Die Niederlande bereiten den endgültigen Verzicht auf die Assoziierung mit der Ukraine vor. Was wird mit dem Abkommen?
Ende voriger Woche fand der Gipfel der Europäischen Union statt. Über ihn wurde in der Ukraine nicht wenig geschrieben, denn eben hier diskutierten die Führer der EU die Verlängerung der antirussischen Sanktionen und die Forderung einzelner Staaten blockierte neue Beschränkungen für die Russische Föderation. Zudem fand am Vorabend in Berlin der erste Gipfel des „Normandie-Formats“ 2016 statt.
Doch hinter den Gesprächen über Russland geriet ein nicht weniger wichtiges „ukrainisches“ Thema in den Hintergrund.
In Brüssel wurde ebenfalls diskutierten,was mit den Folgen des niederländischen Referendums über die Assoziierung zu machen sei.
Ministerpräsident Mark Rutte teilte mit, dass es keine Chancen auf einen Kompromiss gibt und nur noch auf die Nachricht des Verzichts Den Haags auf die Ratifizierung zu warten bleibt.
Wird das geschehen?
Was wird mit dem Assoziierungsabkommen in diesem Falle? Welcherart sind die Gefahren für die Ukraine? Wird die Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU weiter gelten, die derzeit im Rahmen der vorläufigen Anwendung des Assoziierungsabkommens gilt? Wie lang wird die vorläufige Anwendung gelten, wenn die Niederlande auf den Vertrag verzichten?
Die „Jewropejska Prawda“ hat Antworten auf diese Fragen vorbereitet.
Was passiert in den Niederlanden?
Gute Nachrichten gibt es leider nur wenige. Allen ist das Referendum, das in diesem Land bereits am 6. April stattfand, bekannt. Damals erhielten die Euroskeptiker die Unterstützung der Wähler und gewannen das Referendum anlässlich der Ratifizierung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine.
Das Referendum hatte, wie oft gesagt wurde, einen beratenden Charakter, daher blieb der Regierung alle Handlungsfreiheit – bis hin zum einfachen Abschluss der Ratifizierung, entgegen den Resultaten des Referendums. Das Kabinett von Mark Rutte wählte zu erst eine Verzögerungstaktik. Doch konnte das nicht ewig währen: zuerst das Parlament und danach auch die Europäische Union begannen von ihm sich irgendwie festzulegen.
Eines der „Berichtsdaten“ war das Ende der vorigen Woche. Die Frage der ukrainischen Assoziierung wurde auf dem EU-Gipfel vorgebracht. Doch erfolglos.
„Es wurde keine Entscheidung getroffen. Von der Sache her war das einfach nur ein Vortrag Ruttes für die anderen Staatsführer“, berichtete einer der Diplomaten, der über den Gang des Treffens auf oberster Ebene informiert war, der „Jewropejska Prawda“.
Obgleich anfänglich geplant war, dass der Ministerpräsident nach Brüssel mit einem Entscheidungsentwurf kommt. Es gab sogar zwei vorbereitete Varianten für Erklärungen des EU-Gipfels, die Den Haag den Weg zum Abschluss der Ratifizierung eröffnet hätten.
Doch der Ministerpräsident der Niederlande verzichtete selbst auf Varianten, damit von der Sache her den Weg zu Ratifizierung verschließend.-
„Er erzählte von den Stimmungen in seinem Parlament. Und die Stimmungen sind derart, dass nicht eine seiner zwei bis drei Vorschläge vom Parlament des Landes unterstützt wird. Rutte erzählte, dass er sich mit der Opposition traf, sie kritisierte seine Ideen, dabei nichts im Austausch vorschlagend“, erzählte einer der Gesprächspartner.
Im Parlament der Niederlande wurde eine äußerste Frist für die Entscheidung der ukrainischen Frage gesetzt – der 1. November und man kann sicher sein, dass zu diesem Zeitpunkt keine Lösung gefunden wird, die das Parlament zufriedenstellt.
Am Vorabend der Wahlen, die in einem halben Jahr im Land stattfinden, „krankt“ die holländische Politlandschaft am Populismus.
Der Ministerpräsident hat keine Unterstützung nicht einmal seiner eigenen Fraktion, wo die Hälfte der Abgeordneten der Nichtratifikation des Abkommens mit der Ukraine zuneigt.
Wie auch vorher gibt es einige Varianten für eine Entwicklung der Ereignisse und im optimistischsten wird der Ministerpräsident auch weiter die Zeit verzögern, dabei das Abkommen im „schwebenden“ Zustand mindestens bis zum Machtwechsel (das heißt bis Sommer nächsten Jahres) belassend.
