Der neue Totalitarismus


Üblicherweise wird Totalitarismus als eines der größten Übel des 20. Jahrhunderts aufgefasst, das für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt eine Katastrophe darstellte. Die Ereignisse sind heute so gut wie überall in Vergessenheit geraten und existieren nur noch in der Geschichte. Schön wäre es, so denken zu können, aber es gibt leider nur wenig Berechtigung für diesen Optimismus.

Mit Totalitarismus verbindet man beispielsweise das Verbot von Meinungsfreiheit, das Aufzwingen einer eigenen Ideologie, die Beseitigung aller Andersdenkenden mit allen möglichen Mitteln, bis hin zu Repressionen und so weiter und so fort. Die Abwesenheit all dieser Methodiken erlaubt es, den Optimisten zu sagen, dass das gewesene Übel überwunden sei. Aber kann der Totalitarismus tatsächlich als ausgerottet gelten?

Die Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert, und mit ihr auch die Methodiken, mit denen diese oder jene Ziele erreicht werden. Wahrscheinlich gibt es den Totalitarismus in seiner alten Version nicht mehr, besonders nicht in dieser mehr oder weniger langfristigen Form. Aber das heißt nicht, dass die Freiheit der Gesellschaft heute nicht bedroht wird. Der Totalitarismus hat neue Formen hervorgebracht: scheinbar recht humane und “weiche”, aber in Wirklichkeit sind sie nicht weniger schrecklich und brutal.

Heute scheint es, als bestimmten die Massenmedien die Grenzen, in denen es erlaubt ist, zu reden. Das heißt, sie geben das inhaltliche Spektrum vor, in dem die Diskussionen stattfinden. Sie sind wie Scheinwerfer in einer dunklen Nacht, deren Lichtstrahler eine bestimmte Fläche eines Geländes anleuchten, um dieses zu untersuchen – das ganze andere, restliche Universum bleibt jedoch im Finstern, wird unter den Tisch gekehrt. Genauso läuft das bei der Bildung der täglichen Informationsagenda: Während ein bestimmter Bedeutungshorizont beleuchtet wird, bleibt der ganze Rest in der Dunkelheit, als gäbe es ihn nicht. In diesem Rahmen des “Erlaubten” sind Meinungen der Opposition möglich, auch diametral gegenüberliegende Positionen können dem Gesamtbild nichts anhaben, weil von Anfang an genau dieser Raum geschaffen wurde, der für die Urheber ein ganz akzeptabler (komfortabler) ist.

Mit dieser manipulativen Herangehensweise können sofort mehrere Ziele erreicht werden. Erstens: Es entsteht die Illusion einer Demokratie: Scheinbar kann jeder das sagen, was er will, es herrscht die absolute Meinungsfreiheit. Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, dass das “Reden” innerhalb eines bewusst gesetzten Rahmens stattfindet. Zweitens: Jeder der versucht, außerhalb dieses Rahmens etwas zu sagen, wird sofort als ein Jurodiwy abgeschrieben und augenblicklich für verrückt beziehungsweise, wenn es besser läuft, für politisch verdächtig erklärt. Entweder er spricht über ein Thema, das für die restliche Gesellschaft, die sich in der “beleuchteten Zone” befindet, gar nicht vorhanden ist, oder aber das Thema nimmt in der Gesellschaft ganz andere Formen an. Selbstverständlich wird dieser Sprecher nie erhört werden.

Ein Beispiel zur Illustration: Fast ein Jahr lang überzeugte man uns eifrig, dass sich die Terroristen in den besetzten Gebieten zwar gegenseitig beschießen, im Endeffekt jedoch die friedlichen Mitbürger dort sterben. Merkwürdig ist nur, dass das Sterben der friedlichen Mitbürger dann endete, als die schweren Waffen und militärischen Streitkräfte von der Kontaktlinie abgezogen wurden. Das heißt also, dass die Separatisten augenblicklich aufgehört haben, sich zu beschießen?!

So sieht er aus, der neue Totalitarismus: Es ist nicht das Schließen aller möglichen Medienanstalten, nicht das Foltern in Verliesen, nein, es ist die totale Kontrolle über die tägliche Informationsagenda, das Bilden dieses inhaltlichen Rahmens, in dem Dialoge erlaubt sind. Dementsprechend müssen wir Intellektuellen aller Couleur, alle Medienschaffenden, alle Strukturen der Zivilgesellschaft die tägliche Informationsagenda (selbst) mitgestalten, wenn wir nicht in einer Welt der Orwellschen Dystopie leben wollen. Es wird sehr schnell gehen, und dann nimmt die Welt eine akzeptable Form an. Doch in jener Welt wird es keine Freiheit geben, vielmehr wird dann das Recht auf Wahrheit zum Monopol.

14. April 2015 // Wiktor Lewizkij

Quelle: Vesti

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 620

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