In der totalitären Sowjetunion war die einzige „Bezugsgruppe“ des Individuums der Staat. Der totalitäre Staat nutzte all seine Kraft für die Behauptung einer mythologisierend verbrämten Ideologie als einziger ausschließlich möglicher Weltanschauung. Irgendeiner der russischen Philosophen behauptete Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts: „In einem totalitären Staat sollen sich die Menschen an eine Irrationalität der Sprache gewöhnen, die mehr verbirgt, wenn sie über die Welt spricht, als dass sie die reale Lage der Dinge erklärt. Sie sind gezwungen, eine schizophrene Existenz zu führen, in der es unmöglich ist, den offiziellen Anweisungen zu folgen, aber unumgänglich ist, so zu tun, als würde man sich von ihnen leiten lassen. […] in der Öffentlichkeit ist es unmöglich, seine persönlichen Grundüberzeugungen offenzulegen“.
Dies waren die psychologischen Bedingungen für das ruhige, gefestigte Leben eines Sowjetbürgers. Dieses vom staatlichen System vorgegebene Zwiedenken gründete auf Angst: Abweichendes Verhalten der Bürger wurde bestraft. Zwiedenken war in der Sowjetunion ein Phänomen des erfolgreichen Lebens im sozialen sozialistischen Komfort, das das Überleben sicherte.
Heute, im Jahr 2016, ist das Streben nach sozialem Komfort in keiner Weise mit den Auswirkungen staatlicher Ideologie verknüpft, ihrer neuen mythologisierenden Version. In den letzten 30 Jahren haben wir gelernt, losgelöst von der Macht zu leben, wir haben uns öffentliche Kritik erlaubt und sogar öffentliche physische Auflehnung. Wir nehmen an freien Wahlen teil (oder wir ignorieren sie völlig straffrei), wir verlassen ohne das Einverständnis staatlicher Einrichtungen unser Land und kehren wieder zurück…
Und nun das Unerklärliche: die heutigen ukrainischen Großmütter und Großväter, die Pensionäre, waren vor 30 Jahren junge Menschen, sie nahmen Teil am Unabhängigkeitsreferendum der Ukraine, guckten und lauschten stundenlang den Fernsehübertragungen dessen, was im Saal der Werchowna Rada (Oberster Rat = Parlament, A.d.Ü) vor sich ging. Sie wollten, in der Mehrheit, endlich soziale Ruhe und sozialen Komfort. Aber heute bringen genau diese Menschen die allerschlimmsten Mitbürger ins Parlament und in die übrigen staatlichen Organe. Ehemalige Kriminelle zum Beispiel. Ein Phänomen des fortgeschrittenen Lebensalters? Das heißt rein physiologische Gründe? Das ist es selbstverständlich nicht.
Das traditionelle sowjetische Zwiedenken, das sich in unseren Mitbürgern gehalten hat, erlaubt es ihnen, Buchweizen, Nudeln und andere „Wahlgeschenke“ von den Bewerbern für die Macht anzunehmen, während sie zugleich vollständig verstehen, dass genau diese Bewerber, versunken im Korruptionssumpf, schuld daran sind, dass ihre Häuser kein heißes Wasser haben, keine Gaszähler usw. usf.
Manchmal denke sogar ich, der ich beileibe kein junger Mensch mehr bin, mit Wehmut: „Warum habe ich diesen Präsidenten gewählt oder jenen Bürgermeister… Vielleicht haben die jungen Leute doch recht, die den Staat ignorieren durch ihr bewusstes Fernbleiben von Wahlen?“ Ich erinnere mich glasklar, wie ich vor vielen Jahren an der Arbeit eines runden Tisches von Experten teilgenommen habe, der über die zukünftigen Risiken für die Ukraine beriet. Der Initiator war übrigens Wiktor Wladimirowitsch Medwedtschuk (ukrainischer Politiker mit guten Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, A.d.R.). Wir besprachen wirklich wichtige aufkommende Probleme: den kritischen Bauzustand der Chruschtschowka-Häuser (fünfgeschossige sowjetische Häuser der 1960er und 1970er Jahre), den Zustand der Talsperren unserer Flüsse und vieles mehr. Kein einziges dieser Probleme ist gelöst. Und es wird sich nicht lösen. Die unzähligen Rohrbrüche in den Fernheizungsleitungen – rühren daher. Aus unserer heranrückenden unglücklichen Zukunft.
Wissen wir das? Selbstverständlich wissen wir das! Aber nach wie vor wählen wir die Schlechtesten. Marodeure und Zyniker mit schlimmster Vergangenheit, die sich heutzutage Bisnesmeny (Geschäftsmänner, A.d.Ü.) nennen. Ich würde wirklich gerne schreiben: und mit schlimmster Zukunft! Aber das wird es nicht geben. Es wird weder soziale Ruhe noch sozialen Komfort bei uns geben. Wir ziehen ein Paket mit zwei Kilogramm Buchweizen der Hoffnung auf die Zukunft vor. Wir sind Realisten, immer noch zwiedenkende Realisten.
14. November 2016 // Semjon Glusman
Quelle: Lb.ua
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