Doch dem pessimistischste Szenario nach wird das Parlament auf dem einen oder anderen Weg die Entscheidung zur Rücknahme der Ratifizierung, über den Rückruf der Ratifizierungsurkunde durch die Regierung gutheißen und Brüssel offiziell informieren, dass das Abkommen mit der Ukraine nicht abgeschlossen werden kann.
Dabei besteht Rutte selbst darauf, dass er einen Weg der friedlichen „Beilegung der Krise“ sucht. Im geschlossenen Teil des Gipfel wiederholte er seine geliebte Phrase darüber, dass sein Land keine „Katze im Sack“ kaufen soll, indem es die Assoziierung zurücknimmt.
In der Ukraine lässt man natürlich die Hoffnung nicht fahren, dass er sich dazu entschließt, eine Spur in der Geschichte zu hinterlassen und die Urkunde entgegen der Forderung der Abgeordneten nach Brüssel übergibt, doch das ist Fantastik. Unwissenschaftliche.
Daher macht es Sinn sich mit den realen Folgen auseinanderzusetzen. Besonders in dem Fall, dass die Ereignisse sich dem schlechtesten Szenario nach entwickeln.
Was wird mit dem Freihandel?
Das Assoziierungsabkommen ist ein Dokument, das für die Ukraine nach sehr ungewöhnlichen Regeln funktioniert. Um die Situation zu erklären, die gerade vorliegt, müssen einige Absätze juristischer Auslegungen angeführt werden.
Das Abkommen der Ukraine mit der Europäischen Union ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht in Kraft getreten, das heißt, es ist juristisch noch nicht abgeschlossen worden. Ungeachtet dessen wird ein großer Teil seiner Paragrafen juristisch angewendet. Für die EU ist eine derartige Prozedur Standard und gilt bei vielen internationalen Abkommen. Brüssel kann, die Entscheidungen der nationalen Parlamente nicht abwartend, eine sogenannte vorläufige Anwendung internationaler Abkommen starten.
Diese Prozedur ist im Basisdokument der EU – dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Artikel 218 (5) – vorgeschrieben. In diesem Artikel ist gesondert angegeben, dass diese Prozedur bei Assoziierungsabkommen funktionieren muss.
Und die Hauptsache ist, dass nach der erwähnten Prozedur die Niederlande der vorläufigen Anwendung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine bereits zugestimmt haben.
Und das ist juristisch festgehalten worden.
Der Entscheidung über die vorläufige Anwendung wurde vom EU-Rat zugestimmt, unterschrieben und veröffentlicht noch im September 2014. Für diese Zustimmung war ein Konsens nötig und das heißt, dass die Regierung der Niederlande ebenfalls ihre Unterschrift darunter setzte.
In letzter Zeit ertönt in den ukrainischen Massenmedien die Meinung, dass das endgültige Scheitern der Ratifizierung in den Niederlanden den Stopp der vorläufigen Anwendung bedeutet. Dieser Diskurs begann mit einem Artikel im Dserkalo Tyschnja, infolgedessen unterstützten ihn andere Medien und Experten.
Doch ist diese Gefahr real?
Kann Den Haag seine Stimme in Unterstützung dieser Entscheidung zurückrufen? Und ist es möglich, dass die Freihandelszone automatisch nach dem Stopp der Ratifizierung aufgehoben wird?
Zum Glück ist die Antwort auf beide Fragen „nein“
Der Lissabon-Vertrag, das heißt das Basisabkommen über die Prinzipien des Funktionierens der EU gibt den Mitgliedsländern kein Recht ihre Stimme bei Entscheidungen zurückzurufen, die bereits getroffen und veröffentlicht wurden. Eine derartige Prozedur existiert einfach nicht. Sogar wenn die Regierung ihre Meinung ändert, ist es zu spät, die Entscheidung gilt bereits.
Und der Terminus „vorläufige Anwendung“ darf Sie nicht verwirren. Im Gesetzeswerk der EU gibt es keinerlei Einschränkungen für diese „vorläufige“ Periode.
Sie kann ewig andauern, solange das Abkommen nicht ratifiziert ist oder solange die Entscheidung über die „vorläufige Anwendung“ nicht aufgehoben wird.
Natürlich ist eine Aufhebung des Assoziierungsabkommens möglich, in diesem Fall wird die Wirkung der Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU ebenfalls unterbrochen. Doch unterstreichen wir, dass die Entscheidung keine automatische ist.
