Martin Dietze: Die Suche nach einem geeigneten politischen System
In seinem Artikel Die semipräsidentielle Zeitbombe unter dem ukrainischen Staat geht Andreas Umland auf die Gefahr ein, die von der derzeitigen Machtteilung zwischen der Regierung im Parlament einerseits und dem Präsidenten andererseits ausgeht. Es scheint allgemein ein Konsens zu herrschen, dass diese Situation zu einer politischen Handlungsunfähigkeit geführt hat und möglichst schnell beseitigt werden muss. Ein besonderer Fokus dieses Artikels liegt auf der im nächsten Jahr anstehenden Präsidentenwahl in der Ukraine, den damit verbundenen Problemen und auf die angedachte Möglichkeit einer Verfassungsänderung, nach der quasi mit sofortiger Wirkung die Direktwahl der Präsidenten durch eine Wahl durch das Parlament ersetzt würde. Hierbei wird hervorgehoben, dass eine erneute Wahl für das Land praktisch nicht finanzierbar wäre und auch, dass eine Verfassungsreform wie die angedeutete geeignet sein könnte, die verhängnisvolle Pattsituation zu beenden. Obwohl ich mit den im o.g. Artikel aufgeführten Analysen weitgehend übereinstimme, möchte ich doch der letzten Konklusion ein wenig widersprechen.
Beginnen wir dafür zunächst einmal mit einem Blick zurück in das Jahr 2004. Nachdem die damalige Regierung unter Präsident Kuchma sich schließlich gezwungen sah, den Wahlsieg Juschchenkos anzuerkennen, wurde am damaligen runden Tisch ein Kompromiss vereinbart, demzufolge nach einem Jahr eine Verfassungsänderung inkraft treten sollte, die einen Teil der Macht des Präsidenten auf die Regierung im Parlament übertrug. Eine Verfassungsänderung in diese Richtung (wenn auch weitergehend) war schon vor der Wahl diskutiert worden, und man kann trefflich darüber spekulieren, was damals der Antrieb für jene Pläne gewesen war (Präsident Kuchma durfte nach zwei Amtszeiten kein drittes Mal für das Präsidenten-Amt kandidieren). Die Ende 2004 beschlossene Änderung der Verfassung, die eigentlich schon den Ruf hatte, eine der besten Verfassungen der Welt zu sein, wurde – auch um weitere Unruhe im Land zu vermeiden – als notwendiger Preis für die Präsidentschaft Juschchenkos akzeptiert.
Das erste Regierungsjahr Juschchenkos wurde 2005 von einer breiten Mehrheit im Westen und einem kleinen Bevölkerungsanteil im Osten des Landes positiv bewertet. Dieses Jahr ging einher mit einem auch durch die weltwirtschaftliche Großwetterlage begünstigten Wachstum, und sie war geprägt von deutlich merklichen Anstrengungen der Regierung, das Land auf rechtstaatliche Füße zu stellen und die alles lähmende Korruption zu bekämpfen. Die Auswirkungen jener Politik waren selbst für Ausländer direkt und deutlich erkennbar, angefangen mit der Einreise, bei der nicht mehr mit Euroscheinen gewinkt werden musste, um schnell und unkompliziert abgefertigt zu werden, bis hin zu dem plötzlich angenehmen und berechenbaren Umgang mit den Staatsorganen, wie z.B. bei Straßenkontrollen durch die Polizei. Allgemein konnte man in Gesprächen mit Menschen auf der Straße oder im Freundeskreis immer wieder feststellen, dass man diese Anstrengungen wahrnahm und würdigte. Die Entlassung der Regierung Tymoschenko durch den Präsidenten nach langen internen Streitigkeiten im September 2005 war ein Rückschlag, konnte aber bis zum Jahresende durchaus verkraftet werden, da der Präsident über die Machtmittel verfügte, seine Politik weiterzuführen.
