Das nationale Gedächtnis zwischen Vergangenheit und Zukunft – Über den Unterschied zwischen westlichem und postsowjetischen Modell der Erinnerungspolitik



Es ist manchmal schwer, mit Worten das auszudrücken, was man über die Geschichte denkt. Besonders dann, wenn es um die Politik des nationalen Gedächtnisses geht. Aber was kann man machen – es muss sein.

Zunächst muss man verstehen, was das überhaupt ist – ein nationales ukrainisches Gedächtnis. Wie es funktioniert und wozu man es braucht. Ich fange, wahrscheinlich, mit mir selber an.

Es kam irgendwie so, dass ich in eine Familie geboren wurde, in der mir nach meiner Geburt keiner sagte, dass ich Ukrainer sei. Ich wurde in Kiew geboren, zum Ende der Epoche der Stagnation. Wir sprachen alle russisch und ich wusste, dass diese Sprache russisch ist. Aber als Russe fühlte ich mich selbst nicht. Das heißt, es gab dieses Wort „russisch“, wie etwa im Lied „Wollen die Russen Krieg?“, aber ich fing nicht an, zu denken, dass ich „russisch“ sei. Dieses mein Land hieß nicht Russland, sondern Sowjetunion und ich wusste nicht, was „Union“ bedeutet. So wie „Burkina Faso“ gab es die „Sowjet-Union“. „Faso“ und „Union“ waren zwei gleichermaßen unverständliche Wörter.

Dann irgendwann fand ich bald heraus, dass es so ein grünes Territorium auf der Karte der UdSSR gab. Und inmitten dessen lag mein Kiew – damals noch in der russischen Schreibweise. Dieses Territorium war die „Ukrainische Sowjetrepublik. Dann fand ich heraus, dass, wenn irgendwelche Leute Worte nicht so aussprachen, wie ich es gewohnt war, dies nicht unbedingt an Ausspracheproblemen lag, sondern das einfach eine andere Sprache war. Und diese Sprache war eigentlich meine Sprache. Noch später fand ich heraus, dass unsere Flagge nicht rot-blau war, sondern blau-gelb. Ich erinnere mich noch genau, wann das war: Am Stadtfeiertag von Kiew, auf dem Schewtschenko-Boulevard am Lenin-Denkmal. Die Flagge war befestigt an einem Seitenspiegel eines LKW der Marke „SiL“, welcher die Festbühne zog. Noch später fand ich heraus, dass wir uns von Russland unabhängig gemacht hatten, weil Russland bei uns alles abzog. In Russland lebten alle Verwandten der Linie meiner Großmutter und ich war oft in Moskau. Aber irgendwie gefiel mir die Idee einer Trennung von Moskau. Vielleicht, weil Kindern im Prinzip alles Neue und Ungewöhnliche gefällt.

Später schon erfuhr ich über andere Dinge: Über den Holodomor, über den Krieg, über meinen Großvater und meinen Urgroßvater. Mein Urgroßvater war enthusiastischer Kommunarde. Er gab freiwillig sein gesamtes bisschen Besitz in die Kommune und forderte auch andere dazu auf. Ich weiß nicht, was er während des Holodomor dachte, als die Menschen in den Dörfern wie die Fliegen starben. Sein Sohn, mein Großvater, durchlief den Krieg in der Roten Armee, anschließend sah er denn Kommunismus skeptisch: Er sah, wie hunderte Rotarmisten in sinnlosen Attacken zwei deutschen Maschinengewehren zum Opfer fielen. Außerdem träumte mein Großvater, dass, wenn ich erwachsen würde, wir nach Kaniw zum Grab Schewtschenko gehen und dort in den Hütten der einfachen Menschen übernachten würden, damit ich mein unser Volk verstehen und lieben lernen würde.

Mein anderer Großvater träumte, zum Chef der Kolchose aufzusteigen, in die das Eigentum seines Großvaters, eines Grundbesitzers, aufgegangen war. Die verlässlichste Form aufzusteigen, das war die Armee. Daher paukte er nachts beim Schein der Öllampe russisch und beherrschte es schließlich derart gut, dass er sein halbes Leben in der Armee verbrachte und eine Frau aus Moskau heiratete. Und dann, ganz egal, kehrte er in die Ukraine zurück, um die Möglichkeit zu haben, seine Heimatstadt aufzubauen. Deren Erde war ihm heilig. Aber zu seiner eigenen Sprache kehrte, er warum auch immer, nicht zurück. So arbeitete er all die Tage an der Stadt, aber mit seinen Freunden aus der Kindheit sprach er ausschließlich russisch. Wenn man die Geschichte meiner Familie im Kaleidoskop vergrößert – dann wird ein Buch fehlen. Sie alle, außer der einen Linie meiner Großmutter, waren Ukrainer. Sie alle glaubten an etwas und hatten Ziele. Sie alle machten irgendwann irgendwelche Fehler. Man kann nicht einmal ausschließen, dass sie auch Verbrechen begingen – wie kann ich schon wissen, was mein Großvater in Ostpreußen machte, als seine Armee dort schrecklichen Terror über die örtliche deutsche Bevölkerung brachte.

