (SBU), der seinem sowjetischen Verständnis von Machtausübung und -erhaltung angemessener entspricht.

37 In der Ära des Präsidenten Kučma war Azarov als erster Leiter der – von ihm gegründeten – „Staatlichen Steuerbehörde“ berüchtigt für die fiskalische Einschüchterung oppositioneller Medien und „unfreundlicher“ Unternehmer. Dem Premierminister Janukovyč diente Azarov zweimal als Finanzminister (2002 – 2004; 2006 – 2007).

38 Erste Amtszeit: 21.11.2002 – 28.01.2005 (mit kurzer Unterbrechung); zweite Amtszeit: 04.08.2006 – 18.12.2007.

39 Die SBU beschäftigt 30 000 „offizielle“ Mitarbeiter. Die staatlichen Kreis-Verwaltungen wurden von der SBU aufgefordert, über Unternehmen und öffentliche Einrichtungen Erkundungen einzuholen, so z. B., darüber, für wen der betreffende Leiter in den zurückliegenden Wahlen gestimmt habe, welcher Partei er angehöre, ob er eventuell zur „Kooperation“ bereit sei, etc. So versuchte sie zum Beispiel, den Rektor der Katholischen Universität in Lviv (Lemberg), Borys Gudzjak, „anzuwerben“, wie dieser öffentlich erklärte. Er wurde von Agenten des Dienstes genötigt, einen Brief zu unterschreiben, in welchem er seine Verantwortung für das politische Engagement seiner Studenten bestätigen sollte.

40 So bei dem Provider OOO Intertelekom in Odessa.

41 Federal’naja Služba Bezopasnosti.

42 Der Vertrag erlaubt die Rückkehr von Mitarbeitern der russischen FSB nach Sevastopol.

43 Laut Korrespondent und Dragon Capital liegt er mit 800 Millionen USD auf Platz 14 der reichsten Männer der Ukraine; Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 10.06.2010.

44 Lange wurde am 27. Mai auf dem Flughafen Borispil die Wiedereinreise verweigert, ohne dafür eine Erklärung zu erhalten. Er hatte in einem Artikel, der auf der Website der KAS veröffentlicht wurde, sowie in einem Interview mit der Deutschen Welle kritisch über die ersten Hundert Tage des Präsidenten Janukovyč berichtet.

45 Die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte die Anweisung der SBU „wegen drohender Einmischung in Angelegenheiten, welche in die Jurisdiktion der Ukraine fallen“. Interfax-Ukraine, Kiew, 30.07.2010.

46 Deutsche Welle, 27.08.2010.

47 Interfax-Ukraine, Kiew, 08.09.2010.

48 Der Bildungsminister Tabačnyk provoziert turnusmäßig die Westukraine durch den Ausschluss der „österreichischen Galizier“ aus der slawischen Gemeinschaft (mit Russland). Zu der historischen Provinz Galizien (ihrem östlichen Teil, der auf dem Territorium der heutigen Ukraine liegt) gehören die drei westukrainischen Oblasti Lviv, Ivano-Frankivs’k und Ternopil.

49 RFE/RL 09.09.2010. Das Museum war von der SBU selbst unter dem früheren Leiter Nalyvajčenko, als in dem „Dienst“ noch ein anderer Geist herrschte, im Jahre 2009 eingerichtet worden.

50 Präsident Juščenko hatte die Freigabe geheimer Dokumente der ukrainischen Sektion des KGB verfügt – u. a. Dokumente über den „Holodomor“ 1932 / 33 und über die OUN und ihren militärischen Arm UPA. Nach der Machtübenahme durch Präsident Janukovyč wurden die Archive der Nachfolge-Organisation SBU wieder geschlossen. Am 13. und 14. September durchsuchte die SBU das Museum und konfiszierte weitere Computer.

51 Natalja A. Fedusčak: “Harassment of historian raises censorship fears”, in: Kyiv Post, 15.09.2010.

52 Presse-Mitteilung der SBU vom 15.09.2010, zitiert nach Natalja A. Fedusčak. Die “historische Wahrheit” des Regimes Janukovyč gleicht der des Moskauer Kreml, nach der die Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA, Ukrajinska Povstanska Armija) Kollaborateure der deutschen Besatzungsmacht waren.

53 „Cenzorov net – a cenzura est’” – eine Formulierung der Wochenzeitschrift Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 37 (817), 09.-15.10.2010, S. 1.

54 Soziologischer Dienst des Razumkov-Zentrums für politische und ökonomische Studien; Umfrage vom 30.09. bis 05.10.2010.