Diese Situation änderte sich nach dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung grundsätzlich. Der Präsident und die Regierung im Parlament mussten die Macht teilen und begannen, sich gegenseitig zu blockieren. Es folgte eine Phase geprägt durch wechselnde Regierungen, bis hin zum fast schon massenhaften Übertritt einzelner Parlamentarier ins politische Lager der zeitweisen “Anti-Krisen-Koalition” und – natürlich – mehrere Parlamentswahlen. Allgemein dürfte Konsens dazu bestehen, dass das Land seit 2006 vor allem Rückschritte gemacht hat. Kontrovers diskutiert wird höchstens die Frage nach dem “warum”: war es die Schuld des Präsidenten, die Schuld der Regierung im Parlament, die Schuld des ganzen Parlaments oder einfach die Schuld des ineffizienten politischen Systems? Man wird allerdings wiederum wenig Widerspruch hören zu der These, dass ein politisches System, das einem derartigen Chaos entgegenwirkt, zumindest hilfreich wäre, das Land wieder nach vorn zu bringen.
Menschen, die wie ich aus westlichen, parlamentarisch geprägten Demokratien stammen, werden instinktiv das in ihren jeweiligen Ländern vorherrschende und funktionierende System als mögliche Lösung präferieren, aber erinnert mich ein derartiges Denken an Worte, die ich in L’viv hörte – das sei doch ein wenig wie der Bauer, der sein Korn auf reicher Erde pflanzt und reich erntet und seinem Nachbarn mit weniger fruchtbarem Boden rät, dessen Korn genauso anzubauen, dann würde er schon schnell seine Erträge vergrößern. Übertragen auf die politische Situation in der Ukraine stellt sich hier die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein parlamentarisches System ähnlich dem z.B. in der Bundesrepublik in der Ukraine genauso gut funktioniert?
Die derzeitige Situation im Lande erinnert in Ansätzen an eine andere Phase der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, die Weimarer Republik. Das System an sich war demokratisch, aber es funktionierte nicht, weil es zuviele politische Kräfte im Parlament (und auch ausserhalb) gab und viele von ihnen sich einfach nicht an grundlegende demokratische Regeln hielten. Die unmittelbaren Folgen waren instabile Regierungen, häufige Neuwahlen und ein rapider Vertrauensverlust des Volkes in die Demokratie an sich. In der Ukraine hingegen herrscht noch ein semipräsidentielles System, aber auch hier kann gesagt werden, dass das Parlament, das nun schon den größeren Teil der Macht hält, schlichtweg nicht funktioniert. Indizien dafür sind der große Einfluss der Oligarchen auf ihnen nahestehende Fraktionen, die offensichtliche “Beeinflussbarkeit” einzelner Parlamentarier, die 2006 derart massenhaft das Lager wechselten, dass aus der anfangs dünnen Mehrheit der “Anti-Krisen-Koalition” eine zur Verfassungsänderung qualifizierte zu werden drohte. Zudem sollte auch auf den für ukrainische Verhältnisse extremen Reichtum vieler Parlamentarier hingewiesen werden, für die die politische Arbeit oft eher eine Nebentätigkeit darstellt, durch die die eigenen Geschäftsinteressen unterstützt werden. Dieser Reichtum steht in krassem Kontrast zu sowohl der großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung als auch zu den Einkommensverhältnissen westeuropäischer Parlamentarier.
All dies spricht m.E. gegen eine Reform hin zu einem stärker parlamentarisch ausgerichteten System in der Ukraine. Da ein autoritäres System wie in Weißrussland und (zumindest von einigen so gesehen) in der Russischen Föderation allgemein abgelehnt wird, böte sich als Ausweg aus der aktuellen Situation eine präsidentielle Demokratie an, was derzeit von Präsident Juschchenko präferiert wird, obwohl er sehr wohl weiß, dass er kaum realistische Chancen hätte, selber in den Genuss seiner (Rück-) Reform zu kommen. Für das System eines starken, vom Volk direkt gewählten Präsidenten spräche u.a. folgendes:
- Die politische Pattsituation würde beseitigt. Die Folge wäre eine erhöhte Stabilität des politischen Systems und die Möglichkeit, einen politischen Kurs einzuschlagen und für eine gewisse Zeit auch verfolgen zu können.
