Modernisierung durch Krieg Teil 2
Die erzwungene bolschewistische Ukrainisierung setzte mit der Zeit den Schlusspunkt für die UdSSR.
Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkriege endeten für die Ukraine mit einem riesigen inneren Bürgerkonflikt. Wenn der Erste Weltkrieg die Horizonte gerade für die Ukrainer unglaublich erweiterte und zur praktischen Umsetzung der bis vor kurzem rein theoretischen Programme drängte, so wurde der Bürgerkrieg irgendwie zu einer Art Hexenkessel, in dem aus dem Blut und den gewaltigen menschlichen Verlusten die moderne ukrainische Nation gegart wurde. Der Zweite Weltkrieg schuf die Vereinigung der ukrainischen Lande innerhalb der Grenzen der Ukrainischen Sowjetrepublik mit einer damit verbundenen Bildung eines quasi-ukrainischen Regierungsapparates und dem Auftauchen einer sowjetischen wissenschaftlich-technischen Intelligenzia. Die ukrainische Widerstandsbewegung sorgte für internationale Werbung für das Thema „der anderen“, nicht-sowjetischen Ukraine.
Natürlich verloren die theoretischen Diskussionen nicht an Spannung: Man diskutierte darüber, was die ukrainische Nation wirklich sei, auf welcher Grundlage es für sie gut wäre, sich zu gründen, der ethnischen oder der patriotisch-politischen. Man debattierte über die Wege zur Erlangung staatlicher Unabhängigkeit und selbst über das Wesen des Staates: sozialistisch (sozial gerecht), monarchistisch, von Arbeitern und Bauern geprägt (sowjetisch). Es gab heftige Befürworter auch totalitärer Projekte, des kommunistischen wie des natiokratischen. Oftmals konkurrierten diese Entwürfe so stark miteinander, dass es mit kriegerischen Zusammenstößen, Staatsstreichen und sogar Kriegen endete. So wurde eine kollektive Erfahrung gewonnen und die moderne Struktur der ukrainischen Nation geschaffen.
Wenn man diese diesen Zeitraum analysiert, darf man den Einfluss äußerer Faktoren und den Mangel jeglicher vorhergehender eigener Erfahrung nicht unterschätzen. Eines kann man mit Bestimmtheit behaupten: Der Erste Weltkrieg hat zum Zusammenbruch von Imperien und zur Bildung einer Reihe von unabhängigen Nationalstaaten beigetragen. Die kurzdauernde ukrainische Staatlichkeit mag in einer Auflösung geendet sein, aber sie legte wichtige Grundlagen für die Zukunft. Als Ergebnis der Modernisierung durch den Krieg kamen unter den Ukrainern militärische und administrative Führungskräfte auf, eigene Helden, Märtyrer und Gefallene für die nationale Sache.
In diesem Krieg kristallisierte sich unter dem Druck einer Vielzahl von Umständen gerade der Begriff „Ukrainer“ heraus. Man hörte Diskussionen über „Ruthenen“, „Alt-Ruthenen“, „Kleinrussen“, aber das war ebenso wichtig für die interne Konsolidierung wie für die Vorstellung nach außen. Nach dem Krieg verwandelten sich die Ukrainer sehr schnell aus einem passiven Objekt internationaler Politik zu einem aktiven Subjekt. Immer mehr begannen sie an ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben und zu erkennen, dass man die politischen Umstände und die Welt um sich herum verändern kann.
Der Krieg ist nicht nur bewaffneter Kampf
Geschichte verläuft nicht im Konjunktiv, deshalb ist es sinnlos herumzuraten, was wäre geschehen, wenn oder aus seiner Vergangenheit das Ruhmreichste und Heroischste auszuwählen und sich dann zu wundern, warum denn in der Mehrzahl der Fälle alles im Scheitern endete. Ist es nicht besser, sich auf die kritische Analyse der ukrainischen Vergangenheit und die Konkretisierung dessen, was genau die erfolgreiche Umsetzung der Pläne verhinderte, zu konzentrieren? Zu verstehen, warum man während eines bestimmten Zeitabschnitts der Geschichte gerade eine solche und keine andere Strategie und Taktik verwendete, warum die Ausrichtung an einem äußeren Faktor eine so große Rolle spielte? Erst dann wird man verstehen können, wann die Welt von den Ukrainern zu hören und wann man mit ihnen zu rechnen begann. Und die allerwichtigste Frage: wann beginnen die Ukrainer, den Verlauf der eigenen Geschichte zu beeinflussen?