55 „Velika Politika z Evgeniem Kiselovim“ zum Thema: „Die Rolle der Opposition im Lande“, Kanal INTER, 15.10.2010.

56 In der Klassifizierung der amerikanischen Organisation Freedom House droht der Ukraine der „Abstieg“ von „free“ auf „partly free“. Die European Federation of Journalists und die Organisation Reporter ohne Grenzen äußerten ihre „Besorgnis“ über Einschränkungen der Pressefreiheit in der Ukraine.

57 Interfax-Ukraine, Kiew, 17.06.2010.

58 Interfax-Ukraine, New York 23.09.2010. Er kündigte die Schaffung eines öffentlichen Rundfunks (public service broadcasting) an, dessen redaktionelle Politik von der Zivil-Gesellschaft bestimmt werden würde.

59 The Wall Street Journal, 23.09.2010.

60 In den letzten zwei Jahren der Amtszeit des Präsidenten Kučma (2002 – 2004) zensierte die Präsidialadministration die Medien in Form von so genannten „temniki“, Anweisungen über die nachrichtliche Behandlung bestimmter Themen in den Medien.

61 In einem Interview mit Journalisten in der Agentur UNIAN, 10.06.2010.

62 In einem offenen Brief wandte sich die Redaktion des „Fünften Kanals“ an Präsident Janukowitsch und ersuchte ihn – naiv („…wenn das der Führer wüsste…“) oder taktisch geschickt – um seinen „persönlichen Schutz“: „Hinter Ihrem Rücken versucht der Chef der SBU, Valerij Choroškovskyj, […] den Fünften Kanal zu vernichten.“ Der „Fünfte Kanal“ gehört dem Unternehmer Porošenko, der in der Orangenen Revolution den Präsidentschaftskandidaten Juščenko unterstützte und diesem nach seiner Inauguration als Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates diente.

63 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 13.10.2010. Mijatovic traf sich mit dem Parlamentspräsidenten Volodymyr Lytvyn, dem Außenminister Kostjantyn Hryščenko, der Stellvertretenden Leiterin der Präsidialadministration Hanna Herman, dem Vorsitzenden des Medien-Ausschusses der Verchovna Rada, Andrij Ševčenko sowie mit Vertretern der Medien und der bürgerschaftlichen Gesellschaft.

64 Dunja Migatovic, Representative on the Freedom of the Media der OSZE, erinnerte öffentlich an den Mordfall Gongadze.

65 Miklosh Marshall, Transparency International.

66 Am 12. Mai 2010 wurde Julija Tymošenko von der Generalstaatsanwaltschaft vorgeladen.

67 In Haft genommen wurden Mitglieder ihrer Regierung, andere von der SBU verhört.

68 Trout Cacheris (eine kleine Kanzlei mit neun Anwälten; Deutsche Welle; Plato Cacheris gilt „Star-Anwalt“ in Strafverfahren); Akin, Gump, Strauss, Hauer and Feld. (Die Firma Akin Gump wacht über die Reputation des „reichsten Mannes“ der Ukraine, Rinat Achmetov; sie bedroht investigative Journalisten, die in dessen Vergangenheit stöbern, mit ruinösen Gerichtsverfahren.) Die amerikanische „law firm“ Kroll wurde bereits im Jahre 2001 von dem Oligarchen Pinčuk, dem Schwiegersohn des Präsidenten Kučma, mit der Untersuchung des Mordes an dem Internet-Journalisten Gongadze beauftragt. Die einseitige und unvollständige Untersuchung wurde als Versuch gewertet, Präsident Kučma von dem Verdacht rein zu waschen, den Mord in Auftrag gegeben zu haben.

69 Report of Investigative Findings – Pursuant to Agreement on Performance of Audit on the Efficience of Use by the respective Controllers of the Budget Funds in 2008-2009 and in the First Quarter of 2010, October 14, 2010. Trout Cacheris PLLC, Akin Gump Strauss Hauer & Feld LLP, Kroll Inc.

70 Die Zeiträume 2002 – 2004 sowie 2006 – 2007, in denen Janukovyč Premierminister war, werden nicht untersucht. Dies widerspricht der Aussage von Plato Cacheris, der auf einer Pressekonferenz am 09.06.2010 sagte, der Untersuchungszeitraum würde die letzten drei oder vier Jahre umfassen Wahrscheinlich war ihm dabei nicht bewusst, dass sein Auftraggeber Janukovyč von August 2006 bis Dezember 2007 (in der Amtszeit des Präsidenten Juščenko) Premierminister war.