- Die Transparenz würde erhöht – beispielsweise wird von vielen Ukrainern derzeit die politische Misere vor allem dem Präsidenten angelastet, obwohl er seit Anfang 2006 de-facto nicht mehr die Regierung führt. Es wäre für viele Menschen besser verständlich, direkt die Person zu wählen, mit der danach eine Politik identifiziert wird.
- Der politischen Unkultur der Korruption und Bereicherung wäre leichter das Wasser abzugraben – eine einzelne Person ist leichter zu kontrollieren als ein Haufen Parlamentarier.
- Der Spareffekt durch die Abschaffung der Direktwahl des Präsidenten würde durch ein nicht funktionierendes politisches System schon mittelfristig zunichte gemacht. Zudem käme es doch einer Karikatur von Demokratie gleich, ein politisches System primär aus kurzfristigen Kostengründen derart kurzfristig derart gravierend zu verändern.
Ein Weg hin zu einem westlich geprägten parlamentarischen System mag langfristig für das Land richtig sein. Hierfür sind aber eine Reihe von Voraussetzungen notwendig: eine funktionierende Zivilgesellschaft, ein intakter Rechtstaat und ein stabiles Parteiensystem. Die Erfahrungen der letzten vier Jahre legen nah, dass das zur Zeit noch nicht hinreichend erfüllt ist. Das gilt in besonderem Maße für die politischen Parteien, die sich in der Ukraine statt wie im Westen langfristig und um eine politische Idee eher kurzfristig und um Personen (wie z.B. die Blöcke Tymoschenko und Lytwyn) oder andere nicht immer klare Interessen herum bilden und deren politisches Profil nicht immer klar umrissen ist.
Sollten uns nun die Argumene für eine präsidentielle Demokratie einleuchten, bleibt natürlich die Frage nach der Umsetzbarkeit. Denkbar sind derzeit drei Szenarien von unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit: (a) die das Parlament stärkende Verfassungsreform, (b) die den Präsidenten stärkende Verfassungsreform und (c) die Beibehaltung des aktuellen Zustandes. Für die ersten beiden Varianten würde jeweils eine breite Parlamentsmehrheit benötigt, so dass eine Kooperation zwischen Regierungs- und Oppositions-Fraktionen zwingend nötig wäre. Es spricht zur Zeit alles dafür, dass sich eine derartige Mehrheit nur bilden lässt, wenn beide Seiten darin einen Vorteil für sich selbst (und gegen ihren Partner bei der jeweiligen Reform!) sehen.
So dürften sich zur Zeit sowohl der Block Tymoschenko als auch die Partei der Regionen Hoffnung auf ein ein “störungsfreies” Arbeiten ohne lästige Interventionen eines jeweiligen Präsidenten machen, beide Seiten hätten sich des Problems entledigt, neben einer Mehrheit im Parlament auch das Präsidentenamt erringen zu müssen, um ungestört ihren Zielen nachgehen zu können. Insofern dürfte aktuell nach wie vor eine Menge dafür sprechen, dass es zu einer “parlamentarischen” Lösung kommt.
Weniger wahrscheinlich aber im Prinzip durchaus nicht ausgeschlossen wäre aber auch eine derartige Kooperation mit dem Ziel der Wiederherstellung der Macht des Präsidenten, in der beide Seiten darauf spekulierten, bei einer Präsidentenwahl im nächsten Jahr als Sieger hervorzugehen und dann unter weniger Einfluss lästiger Koalitionspartner regieren zu können.
Allerdings deutet die Tatsache, dass beide Seiten sich bislang auf kein gemeinsames Vorgehen einigen konnten, darauf hin, dass sie sich durchaus des Risikos bewusst sind, für die jeweils andere Seite unfreiwillig zum Steigbügelhalter werden zu können. Dies stützt für mich persönlich die These, dass vorerst alles beim alten bleiben und sich die Situation für das Land eher noch verschärfen wird.