Lissabon sieht keine gesonderte Prozedur für die Revision der vorläufigen Anwendung vor, sie ist im Artikel 218 (9) des EU-Vertrages beschrieben: „Der Rat erlässt auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik einen Beschluss über die Aussetzung der Anwendung einer Übereinkunft und zur Festlegung der Standpunkte, die im Namen der Union in einem durch eine Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten sind, sofern dieses Gremium rechtswirksame Akte, mit Ausnahme von Rechtsakten zur Ergänzung oder Änderung des institutionellen Rahmens der betreffenden Übereinkunft, zu erlassen hat.“
Folglich ist für den Stopp der Freihandelszone mit der Ukraine notwendig:
– eine Initiative der Europäischen Kommission und/oder des außenpolitischen Dienstes der EU
– eine Entscheidung des EU-Rates.
Es gibt eine Unsicherheit darüber, ob ein Konsens für die Aufhebung der Freihandelszone mit der Ukraine notwendig ist. Artikel 218 sieht abweichende Lesarten dabei vor. Der Meinung des Autoren nach ist hier keine Einstimmigkeit notwendig, für die Aufhebung des Abkommens mit der Ukraine ist eine qualifizierte Mehrheit ausreichend, das heißt, die Idee müssen 55 Prozent der Mitgliedsländer der EU unterstützen, in denen 65 Prozent der Bevölkerung leben. Das ist für sich gesehen bereits eine gute Sicherung, ausreichend ist, dass die mit der Ukraine befreundeten Staaten in Ost- und Nordeuropa entweder dagegen stimmen oder sich enthalten – die Stimmen für die Aufhebung der Freihandelszone reichen nicht.
Und eine noch größere Sicherung ist, dass für den Start der Prozedur eine Initiative der EU-Kommission oder des außenpolitischen Dienstes der EU notwendig ist.
Das heißt, dass der Wunsch von Regierungen – sogar wenn in mehreren europäischen Hauptstädten Populisten an die Macht gelangen – nicht ausreichend ist.
Bei der derzeitigen Zusammensetzung der EU-Kommission ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie einen Bruch mit der Ukraine initiiert nahe Null.
Und die Hauptsache: Das Referendum in den Niederlanden wird in keiner Weise diesen Prozess beeinflussen.
Was wird weiter?
Also, das Assoziierungsabkommen – wenigstens sein Handelsteil – wird auch weiter funktionieren.
Nicht umsonst wurde noch im April, sofort nach dem Referendum, der Gedanke verlautbart, dass obgleich die Ukraine das Referendum verlor, seine Folgen in ersten Linie der Europäischen Union einen Schlag versetzen.
Gerade ist eben Brüssel aufgrund dieser Unbestimmtheit beunruhigt, welche die Niederlande geschaffen haben. Von der Sache her hat das Referendum eine Kettenreaktion gestartet, nach der die Mitgliedsländer eines nach dem anderen den Stopp anderer internationaler Abkommen einleiteten. Zuerst trat Frankreich gegen die Transatlantische Partnerschaft (TTIP) auf, das heißt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Die TTIP-Verhandlungen sind offiziell eingefroren.
Und bereits in der vergangenen Woche ereilte das gleiche Schicksal das Abkommen mit Kanada – bekanntlich wurde die Unterzeichnung dieses Dokuments aufgrund der Proteste der belgischen Region Wallonie. Dabei gelangte die Sache im Falle der Abkommen mit den USA und Kanada nicht bis zur vorläufigen Anwendung – die Verträge wurden in früheren Stadien gestoppt.
Die Ukraine hat Glück, dass wir diesen Punkt der Unumkehrbarkeit überschritten haben und unser Abkommen, von der Sacher geschützt ist. Wenigstens im Teil der Freihandelszone.
Natürlich bedeutet das nicht, dass die Ukraine nachlassen kann und keine Aufmerksamkeit dem schenkt, dass das Assoziierungsabkommen sich im „Schwebezustand“ befindet.
Kiew ist ebenfalls daran interessiert, die Ratifizierung abzuschließen. Denn wir nehmen ebenfalls an den Verhandlungen Teil und bald soll Minister Klimkin deswegen nach Den Haag fliegen. Jetzt sind die Motive der Ukraine vor allem politische. Doch außerdem weiß gerade niemand, wie die nächste Zusammensetzung der EU-Kommission sein wird. Es ist nicht auszuschließen, dass diese der Ukraine weniger zugeneigt sein wird.
Schlussendlich freut die derzeitige Situation die Regierung der Niederlande nicht, die durch das Einfrieren des ukrainischen Abkommens sich ständig vor Brüssel rechtfertigen muss.
Also sind alle Seiten ohne Ausnahme daran interessiert, die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens abzuschließen. Ein Problem besteht: Niemand weiß bisher, wie das zu erreichen ist.
25. Oktober 2016 // Serhij Sydorenko
Quelle: Jewropejska Prawda