71 Hryhorij Nemyrja, Tymošenkos außenpolitischer Berater. Pressemitteilung (in englischer Sprache) der Fraktion BJuT-Bat’kivščzna, Kiew, 14.10.2010. Nach Aussage von Nemyrja ist die Firma Trout Cacheris spezialisiert auf die Verteidigung von Mandaten mit „dubioser Reputation“.

72 Auf die weiteren fünf Untersuchungsgegenstände, u. a. die Abzweigung staatlicher Mittel für ihren Wahlkampf, ging Julija Tymošenko nicht ein. Das Notstands- und das Innenministerium verklagten eine britische Firma und eine amerikanische in GB bzw. in den USA wegen des Verkaufs von abgeschriebenen Krankenwagen bzw. Impfstoffen zu überhöhten Preisen; laut dem 176-seitigen Bericht soll die Premierministerin – ohne dass ihr Name oder die Namen anderer hochrangiger Mitglieder ihrer Regierung genannt werden – in diese u. a. korrupte „deals“ involviert gewesen sein. “In our report one can see a list of transactions that lead to Tymoshenko,” sagte Mark Macdougall, ein Partner von Akin Gump, auf der Pressekonferenz in Kiew am 14.10.2010, auf welcher der Revisionsbericht vorgestellt wurde.

73 Sperma- „Flecken auf einem Rock“ hätten nichts mit Wirtschaftsprüfung zu tun, sagte Tymošenko unter Anspielung auf die Verteidigung von Monika Lewinsky durch eine der amerikanischen Firmen.

74 Miklosh Marshall, Transparency International; Ukrainskaja Pravda, 15.10.2010.

75 So trat der Oligarch Rinat Achmetov – beraten von der Jock Mendoza-Wilson, dem Direktor der Firma International and Investors Relations, aus dem Schatten an das Licht der Öffentlichkeit und präsentierte seine Holding System Capital Management als modernen, globalisierten Konzern. Kyiv Post, 08.10.2010,
S. 16.

76 Der Oligarch Rinat Achmetov lässt in zwei „Think Tanks“ darüber nachdenken, wie die Zukunft der Ukraine aussehen soll – in der Foundation for Effective Governance und im Bureau for Economic and Social Technologies (BEST).

77 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 03.06.2010.

78 James Sherr: The Mortgaging of Ukraine’s Independence; Briefing Paper, Royal Institute of International Affairs (Chatham House), London; August 2010 (REP BP 2010/01). James Sherr ist Leiter des Russia and Eurasia Programme.

79 Der Oligarch Rinat Achmetov ist Vorsitzender des Clubs Šachtër Doneck; der Oligarch Oleksandr Jaroslavskij Vorsitzender des Clubs Metalist Charkiv; der Besitzer der Privat-Gruppe, Ihor Kolomojskij, Vorsitzender des Aufsichtsrates des Clubs Dnipro (russ. Dnepr) in Dnepropetrovsk und Vizepräsident des Fußballbundes der Ukraine; Ihor Surkis ist Vorsitzender des Clubs Dynamo Kyiv – und sein Bruder Hryhorij Surkis Präsident des ukrainischen Fußballbundes.

80 Interfax-Ukraine, Kiew, 06.10.2010 unter Verweis auf den Pressedienst des Präsidenten.

81 So wurde von den 420 Änderungsanträgen der Opposition zum Regierungsentwurf des „Gesetzes über die Grundlagen der Innen- und Außenpolitik“ nicht ein einziger berücksichtigt.

82 Die Verchovna Rada verfügt über einen eigenen Fernseh-Kanal, der Sitzungen des Parlaments überträgt.

83 „In der Verfassung ist der Begriff „Opposition“ nicht vorgesehen“ – zitiert nach: Aleksej Mustafin: Der 14. Thermidor des Viktor Janukowitsch, in: Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 37 (817), 09.-15.10.2010, S. 1 und 3, hier S. 3.

84 „humanitäre“ Angelegenheiten im Sinne von gesellschaftlich, bürgerschaftlich, „civil“.

85 Die Amtsenthebung (mit der großen Mehrheit von 378 Stimmen) gelang nur deshalb, weil auch die regierende Partei der Regionen mit ihm nicht glücklich war. Seine Tätigkeit habe nicht dem Programm der Partei der Regionen und dem Programm der Regierungskoalition entsprochen, hieß es aus deren Kreisen.