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, auf eine Bildungsreise zu fahren, welche vom Dortmunder Zentrum für Internationale Bildung organisiert wurde. Gewidmet war diese Reise den kulturellen Gedächtnissen in Europa und besonders der Möglichkeit, ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis aller europäischen Völker zu pflegen. Mich hatte immer interessiert, wie in der westdeutschen Gesellschaft die Aussöhnung mit ihrer schrecklichen Vergangenheit stattgefunden hatte. Im Dresdener Kriegsmuseum (es hat eigentlich mehr Ähnlichkeit mit einem Antikriegs-Museum) gibt es eine gesonderte Ausstellung, die genau dieser Frage gewidmet ist. In der Ukraine herrscht die Version, dass die amerikanischen, französischen und britischen Besatzer die Deutschen schnell gezwungen hatten, den Nazismus zu verfluchen, die Gesellschaft das alles verstand und bereute.

Tatsächlich vollzog sich der Prozess der Reinigung vom Totalitarismus anders: In den 1950er Jahren dachten die Deutschen überwiegend nach gemäß der Formel: „Unsere tapferen Soldaten begingen manchmal diese Verbrechen, zu denen der Verbrecher Hitler sie angestiftet hatte. Aber nichtsdestotrotz widersetzten sie sich heldenhaft des kommunistischen Einfalls, dessen wir uns auch jetzt widersetzen müssen.“ Diese Formulierung der Vergehen war den Westalliierten unter den Bedingungen des Kalten Krieges völlig recht. Das Bewusstsein für die Vergehen kam allmählich, mit dem Wechsel der Generationen. Vollständig und in der gesamten Gesellschaft ist es bis heute nicht vergangen. Aber der Fakt ist vielsagend: Während 1954 in Bayern die Versammlung von Veteranen der SS in aller Ruhe stattfand, hinderten 1984 tausende Bewohner der Gegend sie daran, ihr Treffen abzuhalten. Nicht deswegen, weil sie der Wunsch trieb, sich mit Franzosen oder Juden zu versöhnen, sondern einfach, weil diese Leute sich schämten, dass etwas derartiges bei ihnen vor Ort stattfindet.

Jetzt fragen wir uns, was wir in der Ukraine waren. Ich habe schon so ungefähr die Geschichte meiner Großväter erzählt, welche, wie bekannt, kämpften. Ich sehe keinen Grund für persönlichen Stolz darin, dass mein Urgroßvater an den Kommunismus glaubte und für ihn kämpfte – weil er vom Glück des arbeitenden Volkes träumte. Er irrte. Sein Irrtum kostete (nicht nur) unser Volk zahlreiches Leid. Mein Vater, welcher in der Roten Armee kämpfte, war faktisch ein Rädchen einer schrecklichen totalitären Maschine, die mit einer anderen totalitären Maschine kämpfte. Mein anderer Großvater kämpfte sozusagen an den Fronten des Kalten Krieges und etwa im Konflikt mit China am Amur. Wie wir sehen, nichts herausragendes – obwohl, ganz unmittelbar, diese Leute schwer über die Runden kamen vor lauter Abenteuern, Versuchen und Tragödien des Lebens.

Wenn die künftigen Sprösslinge unserer Familie fragen, ob unter unseren Vorfahren Helden waren – ich werde ihnen wahrscheinlich antworten: Es waren keine darunter. Ob sie dadurch weniger Ukrainer sein werden? Lieben die Schweden etwa ihr Land weniger als die Franzosen oder die Polen?

Und hier nun reden wir über das Thema der Glorifizierung ganzer Strukturen im Kontext des nationalen Gedächtnisses. Erinnern Sie sich noch an das deutsche Museum? Während der Bildungsreise besuchten wir noch ein anderes Museum – das belorussische, in Minsk. Und dort – Helden. Heldenhafte Rotarmisten, heldenhafte Partisanen, heldenhafte Jugendliche, ein freundlicher Führer, oh, das heißt, der Genosse Führer der Werktätigen auf Souvenir-Shirts. Ist das belorussische Modell der nationalen Erinnerung besser?