Um die Modernisierungs-Sprünge der Ukrainer zu betrachten, die der Erste und Zweite Weltkrieg verursacht haben, muss man eine gewissenhafte Analyse der Gesellschaft der Vorkriegszeit vornehmen. Diese Analyse hilft dabei zu verstehen, warum die galizischen Ukrainer so überzeugte gesetzeskonforme Legitimisten waren, die russischen Ukrainer aber für Land und Boden zu allem bereit waren.
Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Ukrainer, die für ihre nationale Isoliertheit im Russischen und Österreichisch-Ungarischen Imperium bekannt waren, nicht nur ihren nächsten Nachbarn unterlegen, sondern eine gewisse Assymetrie bei der Entwicklung innerhalb der Nation bewahrten. Der riesige Verwaltungsapparat des Habsburger Reiches verzichtete fast vollständig auf Ukrainer. Man zog die Ukrainer nicht in Betracht auch wegen der fehlenden adligen und aristokratischen Klasse und abwesender Industrieller und Bankiers. Das alte österreichische Klassenwahlrecht konservierte dieses unerfreuliche Bild und verhinderte jegliche Möglichkeit nicht nur für Durchbrüche, sondern auch für eine normale Beschleunigung der Gesellschaftsprozesse.
Eine Chance „zu wachsen“, das muss man sagen, gab den österreichischen Ukrainern die allmähliche Demokratisierung: die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Forderung nach einer Änderung des administrativen und politischen Apparats. Dieser Prozess sollte Jahrzehnte dauern, und als Ergebnis stieg der Anteil der Ukrainer im System und in der Regierung des Landes und des Staates. Es sollten sich eigene Regierungskräfte bilden. Der zunehmende Einfluss im Land trug klar bei zur Schaffung der Ukrainischen Universität und damit zu einer allmählichen Ausbildung einer Schicht einer nationalen intellektuellen Elite. Dies hätte wiederum die Formung einer kompletten sozialen Struktur der ukrainischen Gesellschaft erlaubt. Aber so ist es nicht gekommen.
Verhindert haben dies die Konkurrenz zweier nationaler Projekte, das polnische und das ukrainische, und der Umstand, dass beide Völker auf dasselbe Territorium Anspruch erhoben. Das polnische Projekt wurde nicht nur weiter entwickelt, es herrschte in allen Lebenswelten des Landes. Daher haben nicht die österreichischen Reichsbeamten, sondern gerade die Polen sich der Demokratisierung und dem breiteren Zugang der Ukrainer an der Regierung widersetzt.
Es ist kein Geheimnis, dass im Habsburger-Reich die Ukrainer aufseiten der Regierung standen. In der überwiegend bäuerlichen Nation gab es keine besonderen Ansätze, dass die Regierung mit ihr rechnen musste. Nur Massendemonstrationen und Proteste, Boykott und Aufrufe, das alte ineffiziente System zu ändern, konnten die Aufmerksamkeit des kaiserlichen Wien für die Forderungen der bäuerlichen Nation auf sich ziehen.
Genau so erklärt sich die Schaffung eines spezifischen ukrainischen nationalen Geschichts-Narrativs. Die Idee Michajlo Hruschewskijs, die Geschichte eines republikanischen Volkes – einer klassenlosen ukrainischen Nation – zu schreiben und sie zu verkürzen auf Aufstände, soziale Rebellionen und Kriege schien zu jener Zeit am besten geeignet zu sein. Und genau deshalb treten in der „Ukrainischen Geschichte“ Kosaken, Rebellen und Aufständische hervor. Hier gibt es nicht viel Platz für Könige, Fürsten, Adlige und Großbürger. Ein Verständnis dafür, dass die Ukrainer die Lage nur dank ihrer großen Zahl und Organisiertheit, jedoch unbedingt im Rahmen des geltenden Rechtssystems, beeinflussen können, wurde eine unantastbare Forderung der ukrainischen Bewegung im österreichischen Galizien.
Der äußerste Legitimismus der österreichischen Ukrainer erklärt sich auch daraus, dass die Führung der politischen Bewegung weitgehend in den Händen von Anwälten lag. Erst der Krieg erschütterte ernsthaft diese Tradition. Nicht nur, dass die ukrainische Bewegung bereits vor dem Krieg in ihre Massen-Phase trat, gerade Krieg und Revolution zeigten, dass nicht nur die Kontinuität der Regierung wichtig ist. Wichtig sind das Vorhandensein von Kräften und ein Potenzial, die Regierung zu übernehmen und auszuüben, und, um es noch genauer zu sagen, Regierung zu werden. Während des Krieges bildete sich unter den österreichischen Ukrainern eine Schicht von Leuten, die bereit waren, für eine nationale Armee die Grundlage zu werden, den Rahmen für einen staatlichen Regierungsapparat zu errichten, also die Idee eines Nationalstaates mit konkretem Inhalt zu füllen. Der Krieg hat nicht wenige zunächst rein theoretische Pläne in die Wirklichkeit überführt.