86 Internationales Schiedsinstitut der Stockholmer Handelskammer.

87 Die Vermittlungsgesellschaft RosUkrEnergo (RUE) hatte auf Herausgabe von 11 Milliarden Kubikmeter unterirdisch gelagerten Erdgases geklagt, die von der Regierung Julija Tymošenko beschlagnahmt worden waren. Die RUE AG ist ein paritätisches Gemeinschaftsunternehmen der russischen OAO Gazprom und der Centragas Holding AG, an welcher der ukrainische Oligarch Firtash 90 % – und damit 45 % an RosUkrEnergo – hält, wurde im Sommer 2004 (im letzten Amtsjahr des Präsidenten Kučma) gegründet. In den Jahren 2006 bis 2008 hatte die RUE das Monopol für den Import von Erdgas aus und über Russland.

88 Auf Betreiben von NGOs und auf Empfehlung der Venedig-Kommission war die Kategorie „spontane Versammlungen“ in den Entwurf aufgenommen worden; die Bedingungen wurden vom zuständigen „Ausschuss für Menschenrechte“ (!) jedoch so eng definiert, dass „spontane Versammlungen“ ohne Umstände verboten und aufgelöst – und Aktivisten verhaftet – werden können.

89 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 04.06.2010.

90 Interfax-Ukraine, Brüssel, 13.09.2010.

91 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 13.09.2010.

92 Umfrage vom 24.05. bis 03.06.2010. Interfax-Ukraine, Kiew, 07.06.2010.

93 Ehemaliger Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine.

94 An dem Protest gegen den „Charkiv Deal“ beteiligten sich weniger als zwei Tausend Bürger.

95 Ukr.: „Stop Censuri!“ / russ.: „Stop Censure!“.

96 Eine öffentliche Debatte mit der begnadeten Rednerin Julija Tymošenko hatte Janukovyč mit diesem Argument abgelehnt.

97 Ukraiinskaja Pravda (russ. Version), 13.09.2010.

98 Dietmar Stüdemann, ehemaliger Botschafter Deutschlands in der Ukraine, sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle, die „auf Stabilität konzentrierte“ Innenpolitik des Präsidenten Janukovyč könne als „autoritär charakterisiert“ werden. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 04.06.2010.

99 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (PACE): Resolution on the Functioning of Democratic Institutions in Ukraine, Nr. 1755 (2010), 05.10.210.

100 04.- 08.10.2010; die Ukraine-Resolution wurde am 05.0.2010 erörtert und angenommen.

101 Der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates, Mevlüt Cavuşoğlu, ist nicht der Meinung, dass sich in der Ukraine eine Monopolisierung der Macht durch die eine oder andere Partei vollzieht. Cavuşoğlu gehört in der Versammlung der Gruppe an, der auch die Vertreter der russischen Partei Edinaja Rossija (Einiges Russland) – sowie einige Mitglieder der Partei der Regionen, u. a. der Erste Stellvertretende Premierminister Serhij Kljuev und Julija Novikova, die Schwester des Leiters der Administration des Präsidenten Janukovyč – angehören.

102 Die Berichterstatterin Wohlend drückte dies banaler aus: bei ihren Gesprächen mit Vertretern ukrainischer Behörden stoße sie auf offene Ohren, auch auf Einsicht in demokratische Defizite; die versprochenen Verbesserungen aber würden gleich nach ihrer Abreise wieder vergessen.

103 Namentlich der ukrainische Außenminister (sowjetischer Schule) Hryščenko versteht es, implizit formulierten Tadel in Lob zu verwandeln: „Diese Resolution beweist die offenkundige Tatsache, dass die Demokratie in der Ukraine tiefe Wurzeln geschlagen hat.“ Interfax-Ukraine:

104 Am 28. September hatten neun oppositionelle Parteien in einem Brief an die Präsidenten des Rates, der Kommission und des Parlaments der Europäischen Union, der Parlamentarischen Versammlungen des Europa-Rates und der OSZE dazu aufgerufen, das Ergebnis der Kommunal-Wahlen am 31. Oktober 2010 nicht anzuerkennen, wenn der Beweis für dessen Fälschung erbracht werden könne.

Autor:   Winfried Schneider-Deters — Wörter: 10634

Winfried Schneider-Deters
Jahrgang 1938; Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Heidelberg.
1975 – 2003: Leiter von nationalen und regionalen Projekten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Lateinamerika (Venezuela), Ostasien (Korea), Zentralasien und im Südkaukasus.
Von 1996 bis 2000: Aufbau und Leitung des „Kooperationsbüros Ukraine“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew.
Seit 2004: Freier Autor (Veröffentlichungen zur Innen- und Außenpolitik der Ukraine).

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