Tatsächlich steht hinter diesem Modell eine Leere. Zum Beispiel, der monumentale Komplex am Platz des Arbeitslagers in Trostjanzi mit dem Waggon „nach Auschwitz“, obschon von denen, die hier arbeiteten, niemand nach Auschwitz transportiert wurde. Und genau gegenüber, auf der anderen Seite der Trasse ist der Ort, wo die Juden aus Europa ermordet wurden. Dort gibt es kein Monument. Dort sind Briefe in Schutzfolien angeklebt an den Bäumen, es sind Briefe in deutscher Sprache. Es sind Briefe an jene, die hier ermordet wurden. Schüler schreiben sie, die an den Orten leben, von wo die Juden einst hierher deportiert wurden.

Ich erinnere mich, wie ich einst eine ältere Schülerin, die aus einem wolhynischen Dorf stammte, welches wegen der tragischen Ereignisse von 1943 bekannt ist, fragte: „Was war hier bei euch mit den Polen?“ „Hier bei uns waren Polen?“, wunderte sie sich. „Hier bei uns waren Juden?“, die gleiche Verwunderung in Kyjiw. Ach genau, irgendwas haben wir gehört. Irgendwer hat so etwas gesagt. Als ob sie einst irgendwo ermordet worden wären, vor langer Zeit. Warum man sie ermordete, wer sie ermordete, wie es dazu kam – in den Schulen lernt man so etwas nicht. Man muss Daten pauken, die Nachnamen der Helden und Antihelden. Dem Lehrer alles nachplappern und gute Noten erhalten. Vergessen.

Ich sage nicht, das für die Ukraine das deutsche Modell des nationalen Gedächtnisses genau richtig ist. Aber dass das belorussische Modell nicht passt, das ist klar. Prospekte benannt nach dem Häuptling, Denkmäler für den Häuptling, Geburtstagsparaden zu Ehren des Häuptlings – oder des Führers, welch ein Unterschied.

Irgendwie möchte ich ohne Pathos reden über unsere Erinnerung der Geschichte und ohne die Suche nach dem großen Helden. Ich verstehe diese Galizier, denen es ein Bedürfnis ist stolz zu sein auf ihre nationalistischen Vorfahren, ich verstehe die Saporischjer, die Stolz sein möchten auf ihre kommunistischen Vorfahren. Aber ich würde keinen Ahnenstolz auf dem Level einer staatlichen Erinnerungspolitik wollen.

Unsere Generation ist glücklicher als all die Generationen zuvor, besonders als diese Generation unser „Großväter, die kämpften.“ Zumindest deswegen, weil wir die Möglichkeit haben, einen freien Staat aufzubauen und zu verteidigen, ihn zu verbessern. „Unser Staat“ ist kein Staat ethnischer Ukrainer auf ukrainischem Boden, sondern der Staat Ukraine innerhalb der international anerkannten Grenzen. Hier ist Platz für ethnische Ukrainer, für Russen, Juden, Armenier, Polen, Krimtataren – mit einem Wort, für alle Bürger der Ukraine, welche wirklich ihr Wohl und ihre Unabhängigkeit wünschen.

Und in ihrer Geschichte muss vor allem Platz sein für eine kritische Analyse der Fehler vorheriger Generationen. Auf allen Ebenen: Vom historischen Diskurs in wissenschaftlichen Kreisen bis zum Schulunterricht. Und das wesentliche Moment – nicht zu versuchen, Verbrechen gegen die Menschheit zu rechtfertigen, wie etwa Massenmord. Allgemein. Ohne irgendeine Widerrede. Es gibt nichts schlimmeres als zu sagen: Mein Großvater oder Urgroßvater wollte das Wohl seines Volkes. Er nahm teil an etwas, was zu einer schrecklichen Tragödie führte. Wir müssen eine Ukraine bauen, in der sich so etwas niemals wiederholen kann. Wir müssen uns den Heldengeschichten verweigern. Wir müssen lernen, zu denken und zu hören, was andere denken.

Das grundlegende Ziel eines nationalen Gedächtnisses ist es nicht, die schreckliche Vergangenheit zu rechtfertigen, sondern die Zukunft besser zu machen. Oder etwa nicht?

27. Juli 2016 // Pawlo Sub`juk

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:   Markus Pöhlking  — Wörter: 1693

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