Es ist richtig, dass die legitimistischen oder staatsloyalen Überzeugungen der entscheidenden ukrainischen politischen Elite noch lange sichtbar waren. Es war für sie schwer, Sprünge zu wagen und die Habsburger Nabelschnur zu durchtrennen. Dies hat sicherlich das politische Leben nach dem Krieg geprägt. Es tauchten junge radikale Leute auf, die die Politiker der Rückständigkeit und Unentschlossenheit anklagten und leider auch die parlamentarischen Methoden des Kampfes verurteilten. Diese jungen Leute waren Produkt der gesellschaftlichen Modernisierung durch den Krieg und die deshalb als einzige effektive Taktik revolutionären Terror ansahen. Das heißt, der Erste Weltkrieg hat nicht nur die gesellschaftlichen Prozesse unter den Ukrainern beschleunigt, er hat sie unglaublich radikalisiert. Ergebnis dieser Radikalisierung war die Aufstellung ukrainischer Militärverbände und die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Organisationen, die nicht an die Wirksamkeit langandauernder Entwicklungen glaubten, die der Meinung waren, dass es für die Ukrainer nicht richtig sei, Marathon zu laufen, sondern dass sie im Tempo eines Sprints, durch eine nationale Revolution auf ihren unabhängigen Staat zusteuern sollten.
Leider erwies sich der junge, nationalisierende polnische Staat als indirekter Verbündeter der ukrainischen Radikalen, indem er die liberale Nationalitäten-Politik der Habsburger nicht fortsetzte. Gerade umgekehrt, Einschränkungen, Einschränkungen und nochmals Einschränkungen der Rechte der nationalen Minderheiten wurden Grundlage der wiedererstandenen Polnischen Republik. Polen schränkte den alten liberal-demokratischen Flügel der ukrainischen Politik ein, und half damit außerordentlich den Radikalen von der OUN.
Die „Schwarze Hundertschaft“, der national gefärbte Sozialismus und die sowjetische Ukrainisierung
Im Russischen Reich war das Bild noch weniger ermutigend. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts steckten die politischen Parteien in den Kinderschuhen und Apologeten der ukrainischen Idee wurden als Spinner und Exzentriker angesehen. Darüber hinaus waren alle diese Leute unter ständiger polizeilicher Überwachung, beim geringsten Anlass wurden sie verfolgt. Respektable und wohlhabende Bürger empfanden sogar eine gewisse Sympathie für die Ukrainer, vermieden aber aus Angst, sich in den Augen der herrschenden Elite zu kompromittieren. Erst als das Fundament der Autokratie ins Wanken geriet, und der Krieg den Muff des alten Systems zeigte, da ergaben sich Perspektiven für neue soziale und nationale Bewegungen.
Mehr oder weniger war das gesamte nationale Leben in Kyjiw zentriert. Poltawa, Tschernihiw, Charkiw und Odessa blieben im Rahmen offizieller staatlicher Muster, von einem massenhaften Teilen der ukrainischen Idee konnte keine Rede sein. Selbst in Wolhynien kam es zu einer politischen Aktivität der ortsansässigen Bevölkerung durch Teilnahme an der „Schwarzen Hundertschaft“ oder am „Bund des Erzengels Michael“. Die Historiker wissen, warum gerade ukrainische Bauern an diesen Organisationen teilnahmen. Überhaupt nicht deshalb, weil sie Antisemiten waren und überzeugte Befürworter der Autokratie. Die Antwort ist einfach: es ging um Land und Boden. Die offiziellen Agitatoren versprachen für den Beitritt zur „Schwarzen Hundertschaft“ kostenlosen Boden vom Staat. Und wo konnte sich der gewöhnliche Bauer mit den Feinheiten der zaristischen Propaganda beschäftigen, dass diese Juden und Sozialisten, die die Bauern niedermachen sollten, für die Beseitigung der Autokratie mit anschließender wirklicher Entscheidung der Bodenfrage stimmen?
Die wichtigste soziale Basis der Ukrainer im Russischen Reich waren fraglos die Bauern. Die politischen Ansichten der städtischen Bevölkerung unterschieden sich nicht auf nationaler Ebene, sondern auf ideologischer. Es gab Monarchisten, Republikaner, Föderalisten, Sozialdemokraten, konstitutionelle Demokraten und viele andere Farbtöne eines breiten politischen Spektrums. Die ukrainischen Bauern blieben die meiste Zeit völlig gleichgültig gegenüber all diesen Strömungen, bis zu dem Moment, als die Sprache auf den Boden kam.
Gerade der Erste Weltkrieg versetzte dem alten System schwere Schläge und verwandelte indifferente Einwohner zu politisch aktiven Bürgern. Schade war nur, dass für die Bevölkerung der Städte und Dörfer der Ukraine die sozialistische Propaganda attraktiver und wirkungsvoller war als die nationalen Ideen. Angesichts der sozialen Basis der ukrainischen Bewegung konnte die nationale Idee nur links sein. Deshalb war die überwiegende Mehrheit der ukrainischen politischen Parteien links und zusätzlich bäuerlich, denn sie versprachen der städtischen Bevölkerung nichts. Und im Kampf mit den Bolschewiken konnten sie nicht konkurrieren, weil diese alles Mögliche und Unmögliche versprachen. Die Verkündigung des „Dekrets über den Boden“ durch die Bolschewiken brachte ihnen fraglos Sympathien seitens der ukrainischen Bauern. Hierfür zahlten diese anschließend mit dem Holodomor.
Die Modernisierungs-Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die ukrainische Gesellschaft in der Dnipro-Ukraine kann man nicht überschätzen. Es tauchte die verzweigte ukrainische Nationalbewegung auf, unabhängige Republiken wurden ausgerufen. Die Masse der Stadtbevölkerung und der Intellektuellen wechselte zur ukrainischen Position über. Ein Regierungsapparat begann sich zu auszubilden, eine ukrainische Gesetzgebung kam auf. Seit den Zeiten der Amtsführung Hetman Pawlo Skoropadskijs übte der ukrainische Staat alle hierfür notwendigen Funktionen aus. Es ergab sich der erste direkte Kontakt mit den österreichischen Ukrainern, womit der langwierige und kontroverse Prozess der Nationsbildung seinen Anfang nahm.
Ein weiteres Ergebnis, das normalerweise die ukrainischen Historiker unterbewerten, wenn sie diese turbulenten Ereignisse beschreiben, ergab sich durch Krieg und Revolution. Die Tatsache der Entstehung einer unabhängigen Ukraine konnten selbst die russischen Bolschewiken nicht mehr bestreiten, als sie das Territorium der Ukrainischen Volksrepublik eroberten. Sie mussten sogar paranationalistische Manipulationen vorspielen, als sie marionettenartige ukrainische Republiken im Donbass und im Osten ausriefen. Es war klar, dass diese bolschewistischen Republiken vorübergehend waren und ausschließlich dazu geschaffen wurden, um ein Sprungbrett für die Eroberung des Restes der Ukraine zu bilden. Aber die Sichtbarkeit des Ukrainischen mussten sie beibehalten.
Auf dieser Linie muss man auch gerade den Aufstieg der Ukrainischen Sowjetrepublik verstehen, einschließlich der Politik der Ukrainisierung. Die bolschewistische Ukrainisierung spielte eine riesige, ich würde sagen, unumkehrbare Rolle bei der Verbreitung des Nationalbewusstseins in den Städten und bis in abgelegene Dörfer der Ukraine. Sie war ein wichtiger mobilisierender Faktor, auch wenn sie durchgeführt wurde unter kommunistischen und internationalistischen Parolen. Die Existenz einer weitgehend äußerlich-formalen und kommunistischen ukrainischen Republik wurde eine Tatsache. Die Bevölkerung der Ukrainischen Sowjetrepublik gewöhnte sich an den Gedanken, dass sie in der Ukraine lebte. Die ukrainische Sprache wurde Sprache der Behörden und, was das Wichtigste ist, eine klare administrativ-politische Teilung eingeführt.
Nach einiger Zeit begann die sowjetische Regierung brutal die Politik der Ukrainisierung einzustellen und versuchte sogar, den Prozess zurückzudrehen. Es begannen Unterdrückungen, Terror, Kollektivierung und als Schlussakkord der Holodomor. Doch nichts konnte das nationale Leben stoppen, insbesondere als es infolge des Zweiten Weltkrieges gder Sowjetunion gelang, gewaltsam die Westukraine anzugliedern. Und diese eine weitere für die Bolschewiki erzwungene Ukrainisierung setzte mit der Zeit schließlich den definitiven Schlusspunkt für die Sowjetunion.
29. Januar 2015 // Wassyl Rassewytsch
Quelle: Zaxid.net
Teil 1: Modernisierung durch Krieg
Teil 3: Modernisierung durch Krieg und ein neuer Gesellschaftsvertrag